The Project Gutenberg EBook of Trotzkopf's Brautzeit by Else Wildhagen This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at http://www.gutenberg.org/license Title: Trotzkopf's Brautzeit Author: Else Wildhagen Release Date: August 28, 2011 [Ebook #37241] Language: German Character set encoding: US-ASCII ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF'S BRAUTZEIT*** [Illustration: Cover] [Illustration] [Illustration: Titelseite] TROTZKOPF's BRAUTZEIT VON ELSE WILDHAGEN geb. FRIEDRICH-FRIEDRICH ZWEITER BAND zum "TROTZKOPF" VON EMMY v. RHODEN (EMMY FRIEDRICH-FRIEDRICH) JLLUSTRIERT von WILLY PLANCK Achtundfuenfzigste Auflage oder Dreissigste Auflage der Wohlfeilen Ausgabe STUTTGART GUSTAV WEISE VERLAG Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei. [Illustration] Ilse und Leo sassen lustig plaudernd auf der Veranda vor dem Macketschen Hause. Der warme Mittagssonnenschein eines heiteren Oktobertages stahl sich durch das dichte Blaettergewirr des herbstlich gefaerbten Weinlaubes zu ihnen herein. Leo Gontrau erzaehlte soeben von seinem Leben in der kleinen Stadt, in welcher er als Assessor angestellt war, und nach der er Ilse im kommenden Fruehjahr als seine Frau heimfuehren wollte. Sie unterhielt sich koestlich ueber seine ebenso drastischen wie komischen Erzaehlungen und sah im Geiste die geschilderten Personen leibhaftig vor sich. Natuerlich war sie schon jetzt der Gegenstand des lebhaftesten Interesses in dem kleinen Ort und Leo konnte nicht genug berichten, wie neugierig man sich nach ihr erkundigte. "Und mit all den langweiligen Tanten soll ich verkehren?" rief sie endlich, "mit ihnen Kaffee trinken, klatschen, womoeglich grauwollene Struempfe dabei stricken?" Sie warf sich in den Stuhl zurueck und brach in ein unbaendiges Gelaechter aus. "Na - es wird so schlimm nicht werden, Kind, und mir zuliebe musst du es eben auch mal ueber das Herz bringen, mit alten Tanten Kaffee zu trinken." Das heitere Laecheln verschwand von ihrem Gesicht, und sie sah ihn erstaunt an. "Du meinst doch nicht im Ernst, Leo, dass ich mit allen diesen Damen verkehren muss?" "Ja, Schatz," gab er ihr zur Antwort, "das muessen wir, ich bin Beamter und habe Ruecksichten zu nehmen, das ist nun einmal nicht anders und da wird sich denn meine kleine Frau auch fuegen muessen." "Fuegen," rief sie sich aufrichtend, "nein, Leo, fuegen werde ich mich nicht, besonders nicht, diese Besuche zu machen." "Wie kannst du dich nur so ereifern, Ilse," sagte er laechelnd und schuettelte den Kopf. "Uebrigens findest du in B.... auch einige sehr nette junge Frauen, welche dir gewiss gefallen werden." Sie unterbrach ihn spoettisch. "Du bist ja sehr entzueckt von unsrem kuenftigen Bekanntenkreis; ich muss gestehen, mich verlangt es nicht nach Bekanntschaften, wenn wir erst verheiratet sind. Nur dir will ich leben, weiter niemand; du aber zaehlst mir jetzt schon vor, mit wem ich verkehren soll - dir liegt also nichts, gar nichts daran, mit mir allein zu sein." Sie sah huebsch aus in ihrer Erregung; Leo mochte sie gern so sehen, mit funkelnden Augen und geroeteten Wangen. Zaertlich zog er sie zu sich heran und strich liebkosend ueber ihr Haar. "Kleiner Brausekopf," sagte er, "kannst du denn nicht ruhig denken, nicht ruhig mit mir ueber unsre Zukunft sprechen?" Sein etwas ueberlegenes Laecheln bei diesen Worten brachte sie noch mehr aus der Fassung. "Ja, du natuerlich fuegst dich willig in alles, aber das kann und tue ich nicht! Denke nicht, dass ich eine unterwuerfige Frau werde, so eine 'Magd', wie sie Chamisso besingt." Trotzig warf sie die Lippen auf und zerzupfte mit solchem Eifer eine schoene dunkle Rose, als waere die unschuldige Blume die Urheberin ihres Aergers. "Nein, nein," lachte er, "ich weiss, ich bekomme ein widerspenstiges Kaethchen, kein sanftes Gretchen zur Frau. Aber du weisst doch auch, Lieb, wie Petruchio sein Kaethchen bezwang, dass sie zuletzt ganz gefuegig ward und, wenn er es wuenschte, die Sonne fuer den Mond ansah?" Sie hoerte nicht auf seine scherzenden Worte, ihre lebhafte Phantasie war mit ihr weit fort geeilt. Sie sah sich im Geiste als junge Frau, brav und ehrbar wie die andern Frauen, von denen ihr Leo erzaehlt hatte; da durfte sie gewiss nicht scherzen, lachen und sagen, was sie wollte, musste gute Lehren anhoeren, wurde gefragt und ausgeforscht. Das wuerde sie aber nicht ertragen, das ging nicht, und sie wollte sich von Leo das feste Versprechen geben lassen, dass er sie nicht zwingen wuerde, diese schrecklichen Besuche mit ihm zu machen. Schweigend hatte der junge Mann seine Braut beobachtet und an ihrem wechselnden Mienenspiel bemerkt, wie aufgeregt sie in ihrem Innern war. Jetzt trat sie zu ihm heran und legte ihre Hand an seine Schulter. "Leo, lieber Leo," sagte sie fast flehend, "versprich mir eins, wenn du mich wahrhaft liebst! Lass uns, wenn wir erst verheiratet sind, ganz fuer uns leben; niemand soll unser Heim sehen, niemand wollen wir besuchen, das denke ich mir reizend; nicht wahr, Schatz, du versprichst mir das? Gib mir die rechte Hand darauf." Unwillig wandte er sich ab. "Nun kommst du wieder auf das alte Thema zurueck; ich muss gestehen, du stellst ein unvernuenftiges Verlangen an mich, und ich kann dir deine Bitte nicht erfuellen. Du musst doch einsehen, dass es zu meiner Stellung nicht passt, wenn ich alle gesellschaftlichen Pflichten unbeachtet lasse! Ich hoffe auch noch immer, du machst nur Scherz." "Scherz?" brauste sie auf. "Du musst nicht glauben, dass ich noch ein dummes Kind bin, Leo. Ich weiss genau, was ich will, und ich sage dir vorher, ich mache deine langweiligen Besuche nicht mit." Ihr alter leidenschaftlicher Trotz sprach bei diesen Worten aus ihren Blicken, und gerade ihn, den sie so innig liebte, musste sie damit kraenken. "Wenn du erst meine Frau bist, liebe Ilse, so wirst du dich auch nach meinen Wuenschen zu richten haben," gab er ihr bestimmt zur Antwort, und sein ernster Blick richtete sich fest auf sie. Aber schon gereute ihn seine Entschiedenheit wieder, denn er liebte seine Braut ueber alles, und gerade ihr oft sproedes Wesen hatte ihn stets entzueckt. Sie war ja noch ein halbes Kind, bald wurde sie seine Frau und dann wuerde alles anders sein; er kannte ja den lieben Trotzkopf. Sie stand an die Bruestung der Veranda gelehnt und hielt die entblaetterte Rose noch immer in ihren Haenden. Die braunen Locken waren ihr wirr in die heisse Stirn gefallen, und die langen Wimpern lagen auf den tief geroeteten Wangen. Leo konnte den Blick nicht von ihr wenden, er sah nur das liebreizende Bild vor sich, und aller Unmut war verraucht. Er sprang auf und eilte zu ihr, seinen Arm zaertlich um ihren Nacken schlingend. "Komm her, Lieb, setze dich wieder zu mir. Wollen wir uns um solche Nichtigkeiten streiten, waehrend uns eine selige, rosige Zukunft winkt? Wenn du erst mein kleines Weib bist, dann sprechen wir wieder ueber diese Sache und dann - ich weiss es - dann denkst du ganz anders darueber." Aus seinen schoenen Augen sprach die innigste Liebe, aber Ilse war in diesem Augenblick mit Blindheit geschlagen, sie empfand nur das Eine, - er gab diesmal nicht nach. Unwillig machte sie sich aus seinem Arm los und trat zurueck. "Das also ist deine Liebe," fuhr sie auf, "nicht den kleinsten Wunsch erfuellst du mir. Aber ich wiederhole noch einmal, ich will mich nicht fuegen, jetzt nicht und wenn ich deine Frau bin, erst recht nicht. Nein - ich will dich auch nicht heiraten, denn ich sehe ein, du liebst mich nicht mehr." Hier brach sie in Traenen aus, in kindische, zornige Traenen. Wollte sie ihn dadurch zwingen, ihr nachzugeben? Dieser Gedanke stieg ploetzlich in Leo auf; aber das durfte nicht, das sollte nicht sein. Mit der waermsten, zaertlichsten Liebe hatte er sie zu beruhigen gesucht, und immer wieder war er auf Trotz und Widerstand gestossen. Er war aergerlich, sehr aergerlich, und sein Stolz baeumte sich in ihm auf. "Schaeme dich, Ilse," stiess er hervor, "du betraegst dich wie ein ungezogenes Kind." In der Erregung klang seine Stimme vielleicht haerter, als er beabsichtigte, denn Ilse fuhr fast entsetzt zurueck bei seinen Worten. "Schaemen!" wiederholte sie und sah ihn ganz erstarrt an. "Leo - Leo," rief sie mit zitternder Stimme, "nimm zurueck, was du eben sagtest." "Ich kann meine Worte nicht zuruecknehmen, Ilse," gab er ruhig zur Antwort, "denn du betraegst dich wirklich wie ein recht ungezogenes kleines Maedchen." Das war zu viel! Ihr Atem flog, und sie war nicht faehig, ein Wort zu erwidern. Ohne Leo noch eines Blickes zu wuerdigen, lief sie in das Haus und stiess in der Tuere fast mit ihrem Vater zusammen, der eben auf die Veranda kommen wollte. "Was hast du denn, Kind?" fragte er, als sie so hastig an ihm vorbeistuermte und er ihre verweinten Augen sah. Doch sie gab ihm keine Antwort; wie ein gescheuchtes Reh lief sie die Treppen hinauf in ihr Zimmer und riegelte die Tuere fest hinter sich zu. Sie warf sich in einen Stuhl und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus, als waere ihr das groesste Unglueck geschehen. "Schaemen" hatte er gesagt, und sie ein "ungezogenes Kind" genannt. Wie demuetigend klangen diese Worte; glaubte er denn ein Schulkind vor sich zu haben, das er nach Belieben ausschelten konnte? - Sie richtete sich auf und presste die Lippen fest aufeinander. Sie war kein Kind mehr, das wollte sie ihm zeigen! Wie konnte er nur so zu ihr sprechen - fuehlte er nicht, wie furchtbar er sie kraenkte? Ein neuer Traenenstrom brach aus ihren Augen, sie legte die Haende vor das Gesicht und schluchzte bitterlich. Immerfort toenten in ihrem Ohr die Worte: "Schaeme dich, du betraegst dich wie ein ungezogenes Kind," und "nein, nein, er liebt mich nicht mehr," antworteten ihre Gedanken. Dass sie ihn durch fortwaehrenden Widerspruch erst zu dieser Aeusserung gereizt hatte, das kam ihr nicht in den Sinn, das gestand sie sich nicht ein. Er hatte ihr grosses Unrecht zugefuegt, nur das empfand sie in ihrer aufs hoechste gesteigerten Aufregung. - Was sollte sie tun, was beginnen? Wenn sie der Mama ihr Herz ausschuettete? Sie fuehlte wohl, dass diese ihr nicht recht geben wuerde. Wenn sie zum Papa ginge? Ja, der wuerde seinen verzogenen Schuetzling gewiss in Schutz nehmen, aber lachend und scherzend wie immer - und das ging nicht, dazu war die Sache zu ernst. - Nein, es war auch am besten, wenn kein Mensch von dieser Kraenkung erfuhr. Niemand wollte sie ihr Leid klagen. Ja, waere Nellie hier - ihr wuerde sie alles anvertrauen, die wuerde sie verstehen. Aber die geliebte Freundin war in weiter Ferne; ach, wie schmerzlich sehnte sie sich in diesem Augenblick nach ihr. Sie stuetzte den brennenden Kopf in ihre Hand und blickte lange sinnend vor sich hin. Nellies Bild stand lebhaft im Geiste vor ihr, sie sah die treuen lieben Augen und hoerte ihr kindlich frohes Lachen. Koennte sie sich doch an ihre Brust lehnen, ihr alles erzaehlen, was sie so schwer bedrueckte! Sie kam sich verlassen und einsam vor. Niemand verstand sie, und sie wollte auch niemand sehen mit dieser Schmach im Herzen. Leos Bild, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand, schien sie spoettisch anzulaecheln; sie stellte es fort, denn sie konnte diesen Blick nicht ertragen. Die Luft in dem kleinen Zimmer kam ihr erdrueckend vor, sie konnte kaum Atem holen, und erst als sie beide Fensterfluegel geoeffnet hatte und die frische Herbstluft hereindrang, wurde ihr leichter. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, welche immer dunkler und schneller herangezogen kamen und auch das letzte helle Blau am Himmel bedeckten. Ein starker Wind hatte sich aufgemacht und rauschte in den alten Baeumen, vor Ilses Augen tanzten wirbelnd welke Blaetter durch die Luft. Wie oede und unfreundlich kam ihr mit einem Male die Natur vor, und doch hatte sie heute im sonnenhellen Lichte noch so freundlich gelaechelt. So truebselig wie draussen sah es jetzt auch in ihrem Innern aus, sie glaubte nie wieder froh werden zu koennen. Ob Leo nicht zu ihr kommen wuerde? Er musste doch einsehen, welch schwere Beleidigung er ihr zugefuegt hatte. Aber wenn er jetzt kaeme, wenn er jetzt an ihre Tuere klopfte - nein - sie wuerde ihm nicht oeffnen. Noch konnte sie ihn nicht sehen und hoeren - noch stuermte es zu heftig in ihrer Brust, und so leicht wollte sie ihm nicht verzeihen, er hatte es nicht verdient. Unten im Garten knirschte der Kies unter festen Tritten, und laute Stimmen wurden hoerbar. Hatte der Papa Besuch bekommen? Sie bog sich hinaus und sah ihn mit Leo daherschreiten, welcher lebhaft zu ihm sprach. Seine Stimme klang ruhig ohne die mindeste Erregung, als waere nichts vorgefallen. Jetzt schien er sogar einen guten Witz zu erzaehlen, denn Herr Macket brach in ein schallendes Gelaechter aus, in welches Leo lustig mit einstimmte. Wie ein Missklang toente dieses Lachen an ihr Ohr. Empoert schlug sie das Fenster zu, dass die beiden im Garten verwundert herauf sahen, - aber sie war schnell zurueckgetreten, und von neuem wurde sie von leidenschaftlichem Zorn erfasst. Das war zu viel! Also gleichgueltig war ihm alles, er dachte wohl gar nicht mehr daran, wie er sie gekraenkt hatte. Er war zum Lachen und Scherzen aufgelegt, waehrend sie so schwer litt. Sie konnte das nicht ertragen, sie wollte ihm beweisen, dass er kein Kind mehr vor sich hatte - sie musste ihm zeigen, dass sie sich eine solche Demuetigung nicht gefallen liess. Ja - das wollte sie ihm zeigen! - Aber wie? Was konnte sie beginnen? - Wie ein Blitz durchfuhr sie ploetzlich ein Gedanke, an dem sie sich zitternden Herzens festklammerte. Sie wollte fort, fliehen, dann wuerde er ja wohl einsehen, dass er ihr bitteres Unrecht getan hatte. Sie sah in ihrem toerichten Sinn nicht weiter, sie dachte nicht an die Sorge, den Kummer, den sie ihren Eltern und Leo durch einen solchen Schritt bereiten wuerde. Der ploetzlichen Eingebung folgte sie, ja sie kam sich in diesem Augenblicke wie eine Heldin vor, ihr sonst so kindliches Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an, und die Lippen waren trotzig aufeinander gepresst. "Ich will fort und gleich - gleich jetzt!" Sie sagte diese Worte laut vor sich hin, als wollte sie sich dadurch selbst in dem Entschluss befestigen, ihr abenteuerliches Vorhaben auszufuehren. Hastig durchschritt sie das Zimmer. Die kleine Uhr, welche auf dem Ofensims stand, fing eben an zu schlagen; "drei - vier" zaehlte Ilse. Um fuenf Uhr ging ein Zug nach F., wo Nellies Mann seit seiner Verheiratung Oberlehrer am Gymnasium war. Eine Reise zu ihr war schon laengst geplant, und Ilse hatte von den Eltern die Erlaubnis erhalten, nach Weihnachten einige Wochen in F. zuzubringen. Der stets sorgsame Papa hatte das Kursbuch schon genau studiert und fuer sie den Zug nachmittags fuenf Uhr als den besten bestimmt. Den Bahnhof erreichte sie von Moosdorf bequem in einer halben Stunde - danach war es aber die hoechste Zeit zum Aufbruch. Die verweinten Augen wusch sie mit frischem Wasser und ordnete ihr wirres Haar; sie setzte ihren Hut auf, holte ihren Mantel und hing ihn ueber den Arm. So, nun war sie fertig; sie dachte nicht daran, noch etwas andres mitzunehmen; sie tat alles mit einer fliegenden Hast, als koennte es sie doch am Ende noch gereuen, den tollen Streich beschlossen zu haben. Zum Glueck fiel ihr im letzten Moment, als sie schon die Tuerklinke in der Hand hielt, ein, dass sie auch Geld haben muesste. Sie ging zurueck und schloss ihren Schreibtisch wieder auf. Aus einem Kaestchen nahm sie 30 Mark, die ihr der Papa erst gestern schenkte, weil sie irgend eine Dummheit begangen hatte, welche ihn entzueckte und die er unbedingt belohnen musste. Sie steckte das Portemonnaie in die Tasche und ging nun schnell zur Tuere hinaus und die Treppe hinab. An der Haustuer blieb sie zoegernd und tiefaufatmend stehen. Lucies Bild trat ihr ploetzlich deutlich vor Augen, mahnend schien es ihr zuzurufen: "Kehre um, kehre um!" Fast war es, als wuerde sie schwankend in ihrem Entschlusse, denn auf ihrem Antlitz spiegelten sich bange Zweifel, aber Leos Bild draengte sich dazwischen, sie sah sein heiteres Antlitz, hoerte sein ausgelassenes Lachen - und "fort! fort!" rief es nun in ihrem Innern. Lucie hatte keine Gewalt mehr ueber sie, ihr ungestuemer Sinn trieb sie zu einer Torheit, welche ihr die bittersten Stunden ihres Lebens bereiten sollte. Haette sie ihren Braeutigam betruebt und niedergeschlagen gesehen, vielleicht wuerde sie diesen folgenschweren Schritt nie gewagt haben; aber er lachte ja und war vergnuegt, - nichts haette sie mehr darin bestaerken koennen, ihr Vorhaben auszufuehren, als sein harmloses Lachen. Sie horchte, - nichts regte sich im Hause, die Mama war bei dem Bruederchen im Kinderzimmer; vor einer Begegnung mit ihr war sie also sicher. Durch ein Fenster spaehte sie in den Garten - er war leer, die beiden Herren schienen weiter gegangen zu sein. Ueber den Hof konnte sie unbehindert gehen; die Maegde und Knechte waren draussen beschaeftigt, die uebrige Dienerschaft war in den Wirtschaftsraeumen, welche auf der andern Seite des Hauses lagen. Sie wollte niemand begegnen; es war ihr, als koennte man es auf ihrer Stirn lesen, was sie vorhatte. Deshalb lief sie schnell ueber den Hof durch das Tor auf die Dorfstrasse und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Wie ein gehetztes Wild floh sie dahin und wagte nicht, nach dem Hause zurueckzublicken; nur von Zeit zu Zeit sah sie aengstlich zur Seite, ob auch keiner sie bemerkte. Es begegneten ihr einige Bauernfrauen, welche sie gut kannte, und die sie schon von weitem gruessten, denn sie war im Dorfe bei alt und jung beliebt. Heute dankte sie nur fluechtig fuer die freundlichen Gruesse und eilte scheu an den Leuten vorbei; sie fuehlte, dass ihr eine brennende Roete in die Wangen stieg, und sie kam sich wie eine ertappte Suenderin vor. Der Gedanke an das erlittene Unrecht befluegelte ihre Schritte, sie lief auf Koppelwegen durch die Felder, den aufgeweichten Boden nicht achtend, der sich schwer an ihre Sohlen hing. Aus den Stoppeln flog bei ihrem Nahen mit lautem Gekreisch eine Schar Kraehen in die Hoehe, und aengstlich erschrocken zuckte sie zusammen. Endlich sah sie von weitem das rote Bahnhofgebaeude schimmern, und in kurzer Zeit hatte sie es atemlos erreicht. Mit unsicherer Stimme forderte sie am Schalter eine Fahrkarte nach F. und setzte sich in das kleine, halbdunkle Damenwartezimmer an das Fenster. Der Zug musste in wenigen Minuten eintreffen; sie wollte aber den Perron nicht eher betreten, bis er da war, aus Furcht, sie koennte noch Bekannte treffen. Richtig, da kam auch schon jemand, den sie kannte. Es war der dicke Oberfoerster, ein alter Freund ihres Vaters, der mit einem Herrn auf und ab ging; wahrscheinlich hatte er denselben zur Bahn gebracht. Sie drueckte sich ganz in die Ecke, als die beiden am Fenster vorbeigingen. Wenn sie nun nachher nicht unbemerkt an ihm voruebergehen konnte, dachte sie aengstlich, und wenn er sie fragte, wohin sie reisen wolle, was sollte sie ihm antworten? Dieser peinvollen Ratlosigkeit machte der langgezogene Pfiff des erwarteten Zuges ein Ende; wenige Augenblicke darauf stand er vor dem Bahnhofgebaeude still. Zitternd erhob sich Ilse und ging hinaus. Der dicke Oberfoerster unterhielt sich jetzt eingehend mit dem Bahnhofinspektor und wandte ihr gluecklicherweise den Ruecken zu. Sie trat schnell an den naechsten Schaffner heran und liess sich von ihm ein Damencoupe anweisen. Ihr Herz schlug rasch, und es wurde ihr beklommen zu Mute, als sie einstieg; sie war froh, dass das Coupe leer war, denn sie haette jetzt keinem Menschen frei ins Gesicht sehen koennen. Die Tueren wurden zugeschlagen, noch ein Hin- und Herlaufen, dann laeutete die Glocke zur Abfahrt, ein schriller Pfiff ertoente und die Wagen setzten sich langsam in Bewegung. Sie wagte es nicht, aus dem Fenster zu sehen, denn die Stimme des Oberfoersters war immer noch deutlich vernehmbar. Erst als der Zug im schnellen gleichmaessigen Tempo dahinfuhr, stand sie auf und trat an das offene Fenster; die frische Luft wehte ihr erquickend um die Schlaefen und kuehlte ihr den fieberheissen Kopf. Mehr und mehr entschwand die heimatliche Gegend ihren Blicken, sie kannte schon keins der Doerfer mehr, an denen sie vorbeiflog. Wie es wohl jetzt daheim aussah, ob sie ihre Flucht schon bemerkt hatten? Im Geiste sah sie die bestuerzten Gesichter ihrer Eltern - der Papa wuerde ausser sich sein. In ihrer Aufregung hatte sie daran noch nicht gedacht, aber mit einem Male stieg dieser Gedanke qualvoll in ihr auf. War es nicht unrecht, die Eltern so zu aengstigen? Sie nahm sich vor, sofort nach ihrer Ankunft bei Nellie einen langen Brief an sie zu schreiben, sie um Verzeihung zu bitten und ihnen zu sagen, dass sie nicht anders habe handeln koennen. Was wuerde aber Leo zu ihrer Flucht sagen? Sie dachte mit einer gewissen Genugtuung daran, wie er nun doch einsehen muesste, dass sie einen festen Willen besass, und ausfuehrte, was sie wollte. Nun wuerde er wohl eine andre Meinung von ihr bekommen. [Illustration] Wie konnte er sie nur so tief kraenken, wenn er sie wirklich liebte - sie vermochte es nicht zu fassen. Er war doch sonst nie so hart gegen sie gewesen, und sie hatten sich schon so oft gestritten. Bis jetzt fuegte er sich stets ihrem Willen, so oft sie ihn auch schon im tollen Uebermut herausgefordert hatte; warum erfuellte er ihr heute nicht den kleinen Wunsch? Warum betonte er immer wieder, dass er als Beamter Ruecksicht zu nehmen habe? Das klang so unterwuerfig, so demuetig; sie wollte ihn stolz haben, ueber alles Kleinliche erhaben. Wie fing der dumme Streit denn nur eigentlich an? Sie waren ja so lustig gewesen und hatten von der Zukunft geplaudert; in einem halben Jahre, im Fruehling sollte ja die Hochzeit sein. Leo war in dem nahen B. als Assessor angestellt und arbeitete schon seit einigen Wochen am dortigen Landgericht. Meistens besuchte er Sonntags seine Braut und scherzend erzaehlte er ihr dann von seinen Erlebnissen, von den Bekanntschaften, welche er gemacht hatte. Komisch und naturwahr schilderte er die Fehler und Schwaechen von allen, was Ilse den groessten Scherz bereitete. Da war die Frau Amtsrichter, welche alle jungen Ehepaare unter ihre Fittiche nahm und die Ansicht hatte, dass sich die jungen Frauen entschieden dem Rate der aelteren "fuegen" muessten. Dann die Frau eines Arztes, die Neugierige, welche nicht ruhte noch rastete, bis sie die taeglichen Neuigkeiten gluecklich eingesammelt hatte. - Leo erzaehlte, wie er ihren Angriffen auf ihn stets geschickt ausgewichen waere und dass es ihr nicht gelungen sei, auf ihre vielen Fragen ueber seine Braut, seine kuenftige Einrichtung und dergleichen eine Antwort zu erhalten. Er ahmte dabei das vor nervoeser Ungeduld unruhige und bewegliche Mienenspiel der Dame so treffend nach, dass Ilse gar nicht aus dem Lachen kam. Heute hatte er zum erstenmal erwaehnt, dass sie sich bald selbst von der Wahrheit seiner Schilderungen ueberzeugen koennte, denn alle diese Familien wuerden sie besuchen, teilweise auch mit ihnen verkehren. Damit hatte der Streit angefangen. Er habe Ruecksichten zu nehmen, hatte er gesagt, und das wollte sie nicht gelten lassen, ihr kuenftiger Mann sollte und brauchte das nicht. Die kleine Ilse hatte noch keine Ahnung von der Welt, wie oft und wie viel der Mensch, welcher etwas erreichen will, Ruecksichten nehmen muss. Ihre Wege waren bisher stets geebnet gewesen, und deshalb wollte es ihr durchaus nicht in den Sinn, warum sie und Leo kuenftig nicht ganz nach ihrem Gefallen leben koennten. Ob sich wohl Nellie in allem ihrem Manne fuegte? Gewiss nicht, und Dr. Althoff war kein Tyrann, das wusste sie. Die liebe einzige Nellie! - Ilse konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie als junge Frau sein wuerde. Wie herzlich hatte sie sich auf ein Wiedersehen mit ihr gefreut, und schrecklich war es, dass sie nun als eine Fliehende mit tief betruebtem Herzen zu ihr kam. Sie war so gluecklich gewesen - und jetzt? Wieder fuellten sich ihre Augen mit Traenen, welche langsam ueber ihre Wangen rollten. Sie kam sich so bedauernswuerdig vor, als waere sie hinausgestossen in die weite Welt, und nicht als haette sie nur ihre eigene unglueckselige Laune zu diesem Schritte getrieben. Die Daemmerung brach jetzt mit aller Macht herein und breitete ihre dunklen Schatten immer tiefer ueber die herbstliche Natur. Nur nebelhaft noch waren die Gegenstaende zu erkennen, die vor Ilsens Augen auftauchten, um schnell wieder zu verschwinden. Einzelne Regentropfen schlugen truebselig gegen das Fenster, und das einfoermige Geraeusch der Raeder wirkte fast betaeubend auf sie. Ein unbehagliches Froesteln stellte sich ein, furchtsam blickten ihre Augen in dem halbdunklen Coupe umher; das unheimliche Gefuehl des Alleinseins ueberfiel sie mit einem Male, und ihr Heldenmut sank immer tiefer. Unbeweglich sass sie in ihre Ecke gedrueckt, ihre Aufregung steigerte sich von Minute zu Minute. Wie spaet mochte es denn sein? Sie zog ihre Uhr hervor und konnte nur muehsam entziffern, welche Zeit es war. - Gott sei Dank, die Haelfte der Fahrt hatte sie hinter sich, schon zwei Stunden war sie unterwegs. Sie waren ihr schnell vergangen, aber nun musste sie noch eine ebenso lange Zeit ausharren, bis sie in F. eintraf. Gegen neun Uhr sollte der Zug dort sein - es wurde gewiss sehr spaet, bis sie bei Nellie war. Ob Althoffs wohl weit vom Bahnhof entfernt wohnten? - Wenn sie dieselben nur zu Hause traf! Oder - ihr Herz pochte stuermisch bei diesem Gedanken - wenn sie vielleicht noch verreist waeren? Die Herbstferien waren erst in diesen Tagen zu Ende. Nellie schuldete ihr seit einiger Zeit einen Brief, und sie wusste deshalb nichts Naeheres von ihr. O Gott, was sollte sie dann beginnen, allein in der fremden Stadt? Sie konnte doch in kein Gasthaus gehen und ein Zimmer fordern? Das ging nicht, das wuerde sie nie tun! Aber wo sollte sie in der Nacht bleiben? Dieser Gedanke bereitete ihr entsetzliche Qualen, und zum ersten Male gelangte sie zu dem vollen Bewusstsein, wie abenteuerlich ihr Unternehmen war. Sie fing in ihrer Herzensangst an zu weinen. Fast empfand sie Reue; wie behaglich und sorgenlos koennte sie jetzt zu Hause sein, und musste nun statt dessen in die dunkle Nacht hinein fahren mit einem Herzen voll Angst und Bangen. Auf der naechsten Station fragte sie den Schaffner, welcher Licht in dem Coupe anzuendete, wie lange sie noch bis F. zu fahren haette. "Noch vier Haltestellen," brummte er unfreundlich, und Ilse wagte keine weiteren Fragen. Die Helle im Coupe machte wenigstens ihrer Furcht ein Ende, sie konnte nun deutlich erkennen, dass auf den Polstern neben ihr und gegenueber niemand weiter sass, wie sie vorhin in ihrer Furchtsamkeit geglaubt hatte. Sie freute sich, wenn wieder eine Station vorueber war, und alle Augenblicke sah sie nach der Uhr, ob der Zeiger noch nicht weiter vorgerueckt war. - Jetzt hatte der Zug zum letztenmal gehalten, noch eine kurze Zeit und sie war da. Ungeduldig ging sie auf und ab, krampfhaft den Schirm in der Hand haltend, mit dem Mantel ueber dem Arm. Unaufhoerlich schlug jetzt der Regen gegen das Fenster, stockdunkel war es draussen, und nur hier und da blitzten in der Ferne Lichter auf. Fast wuenschte Ilse, es waere auf der letzten Strecke jemand eingestiegen, der ihr moeglicherweise Auskunft ueber die Althoffsche Wohnung haette geben koennen. Und doch wieder war sie ganz froh, allein geblieben zu sein, weil sie fuehlte, dass sie ihre Aufregung nicht verbergen koennte. Endlich ertoente der lang anhaltende Pfiff der Lokomotive, und mit zitternder Ungeduld sah sie ihrer Erloesung entgegen; der Zug war in die Bahnhofhalle eingefahren und hielt jetzt still. Neugierig spaehte Ilse durch das Fenster auf den erleuchteten Perron, wo eine Menge Menschen standen. Die Tuere wurde geoeffnet, und sie stieg aus. Aengstlich sah sie sich um, die vielen lauten Stimmen, das Gedraenge und Hinundherstossen machten sie ganz beklommen. Bunte Studentenmuetzen konnte man ueberall aus dem Gewuehl hervorleuchten sehen. Scheu wich sie denselben aus, denn sie dachte noch mit Schrecken an ihre Studenten-Begegnung bei ihrer Abreise aus der Pension. Als sie einen Bahnbeamten nach einem Gepaecktraeger fragte, wies sie der vielbeschaeftigte Mann nach dem Ausgang der Halle, und sie draengte sich gluecklich bis dahin durch. Sie sah sich suchend um und war froh, als sie ganz in der Naehe noch einen Mann mit blauem Kittel und einer Gepaecktraegermuetze entdeckte. Sie trat auf ihn zu und fragte, ob er die Wohnung von Dr. Althoff wuesste. Er ruehrte sich nicht aus seiner Stellung; faul, beide Haende in den Hosentaschen, stand er an die Mauer gelehnt und glotzte sie mit verglasten Augen an; ein widerwaertiger Branntwein-Geruch stieg ihr unter die Nase. Sie musste ihre Frage wiederholen, und diesmal schien er sie wirklich verstanden zu haben, denn er setzte sich statt aller Antwort langsam in Bewegung; ein Wink mit der Hand machte ihr klar, dass sie ihm folgen solle. Bedenklich schwankend ging ihr Fuehrer voran, Ilse angstvoll hinterher. Der Mann war ja total betrunken, er taumelte hin und her und konnte nur muehsam das Gleichgewicht halten. Wenn er sie nur nicht den verkehrten Weg fuehrte! Sie wollte ihn aber nicht noch einmal nach der Wohnung fragen, denn sie war sicher, doch keine verstaendliche Antwort zu bekommen. So waren sie schon eine ganze Strecke zusammen gegangen durch enge, winklige, schlecht erleuchtete und gepflasterte Strassen, in denen der stroemende Regen grosse Pfuetzen gebildet hatte. Den besten Weg schien der Betrunkene auch nicht gewaehlt zu haben; unbekuemmert um den graesslichen Schmutz und die grossen Wasserlachen, in welche er mitten hinein patschte, so dass Ilse vor den nach allen Seiten spritzenden Tropfen ausweichen musste, trottete er weiter. Ihre Unruhe wuchs immer mehr. Wohin fuehrte er sie eigentlich? In einer dieser schmalen, uebelriechenden Gassen wuerden Althoffs doch schwerlich wohnen. Sie fasste sich schliesslich ein Herz und fragte ihren stummen Begleiter, ob sie nicht bald da waeren. Sein aufgedunsenes Gesicht drehte sich zu ihr herum, und seine Augen sahen sie keineswegs liebenswuerdig an. "Koennen Se nich die Zeit abwarten, dann loofen Se doch allene," - bellte er mit unsicherer Stimme. Erschreckt wich Ilse zurueck; wenn das der Papa wuesste, dass dieser betrunkene Mann jetzt ihr einziger Schutz war, er wuerde ausser sich sein. Wie sorgsam wurde sie stets behuetet, und hier war sie ganz allein in einer fremden Stadt. Endlich erreichten sie eine besser beleuchtete breite Strasse, und Ilse fiel es wie ein Stein vom Herzen, als sie diese menschenleeren, unheimlichen Gegenden verliessen. Die Strasse fuehrte auf einen grossen Platz, den sie ueberschritten, worauf sie wieder in eine schmalere Strasse einbogen. Hier schienen sie in dem Villenviertel zu sein, denn die Haeuser zu beiden Seiten hatten Vorgaerten, wie Ilse trotz der Dunkelheit erkennen konnte. Neugierig sah sie in die hellen Fenster, an denen sie vorbeikamen, denn in dieser Strasse wohnte gewiss Nellie. Sie dachte sich das bestimmt, wagte aber nicht danach zu fragen. Ihre Sehnsucht nach Nellie und ihre Ungeduld wuchsen immer mehr, seufzend ging sie weiter, es kam ihr vor, als naehme dieser Weg kein Ende. Endlich blieb der Mann vor einer eisernen Gittertuer stehen und wies auf ein Haus im Hintergrund - "da", sagte er lakonisch und streckte ihr zugleich die Hand verlangend entgegen. Ilse griff in die Tasche und nahm ihr Portemonnaie hervor, das er mit geldgierigen Blicken betrachtete. Sie gab ihm in ihrer Angst ein blitzendes Fuenfmarkstueck, nur um ihn los zu werden. Der ueber Erwarten reichliche Lohn stimmte ihn doch etwas freundlicher. Er oeffnete ihr mit grosser Ungeschicklichkeit die Tuer, und Ilse ging schnell hinein. Sie bemerkte nicht mehr, welche verzweifelte Anstrengung er machte, sich von ihr zu verabschieden, indem er seine Muetze abnehmen wollte. Einigemale griff er vergebens danach, und als er sie gluecklich gepackt hatte, entfiel sie seiner Hand. - Fluchend bueckte er sich nach ihr und liess die Tuere mit lautem Krach ins Schloss fallen, dass Ilse heftig zusammenschrak. Zoegernden Fusses hatte sie den kleinen Vorgarten durchschritten, und blieb vor der Haustuer stehen - zitternd und zagend! Die Fenster in der Parterrewohnung, welche Althoffs bewohnten, waren bis auf zwei unbeleuchtet. Vergebens spaehte Ilse durch die Vorhaenge, ob sie nicht eine Gestalt erblicken oder Stimmen hoeren koenne. Aber nichts regte sich, alles blieb still. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Ach, waere sie nur erst bei Nellie, und waere doch der Augenblick des Wiedersehens erst ueberstanden! Sie konnte sich nicht entschliessen, die Glocke zu ziehen, sondern blieb wartend, ob nicht jemand kaeme, an der Tuere stehen. Einfoermig toente das Regengeplaetscher fort; sie fuehlte sich bis auf die Haut durchnaesst, denn in ihrer Aufregung hatte sie nicht daran gedacht, sich den Mantel anzuziehen, der nun schwer vom Regen ueber ihrem Arm hing. - Ihre Fuesse waren eiskalt, dazu kam ein Gefuehl der Nuechternheit, denn sie hatte seit Mittag nichts genossen. Laenger konnte sie es so nicht mehr aushalten. Ach Gott, kam denn kein Mensch, sie aus ihrer Pein zu erloesen? Erschoepft lehnte sie sich an die Mauer. Endlich hoerte sie im Hause Stimmen. Vorsichtig beugte sie sich vor und sah durch das Fenster in der Haustuere, wie Nellie mit ihrem Mann aus einem der Zimmer heraustrat. Sie holte erleichtert Atem, als sie das treue, liebe Gesicht der Freundin wiedersah, und waere am liebsten sofort zu ihr geeilt, aber Dr. Althoffs Anwesenheit hielt sie zurueck. Er schien fortgehen zu wollen, wie sie zu ihrer groessten Beruhigung bemerkte, denn er hatte Hut und Schirm in der Hand. Arm in Arm ging das junge Ehepaar bis zur Treppe, dann beugte sich Dr. Althoff zu Nellie herab und kuesste sie. Glueckstrahlend sah sie zu ihm auf, und er streichelte zaertlich ihr liebliches Gesicht. "Adieu, Liebste," hoerte ihn Ilse deutlich sagen, "ich gehe jetzt. Spaet werde ich nicht zurueckkehren." Nellie nickte ihm herzlich zu. "Ich schlafe gewiss schon, wenn du heimkommst," sagte sie, "ich bin sehr schlaefrig diesen Abend." Sie blieb an der Treppe stehen, bis er aus der Tuere verschwunden war. - Ilse war bei seinem Kommen schnell zurueckgefahren und hatte sich hinter ein dichtes Gebuesch gefluechtet. Jetzt ging er durch die Gartenpforte; zugleich oeffnete sich eines der erleuchteten Fenster und eine Gestalt ward in demselben sichtbar. Es war Nellie, welche ihrem Manne noch zunickte und ihm nachsah, bis er verschwunden war. Ilse horchte atemlos, bis seine Schritte in der Ferne verhallt waren. Sie war seelenfroh, Nellie allein zu treffen, denn Dr. Althoff ihre Flucht einzugestehen -, es wurde ihr jetzt erst klar, wie beschaemend das fuer sie gewesen waere. Nellie konnte sie nun in Ruhe alles erzaehlen, und diese sollte ihr fest versprechen, ihrem Manne nichts davon zu sagen. Und nun fasste sie sich ein Herz und zoegerte nicht laenger mehr, sich Nellie bemerkbar zu machen. Aus ihrem Versteck hervortretend, rief sie schuechtern deren Namen. Erschrocken zuckte die junge Frau zusammen und, als sie Ilse erkannte, welche in dem matten Lichtschein, den das helle Fenster in den Garten warf, leibhaftig vor ihr stand, schrie sie laut auf. Sie war leichenblass geworden, und ihre Augen blickten so starr, als saehe sie einen Geist vor sich. "Nellie," rief Ilse noch einmal leise, und nun kam jene, so schnell sie ihre zitternden Fuesse trugen, zum Hause heraus gelaufen, vor welchem ihr Ilse in die Arme stuerzte. "Um Gottes willen, Ilse, wo kommst du her?" brachte sie atemlos hervor. "Meine einzige Nellie," das war alles, was Ilse sagen konnte, waehrend die Aufregung und die koerperliche Anstrengung der letzten Stunden sich in einem krampfhaften Schluchzen aufloesten. Nellie fuehrte sie in das Zimmer, selbst nicht faehig ein Wort zu sprechen. Sie nahm der heftig Weinenden Hut und Mantel ab und fuehrte sie zum Sofa. Auf keine ihrer eindringlichen Fragen bekam sie eine Antwort, ratlos stand sie neben der Freundin und betrachtete sie voll Entsetzen. Was war denn nur geschehen, wie sah Ilse aus? Ihr nasses Kleid war ueber und ueber beschmutzt und die vor Feuchtigkeit tropfenden Haare hingen ihr aufgeloest in die Stirn. Nellie nahm ihr Taschentuch und trocknete damit das wirre Haar, dann setzte sie sich still neben die Freundin und lehnte ihren Kopf an deren Schulter. So sassen sie eine Weile wortlos nebeneinander. Endlich fragte Nellie leise: "Ilse, suesser _darling_, was ist mit dich passiert, wie kommst du hierher?" Die hellen Traenen schimmerten bei diesen Worten in ihren Augen, ihr weiches Herz wurde von dem Jammer der Freundin so geruehrt, dass ihre Stimme bebte. Sie streichelte Ilses Haende und nannte sie mit den zaertlichsten Schmeichelnamen. Alle Versuche sie zu beruhigen, zum Sprechen zu bringen, halfen nichts. Sie wusste nicht mehr, was sie anfangen sollte, die kleine Frau, und hilflos sah sie sich um. Ihr praktischer Sinn gab ihr schliesslich das Richtige ein; sie stand auf und schenkte am Bueffet ein Glas Wein ein, welches sie Ilse brachte. "Trink, Kindchen," sagte sie, das Glas an Ilses Lippen setzend, "das wird dich gut tun. O, nur ein kleiner Schluck, mehr will ich dich auch nicht quaelen," bat sie schmeichelnd, als Ilse das Glas zurueckschob und ablehnend mit dem Kopf schuettelte. "Du musst, _darling_," entschied sie endlich kurz, und jetzt widersetzte sich Ilse auch nicht laenger, nahm das dargebotene Glas und trank es in hastigen Zuegen leer. Nellie trug es auf das Bueffet zurueck. "Fuehlst du dich wohler?" fragte sie teilnehmend und setzte sich wieder neben Ilse, welche sich in die Sofaecke zurueckgelehnt hatte und mit dem Taschentuch ihr Gesicht bedeckt hielt. Auf Nellies Frage nickte sie mit dem Kopf. Die junge Frau seufzte leise. Wenn sie doch endlich einmal ein Wort spraeche, dachte sie, denn Ilses Schweigen wurde nachgerade unheimlich. Unruhig rueckte Nellie hin und her; was mochte denn nur vorgefallen sein, dass sich die Freundin gar nicht fassen konnte? "Lieb Ilschen," sagte sie endlich und griff nach ihrer Hand, "sieh mich doch einmal an, weisst ja noch garnicht, wie ich mir als wuerdiges Hausfrau ausnehme." Sanft zog sie dabei Ilse die Hand vom Gesicht fort. "O sieh doch her," bat sie und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen, "du wirst in dies brave, ehrbare Gestalt deine Nellie nicht wieder erkennen. Alles Dumme ist aus mein Sinn heraus, ich bin ein vernuenftiges, kleines Hausfrau geworden." Sie sagte das so drollig, und Ilse sah, als sie aufblickte, in so schelmische Augen, dass sie nicht widerstehen konnte und durch Traenen lachend die Arme um Nellies Hals schlang. Erleichtert atmete diese auf, denn das wortlose Schluchzen war ihr zu schrecklich gewesen. Sie kuesste die Freundin innig und streichelte liebkosend ihre heissen Wangen. "Armes _darling_, wie erhitzt hast du dir und wie elend siehst du aus. Ich werde dir ein wenig Essen holen, sonst habe ich eine kranke Ilse. Bleib hier nur sitzen, gleich bin ich wieder zurueck," sagte sie und stand auf. [Illustration] "Bitte, bitte, Nellie, geh nicht fort," bat Ilse und hielt sie am Arm fest, "ich bin ja garnicht hungrig, ich kann nicht essen, wirklich nicht." "Du wirst dich zwingen, nur einige Bissen musst du essen." Mit diesen Worten machte sie sich von Ilse los und ging hinaus, um sehr bald mit einem Praesentierbrett zurueckzukommen, auf welchem ein Teller mit appetitlich belegten Broetchen stand. Sie rueckte ein kleines Tischchen an Ilses Seite, das sie flink und zierlich deckte. "Wirklich, ich kann nichts essen," beteuerte Ilse wieder, als Nellie sie zum Zugreifen einlud. Aber ihr Straeuben half ihr nichts, wohl oder uebel musste sie essen; bald schmeckte es ihr auch vortrefflich, und sie speiste mit grossem Appetit. Befriedigt sah ihr Nellie zu und noetigte sie immer von neuem. "Du, nun kann ich aber nicht mehr," sagte Ilse endlich und schob den Teller zurueck, "ich bin furchtbar satt." Nellie stellte das Tischchen zur Seite und liess sich auf einem kleinen Schemel nieder, den sie dicht neben das Sofa schob. Ihre beiden Haende legte sie in Ilses Schoss und sah fragend zu ihr empor. Ilse verstand die stumme Frage in ihren Augen, es wurde ihr aber doch schwerer, als sie gedacht hatte, Nellie eine Aufklaerung ueber ihre Flucht zu geben. Seufzend lehnte sie sich zurueck und sah vor sich hin. "Lieb Ilschen," sagte Nellie leise und fuhr bittend und zoegernd fort: "Willst du mir nicht erzaehlen, warum du in die dunkle Nacht zu uns kommst? _Darling_, schuette dein armes Herz in mich aus." Da richtete sich Ilse heftig auf. "Nellie, ach, wenn du wuesstest, wie ungluecklich ich bin!" rief sie leidenschaftlich. "Leo liebt mich nicht mehr, er hat mich nie geliebt! Seine Sklavin soll ich werden, keinen freien Willen haben, mich immer fuegen, und das kann ich nicht, das tue ich nicht, ich lasse mich von ihm nicht wie ein Kind behandeln, ich bin erwachsen und - und -" hier stockte ihre Stimme unter hervorbrechenden Traenen, die Erinnerung an das erlittene Unrecht brachte sie von neuem in Aufregung. "O, bitte Kind, beruhige dir," bat Nellie, "kannst du mir jetzt deine Geschichte noch nicht erzaehlen, so warte ich bis morgen. Weine nicht mehr, armes _darling_." Doch unaufhaltsam flossen Ilses Traenen. Nellie war aufgestanden und nahm einen Leuchter vom Tisch, den sie anzuendete. Sie wusste jetzt genug und drang deshalb nicht weiter in Ilse. Also ein Streit mit Leo war die Ursache ihrer Flucht! Aber wie konnte sich Ilse zu solchem Streite hinreissen lassen! Sie war aufs hoechste erschrocken, bezwang sich aber, moeglichst ruhig zu erscheinen, so sehr sie auch ueber die kuehne Tat ihrer Freundin innerlich erregt war. "Komm, Ilse," sagte sie, "ich fuehre dich in dein Zimmer und du legst dir schlafen. Rieke macht dein Bett schon in Ordnung; ich habe ihr gesagt, du haettest mich mit deiner Ankunft ueberrascht. Aber sie darf dich so mit deinen Traenen nicht sehen, sonst glaubt sie mich meine Luege nicht." Damit zog sie Ilses Arm durch den ihrigen und fuehrte sie in ein erleuchtetes Zimmer, wo ein helles Feuer im Ofen knisterte. "Ach, wie gemuetlich ist es hier, Nellie," rief Ilse unwillkuerlich aus und sah sich neugierig in dem Raume um. Wie freundlich und einladend war hier alles! Zu der hellgebluemten Tapete passten die Gardinen, und der zierliche Toilettentisch war so duftig und grazioes aufgesteckt, dass Ilse sofort erriet, nur Nellie koenne dieses Werk geschaffen haben. "Reizend ist es bei dir, Nellie, alles so blendend sauber und fein," sagte sie wieder bewundernd und betrachtete die Flaeschchen und Buechsen von glaenzendem Kristall, welche die Toilette zierten. "Ich sagte dich ja schon, dass ich ein braves Hausfrau geworden bin, sittsam und ordentlich wie unsre artige Rosi; du wirst grosse Wunder an mir erleben," erwiderte Nellie, und der Schelm lachte aus dem Gruebchen in ihrer rosigen Wange. "Du einzige Nellie, du bist doch noch ganz wie frueher, wie furchtbar lieb habe ich dich, am allerliebsten auf der ganzen Welt." "O nein, so darfst du nicht sprechen, Ilse; deinen Braeutigam musst du am liebsten auf die ganze Welt haben, dann deine lieben Eltern, und zuletzt kommt erst Frau Elinor nebst Gemahl." Um Ilses Mund zuckte es spoettisch, und eine bittre Antwort draengte sich auf ihre Lippen, aber sie bezwang sich und schwieg. Nellie sollte nur wissen, wie sie ihr Braeutigam behandelt hatte! Konnte er da noch ihr Liebstes auf der Welt sein? Nellie hatte die Gardinen am Fenster zugezogen und trat nun wieder zu Ilse. "So, jetzt ist alles fix und fertig, nun schnell in deine Bett. Komm, ich helfe dich." Als sich Ilse niedergelegt hatte und es ihr ersichtlich behaglicher zu Mute wurde, ergriff sie Nellies Hand. "Jetzt will ich dir auch beichten," sagte sie, und als Nellie meinte, sie solle das am andern Tage tun, denn sie wuerde sich wieder zu sehr aufregen, bat sie flehentlich, sie doch anzuhoeren. "Ich kann nicht schlafen, Nellie, wenn du nicht alles weisst!" rief sie und erzaehlte ausfuehrlich alle Einzelheiten des Streites mit Leo und ihrer Flucht. Ihre Wangen gluehten beim Sprechen vor Eifer und Zorn, und sie wunderte sich nur, dass Nellie nicht fortwaehrend in lautes Bedauern ueber ihr trauriges Schicksal ausbrach. Die Freundin sah schweigend vor sich hin, denn sie war entsetzt ueber Ilses abenteuerlichen Streich und durchschaute klar, dass dieselbe im Unrecht war. Wie hatte sie nur so unueberlegt handeln koennen! Sie zitterte bei dem Gedanken an die vielen ungluecklichen Stunden, welche diese Tat der Freundin noch bereiten wuerde. "Nicht wahr, Nellie, so durfte mich Leo nicht beleidigen, wenn er mich wahrhaft lieb hat, - was sagst du dazu?" fragte Ilse schliesslich, als Nellie sinnend dasass, und sah ihr dabei forschend ins Gesicht. "Ich sage garnichts diesen Abend, Kind," erwiderte sie ausweichend, denn sie wusste, dass eine ehrliche Antwort Ilse in ihrer jetzigen Stimmung nur kraenken wuerde; gegen ihre Ueberzeugung aber wollte sie auch nicht sprechen. Als sie in Ilses Zuegen eine Enttaeuschung bemerkte, streichelte sie zaertlich ihre Stirn. "Du musst jetzt schlafen, klein Ilschen, deine Augen haben eine so muede Aussicht. Morgen frueh sprechen wir ueber deine Sache, nicht wahr? - Gute Nacht, _darling_." Mit diesen Worten erhob sie sich, um jedes weitere Gespraech abzuschneiden. "Ruhe dir schoen aus, mache die Augen zu und nicht eher auf, bis morgen frueh; du brauchst dich nicht zu fuerchten, in das andre Zimmer daneben schlafen Fred und ich und hoeren, wenn du rufst. Ich muss jetzt gehen, denn kommt der liebe Mann nach Hause und findet mich noch wachsam, so macht er ein boeses Gesicht." "Nellie!" "Ja, Ilse, was soll ich?" "Bitte, bitte, Nellie, versprich mir eins." "Was soll ich dir versprechen, _darling_?" "Sage deinem Manne nicht, dass ich geflohen bin, ich muesste mich ja zu Tode vor ihm schaemen." "Nein, Ilschen, beruhige dich, er wird nichts wissen. Ich sage ihm, wie ich Rieke erzaehlte, dass du mich eine kleine Ueberraschung bereitet hast." Im stillen laechelte sie ueber die naive Ilse, welche noch ohne Ahnung war, dass Mann und Frau keine Geheimnisse vor einander haben. Natuerlich wuerde sie Fred alles erzaehlen, noch heute Nacht, und mit ihm beraten, was hier zu tun ist. Sie nahm das Licht, nickte Ilse herzlich zu und ging hinaus. In der grossen Aufregung, in der sie sich befand, war sie nicht imstande, sich zur Ruhe zu begeben. Vor ihrem Naehtisch, der im Esszimmer am Fenster stand, setzte sie sich nieder und sah in Gedanken vor sich hin. Das Bild ihres Mannes stand im einfachen Stehrahmen vor ihr und sie betrachtete es lange Zeit sinnend. Ein seliges Gefuehl des Glueckes durchzog sie bei diesem Anblick, und in ueberwallender Zaertlichkeit kuesste sie das Bild. "Mein Fred," fluesterte sie leise mit strahlenden Augen. Sie nahm seine Liebe mit der Dankbarkeit eines demuetigen Weibes entgegen, denn er hatte sie aus ihrem liebearmen Leben an seine Brust gezogen, an der sie nun fuer immer warm und sicher ruhte. Jetzt hatte sie eine Heimat, ein treues Menschenherz, das sie ihr eigen nennen durfte, dem sie sich ganz zu eigen gab. Ihre Gedanken gingen in dem Geliebten auf, sie hatte nur Auge und Sinn fuer seine Wuensche, sie lebte nur fuer ihn, und ihr Glueck truebte kein dunkler Schatten. Dann aber schweiften ihre Gedanken wieder zu der, welche in ihrem Fremdenstuebchen in den weissen Kissen ruhte. Waere diese doch auch erst, was sie war, eine glueckliche Frau! Aber - sie sah mit grosser Betruebnis voraus, dass die arme Ilse noch heisse Kaempfe bestehen muesste, bis sie ihren starren Sinn gebeugt, bis sie die wahre, echte Liebe kennen gelernt haben wuerde. Wenn Ilse Leo so liebte, wie sie ihren Mann, haette sie dann so unverantwortlich handeln koennen? Mit Schrecken dachte Nellie daran, was Ilses Braeutigam wohl zu diesem Schritte sagen wuerde? O, mein Gott, wenn er ihr den Ring zurueckgab, wie Lucies Braeutigam es getan hatte! Nellie bebte bei diesem Gedanken, und ihr treues Herz empfand bange Sorge um die Zukunft ihrer Freundin. Die Uhr ueber dem Sofa schlug jetzt 11, nun musste Fred jeden Augenblick kommen; mit Geduld und Sehnsucht erwartete sie ihn. Sie war ganz ratlos, und es musste doch etwas geschehen. Ilses Eltern, die gewiss in Todesaengsten waren, mussten auf alle Faelle Nachricht haben. Wie und auf welche Weise, das musste sie doch erst mit Fred besprechen. Durch die Scheiben sah sie auf die dunkle Strasse hinab, die oede und verlassen dalag. Endlich glaubte sie in der Ferne Schritte zu hoeren. Ungestuem riss sie das Fenster auf und bog sich weit hinaus. Die kuehle Nachtluft wehte ihr erfrischend um das Gesicht, der Regen hatte nachgelassen, aus den zerrissenen dunklen Wolken, die eilend vorueberzogen, sah der Mond hervor und beleuchtete mit bleichem Glanze Nellies Antlitz. Sie horchte gespannt in die stille Nacht hinaus. Die fernen Schritte waren verhallt, also war es ihr Mann doch nicht gewesen. Gerade heute blieb er laenger aus, als sonst. Ob sie Rieke weckte und mit dieser ihm entgegen ging? Denn wie Feuer brannte es ihr auf der Seele, bis sie ihm alles erzaehlt haben wuerde. Schon wollte sie das Fenster schliessen, um ihren Entschluss auszufuehren, da hoerte sie von neuem Schritte auf der Strasse und diesmal waren es die ihres Mannes. Eilig schloss sie das Fenster und ging ins Zimmer zurueck. Sie hoerte, wie der Schluessel in der Haustuer umgedreht wurde und schnelle Tritte die Treppe herauf kamen. Jetzt schloss er den Vorplatz auf. Sie ging ihm bis an die Tuer entgegen und nahm sich krampfhaft zusammen, um ruhig zu erscheinen. "Nanu, noch auf, wie kommt das?" fragte er bei ihrem Anblick erstaunt. "Du weisst doch, Kind, dass es mich unruhig macht, wenn ich denken muss, du wartest auf mich und wirst muede und abgespannt." Sie legte ihm schmeichelnd die Hand auf den Mund. "Erst hoeren, lieber Fred, dann schelten. Glaubst du, ich sei wegen mein Mann aufgeblieben? O nein, ich laege schon laengst in das tiefste Schlummer, haette ich nicht eine grosse Erlebnis gehabt." Sie blickte ihn ernst dabei an, und er bemerkte, dass sie blass und erregt aussah. "Was denn fuer ein Erlebnis?" fragte er aengstlich. "Was ist denn passiert, erzaehle doch! ich aengstige mich, du siehst so bleich und aufgeregt aus, hat dir Rieke Aerger bereitet?" "O nein," fiel sie ihm lachend ins Wort, "Rieke war eine fromme Lamm wie immer. Lass nur, du erraetst es nicht, Schatz; komm, setze dich nieder, damit du nicht in Ohnmacht faellst, wenn du's hoerst, was ich dir jetzt sagen werde. Also hoere: Ilse ist da!" "Ilse!" lachte Dr. Althoff, "das ist himmlisch! Ja, ich glaube wohl, du moechtest sie waere hier und vertriebe dir die Zeit, wenn dich dein boeser Mann allein laesst. Warte nur, Boesewicht," sagte er scherzend und hob ihr Kinn in die Hoehe, um ihr in die Augen sehen zu koennen. "Du willst mir wohl etwas vorflunkern, weil ich ein bisschen spaeter nach Hause komme, als es meine gestrenge Gattin sonst von ihrem soliden Manne gewohnt ist? Ach ja, es ist schrecklich, wenn man so unter dem Pantoffel steht," sagte er seufzend. Sie blieb aber ernst bei seinem Scherz. "Nein, nein, ich mache keine Spass, Fred; es ist wahr, da drueben," sie wies mit der Hand nach der Tuer, "liegt Ilse und schlaeft." Und als er sie noch immer unglaeubig ansah, da holte sie Ilses Hut und Mantel herbei. "Sieh hier, gehoert mich dies Hut, dieses Mantel, glaubst du mir nun?" Ja, jetzt glaubte er ihr, das bewiesen seine erstaunten Augen, mit welchen er die Sachen ansah. Fragend blickte er seine Frau an. "Nellie, was ist das, wie kommt Ilse ploetzlich her?" "O, mit der Eisenbahn; gleich als du fort warst, kam sie und rief mich. Wie bin ich erschrocken gewesen, ich glaubte ein Gespenst zu sehen, als ploetzlich Ilse so bleich vor mir stand. Wie zitterig war armes _darling_, o, und wie hat sie geweint!" "Geweint, warum hat sie denn geweint?" fragte er, "sage doch nur, was ist denn vorgefallen?" Mit fliegenden Worten erzaehlte sie ihm nun alles. "Und was sollen wir tun, Fred?" fragte sie schliesslich. "Ilse ist ein unvernuenftiges Kind; wir muessen fuer sie handeln." Er hatte bei ihrer Erzaehlung mehrmals unwillig den Kopf geschuettelt. "Ja, was sollen wir tun?" wiederholte er. "Ich hatte geglaubt, Ilses Trotz waere gebrochen, sie waere ein vernuenftiges Maedchen geworden, und jetzt macht sie solche Streiche! Das beste ist, wir packen das ungezogene Kind auf und schicken es morgen mit einem Entschuldigungszettel wieder nach Hause." "O, so darfst du nicht sprechen," rief Nellie unwillig. "Jeder hat nicht ein solch fuegsames Natur, wie deine Frau. Ilse hat nun einmal ein trotziges Sinn, aber sie ist gut, und ich habe ihr so herzhaft lieb. Du darfst ihr auch nicht zeigen, dass du von ihre Fluechtigkeit weisst; sie hat mich gebeten, dir nichts davon zu sagen. - In welche Angst werden ihre Eltern und Leo um sie sein! Sollen wir sie nicht telegraphieren?" "Ja natuerlich, Schatz, das muessen wir tun und zwar gleich, sofort. Ich will die Depesche selbst besorgen." "O ja, das ist gut von dir, aber nun musst du armer Mann noch einmal in die dunkle Nacht hinaus." "Ich brauche ja nicht weit zu gehen," meinte er und zog sich seinen Ueberzieher an. "Wo ist mein Hut? So, du hast ihn, - danke, Kind; gleich bin ich wieder hier. Gehe nur inzwischen zu Bett, du musst schlafen, du hast dich sehr aufgeregt." "Ja, ich bin sehr schlaefrig, ich fuerchte aber, ich kann nicht schlafen, denn alles tanzt wirr in mein Kopf. Ich will nochmal nach unsre Trotzkopf sehen, ob sie schlaeft. Adieu so lange, Liebster." Leise ging sie in Ilses Zimmer und trat an ihr Bett. Diese schlief fest. Noch sah man die Spuren vergossener Traenen auf ihren Wangen, aber sie laechelte im Traume. "O, sie hat eine gute Traum, denn sie lacht," sagte Nellie spaeter zu ihrem Mann. Nun erlosch auch das letzte Licht in der Wohnung Doktor Althoffs, und das Haus lag in tiefem Dunkel da. * * * In Moosdorf hatte Ilses Flucht grossen Schrecken hervorgerufen. Als sie zur gewohnten Kaffeestunde um 5 Uhr, zu welcher die Familie sich zu versammeln pflegte, nicht erschien, suchte man sie im Garten und auf ihrem Zimmer, doch war sie nirgends aufzufinden. "Sie wird zu Pastors gegangen sein," meinte Frau Anne; "wenn es dich beruhigt, lieber Richard, schicke ich sogleich dorthin." "Tue das, liebes Kind," gab er zur Antwort, "es wird jetzt so frueh dunkel, der Weg ist so einsam, und Ilse koennte sich fuerchten. - Wo steckt das Kind nur?" wandte er sich, nachdem seine Frau das Zimmer verlassen hatte, an seinen Schwiegersohn, der am Fenster sass und anscheinend sehr vertieft in die Lektuere eines Buches war. "Weisst du nicht, wo sie sein koennte, Leo? Sie hat es dir doch sicher gesagt, wenn sie zu Pastors gehen wollte." Leo sah auf und schuettelte den Kopf. "Nein, Papa, ich habe keine Ahnung, wo Ilse ist. Nach Tisch waren wir zusammen auf der Veranda, seitdem habe ich sie nicht wieder gesehen." Herrn Macket fiel es bei diesen Worten ploetzlich ein, dass sie ihm heute mittag von dort mit sehr erregtem Gesicht entgegengekommen war. Die beiden haben sich gewiss mal wieder gestritten, dachte er; denn Leo sass so gleichgueltig da und las so ruhig weiter, als handle es sich nicht um seine Braut, die man suchte. Bald kam Frau Anne mit dem Bescheid zurueck, dass Ilse bei Pastors nicht waere und auch nicht dort gewesen sei. Jetzt wurde der besorgte Papa aber unruhig. "Ja, aber irgendwo muss sie doch sein," stiess er hervor und stand auf. Seine Frau trat zu ihm. "Sie wird ins Dorf gegangen sein," versuchte sie ihn zu beruhigen. "Wenn es dir recht ist, gehen wir ihr entgegen. Ich will mich sofort anziehen und bin gleich wieder hier." Herr Macket war mit diesem Vorschlag einverstanden und verliess zugleich mit seiner Frau das Zimmer, um bald darauf zum Ausgehen geruestet, den Stock und Hut in der Hand, wieder einzutreten. Leo sass noch immer lesend am Fenster und sah kaum auf, als sein Schwiegervater zurueckkehrte. Herrn Macket aergerte diese scheinbare Ruhe, er raeusperte sich einigemale vernehmlich und ging mit heftigen Schritten auf und ab. Es verdross ihn, dass sich Leo durch nichts in seiner Lektuere stoeren liess. "Mein Gott, Leo, hat dir denn Ilse kein Wort gesagt, dass sie ueberhaupt fortgehen wollte?" brach er endlich unwillig los. Wieder antwortete Leo ruhig und gelassen: "Nein, Papa, Ilse hat mir mit keinem Wort verraten, wohin sie gehen wollte. Ich glaube auch, wie die Mama, es ist das beste, wir gehen ins Dorf, dort wird sie sicher bei einem ihrer vielen Schuetzlinge zu treffen sein." Er stand auf, klappte das Buch zu und legte es auf die Fensterbank. "So, ich bin fertig," rief Frau Anne ins Zimmer herein, "wir koennen gehen." Draussen nahm sie den Arm ihres Mannes, und nun schritten die drei die einsame Dorfstrasse hinunter, blieben bald hier, bald dort an den Tueren stehen, oder traten auch in die kleinen dumpfen Bauernstuben ein, aber ueberall bekamen sie den Bescheid, dass Ilse von niemand gesehen sei. "Unbegreiflich, unbegreiflich," murmelte Herr Macket vor sich hin. "Wo mag das Maedchen nur stecken?" Frau Anne musste unwillkuerlich ueber ihren Mann laecheln, denn in seinem Eifer und seiner allzugrossen Besorgnis hatte er ihren Arm losgelassen und eilte in beschleunigtem Tempo voraus. "Wie aengstlich der Papa doch gleich ist," wandte sie sich an Leo, "was soll denn Ilse zugestossen sein, sie kennt hier jeden Weg und Steg. Irgendwo wird sie sich festgeplaudert haben, meinst du nicht auch, Leo?" Er nickte und ging schweigend neben seiner Schwiegermutter weiter. Das kleine Dorf war bald durchschritten, niemand vermochte Auskunft ueber Ilse zu geben, keiner hatte sie gesehen. Herrn Mackets Unruhe steigerte sich immer mehr, man sah es ihm deutlich an. "Wir wollen jetzt noch bei der Kathrine vorgehen," - sagte er zu seiner Frau, "vielleicht ist sie dort." Kathrine war das ehemalige Kindermaedchen Ilses, an welchem sie noch mit grosser Liebe hing und welches sie oefter besuchte. Sie war unter den Bauernfrauen gewesen, welche am Nachmittag vom Felde heimkehrend von Ilse so scheu gegruesst worden waren, und hatte ihr deshalb verwundert nachgesehen. Sie haette also dem unruhvollen Papa Auskunft geben koennen ueber seinen Liebling. Doch ging es auch hier, wie so oft in aehnlichen Faellen, dass noch im letzten Augenblick ein tueckischer Zufall hindernd dazwischen tritt, wenn man unbewusst schon dicht vor dem Ziele steht. Frau Anne sehnte sich nach dem behaglichen Zimmer, denn ein heftiger Wind hatte sich erhoben und trieb ihnen den Regen in grossen Tropfen entgegen. Sie zog den Mantel noch fester um ihre Schultern und den Schleier tiefer ueber das Gesicht. Bei diesem Unwetter sollten sie noch so weit gehen! Denn Kathrine wohnte ausserhalb des Dorfes in einem kleinen Haeuschen. Auch glaubte Frau Macket, dass dieser Weg ohnedies ganz unnuetz sein wuerde, denn Kathrine war diesen Morgen erst bei ihr gewesen und hatte Ilse gesehen und gesprochen. Sie sagte das ihrem Mann, und er kam schliesslich zu der Ueberzeugung, dass sie Ilse gewiss vergeblich dort suchten. Auch war der Weg dahin einfach grundlos, es war voellige Dunkelheit unterdessen hereingebrochen, so dass er seiner Frau recht gab, und umzukehren beschloss. "Wir finden Ilse gewiss vor, wenn wir nach Hause kommen," sagte Frau Anne, "es muss ja bald sieben Uhr sein; zum Abendessen ist sie sicher wieder da." Herrn Macket schienen die Worte seiner Frau zu beruhigen, auch er gab sich der festen Hoffnung hin, dass Ilse wohl schon daheim sein wuerde. Im stillen nahm er sich vor, ihr gehoerig den Text darueber zu lesen, dass sie so mir nichts dir nichts fortgeblieben war. Wieviel Lauferei und Schickerei hatten sie dadurch schon gehabt! Sogar den Abendschoppen im Loewen hatte er ihretwegen versaeumt, und er fuehlte jetzt ploetzlich, als Folge der Abweichung von dieser taeglichen Gewohnheit, einen brennenden Durst. Teils um diesen stillen zu koennen, teils um sich frueher Gewissheit zu verschaffen, ob Ilse daheim waere, verdoppelte er seine Schritte, so dass seine Frau Muehe hatte mitzukommen und einigemale bitten musste, doch etwas langsamer zu gehen. Leo schritt wortlos hinter ihnen her. Er schwankte in seinem Innern, ob er nicht doch lieber umkehren und bei Kathrine nachfragen sollte. Zoegernd blieb er stehen und ueberlegte unschluessig, was zu tun sei. Aber der Streit mit Ilse hallte noch zu heftig in ihm nach; wenn er sie jetzt bei der Frau antraf, hatte er wieder einmal verlorenes Spiel. In den Augen seines trotzigen Schatzes wuerde ihr Triumph zu lesen sein, dass er ihr doch wieder nachgelaufen sei; sie wuerde ihm gnaedig verzeihen, wenn er ihr, wie er bis jetzt stets getan, ein gutes Wort gab. Aber diesmal wollte er standhaft bleiben; das Gefuehl, dass er ihr schon zu viel und zu oft nachgegeben habe, wollte sich heute nicht aus seiner Seele verdraengen lassen, und deshalb, - nein, er wollte nicht umkehren! Wie seine Schwiegereltern, troestete auch er sich mit der Hoffnung, dass Ilse jetzt wohl daheim sein wuerde, und schnell folgte er dem vorangegangenen Ehepaare. Als sie ins Haus traten, war Herrn Mackets erste Frage nach Ilse. Aber er bekam die Antwort, dass sie nicht gekommen war und auch keine Nachricht geschickt hatte. Mit nervoeser Unruhe zog er die Uhr aus der Tasche. "Es ist sieben Uhr," sagte er zu seiner Frau. "Da muss Ilse ja jeden Augenblick kommen," fiel sie ihm ins Wort, "zum Abendessen ist sie, ohne Bescheid gegeben zu haben, noch nie ausgeblieben." "Ist das Abendessen bereit?" fragte sie das Hausmaedchen, das ihr diensteifrig den nassen Mantel abgenommen hatte. "Ja, gnaedige Frau, es ist alles fertig." Sie bat ihren Mann und Leo, im Esszimmer auf sie zu warten, da sie nur noch nach dem Kinde sehen wolle. Eine behagliche Waerme stroemte den beiden Maennern entgegen, als sie das Zimmer betraten. Das laut knisternde Holzfeuer in dem altertuemlichen Kachelofen, das helle Licht, welches die grosse Haengelampe ausstrahlte, und der einladend gedeckte Tisch, die ganze stimmungsvolle Behaglichkeit, welche in dem Raume herrschte, vermochte indessen heute nicht den gewohnten Eindruck auf die beiden hervorzubringen. Herr Macket durchmass das grosse Zimmer fortwaehrend von einem Ende zum andern mit grossen Schritten, und sein Blick schweifte jedesmal, so oft er vorbeiging, zu der alten Standuhr hinueber, die schon von seinen Urgrosseltern herstammte und ein wertvolles Familienstueck war. Gleichmaessig rueckte der Zeiger vorwaerts, einfoermig tickte der grosse Pendel. "Schon 1/28 Uhr," murmelte der besorgte Vater, als das Schlagwerk jetzt zu einem lauten Ton aushob, der melodisch verhallte. Leo hatte sich an das Fenster gesetzt und sah stumm hinaus. "Wo bleibt nur Ilse," dachte auch er jetzt; es kam ihm seltsam vor, dass sie noch immer nicht da war. Sie hatte ihn so aufgeregt verlassen diesen Mittag, so zornig, wie er sie nie gesehen. Sollte sie in ihrer Leidenschaftlichkeit fortgelaufen sein, des Wegs vielleicht nicht geachtet und sich deshalb verirrt haben? Er kannte ihre Furchtsamkeit, wie wuerde sie sich aengstigen, wenn sie wirklich den richtigen Weg verfehlt hatte! Dieser Gedanke verscheuchte allen Groll in seinem Herzen, er dachte nur noch daran, dass seine Braut jetzt vielleicht seines Schutzes, seiner Hilfe bedurfte, konnte er sie da verlassen? Er sprang auf. "Papa," wandte er sich an seinen Schwiegervater, "ich will noch einmal fortgehen. Vielleicht hat sich Ilse verirrt, ich kenne ja ihre Lieblingswege, sicher ist sie zu weit gegangen und kann nicht wieder zurueckfinden." Nichts war Herrn Macket erwuenschter, und mit Freuden gab er seine Zustimmung zu diesem Entschluss. "Das ist recht, tue das," sagte er mehrmals hinter einander, "sie hat sich gewiss verirrt, sie muesste ja sonst laengst da sein. Soll ich mitgehen?" "Nein, nein, Papa," fiel ihm Leo ins Wort, "bleibe nur hier." "Ja aber, Leo, - kennst du auch den naechsten Weg nach der Wassermuehle? Es faellt mir eben ein, dass Ilse gestern davon sprach, dass sie dorthin gehen wolle, weil sie gehoert habe, dass die kleine Liese krank sei; es kann also sein, dass sie dort ist. Wenn du ueber die Friedenseiche gehst und dann der Chaussee folgst -" "Ja, lieber Papa," unterbrach ihn Leo laechelnd, "ich kenne den Weg ganz genau." Herr Macket begleitete ihn in seinem Eifer bis an die Gartenpforte und gab ihm noch gute Ratschlaege, wie er diesen und jenen Weg am besten abkuerzen koenne. Als er ins Esszimmer zurueckkehrte, fand er dort seine Frau, die am Bueffet stand und den Tee bereitete. Er erzaehlte ihr sehr befriedigt, dass Leo fortgegangen waere, um Ilse zu suchen. "Wir wollen aber trotzdem mit dem Essen anfangen," sagte Frau Anne, die ihren Mann gern auf andre Gedanken bringen wollte und noetigte ihn zum Sitzen. Dann stellte sie eine dampfende Tasse Tee vor ihn hin und reichte ihm die Speisen. Er ass nur wenig, und sie las in seinem Mienen, dass er gespannt auf jedes Geraeusch horchte. Jedesmal, wenn die Haustuere ging, stand er auf, sah hinaus und kehrte mit enttaeuschtem Gesichte zurueck. "Iss doch nur, lieber Richard," bat Frau Anne dringend, "alles wird kalt, und es gibt gerade dein Lieblingsessen heute abend." Er nickte und fuellte sich den Teller in der Zerstreutheit bis an den Rand voll, dann ass er einige Bissen, aber mit Hast und Ueberstuerzung, nicht mit der Behaglichkeit, die er sonst gerade beim Essen so sehr liebte. Die beiden Ehegatten waren auffallend still diesen Abend; eine Zeitlang hoerte man nur das Klappern der Messer und Gabeln und das gleichmaessige Ticken der Uhr, nach welcher Frau Anne oefter verstohlen hinblickte, denn Ilses Ausbleiben wurde auch ihr jetzt auffallend. Sie sah, dass die Aufregung ihres Mannes wuchs und dass er sich nur ihr gegenueber beherrschte. Er hatte sich in den Stuhl zurueckgelehnt und spielte in nervoeser Unruhe mit dem Messerbaenkchen. Frau Anne legte den Teeloeffel, mit welchem sie eine ganze Weile mechanisch in der Tasse herumgeruehrt hatte, auf das Unterschaelchen. "Richard," sagte sie und ein leiser Vorwurf klang aus ihren Worten, "heute abend hast du zum erstenmal vergessen, unsrem Liebling gute Nacht zu sagen. Er war so herzig, so drollig, der kleine Kerl, als ich ihn zu Bette brachte." "Ja, wahrhaftig, das habe ich vergessen," rief er und sprang auf, "aber ich gehe jetzt noch zu ihm; schlaeft er denn schon?" "O, schon lange! Wecke mir das Kind nur nicht auf!" rief sie ihm noch nach, als er aus der Tuere ging. Frau Anne war es unerklaerlich, warum Ilse nicht kam, warum sie gerade heute, wo Leo da war, ausblieb. Und auch dieser kam nicht wieder! Jetzt konnte er doch laengst zurueck sein. Gewiss hatte er Ilse nicht gefunden. Sie war froh, als sie bald darauf die Haustuere gehen und gleich danach Leos energischen Schritt die Treppe herauf kommen hoerte. Rasch ging sie ihm entgegen. Er stand gerade auf dem Vorplatz und hing seinen regentriefenden Ueberzieher auf. Auch Herr Macket hatte ihn kommen hoeren und war herbeigeeilt. "Hast du Ilse nicht gefunden?" fragte er bestuerzt. "Nein," gab Leo kurz zur Antwort, und seine Stimme klang unsicher und erregt. "Lasst uns ins Zimmer gehen," draengte Frau Anne, denn sie bemerkte, dass oben auf der Treppe die Dienstboten neugierig die Koepfe zusammensteckten. Sie gingen hinein, und Herr Macket ueberschuettete Leo, der sich erschoepft in einen Stuhl fallen liess, mit ungeduldigen Fragen. "Ueberall bin ich gewesen, Papa, ueberall habe ich nach Ilse gefragt, niemand hat sie gesehen." "Wo bist du gewesen?" forschte der geaengstigte Vater weiter. "Beim Pastor, in der Muehle -" "Warst du nicht bei Kathrine?" "Nein, aber ihr kleiner Junge, den ich sah, sagte mir, dass Ilse nicht bei seiner Mutter waere." "Dann ist dem Kinde etwas zugestossen," stiess Herr Macket hervor und sein Gesicht wurde leichenblass. Frau Anne eilte zu ihm hin. "Aber ich bitte dich, Richard," suchte sie ihn zu beguetigen, "nimm doch nicht gleich das Schlimmste an, was soll ihr denn zugestossen sein?" Ihre Worte uebten jedoch keinen beruhigenden Einfluss mehr auf ihn aus, und sie gestand sich selbst, dass sie wider ihre eigene Ueberzeugung sprach, in der Absicht, ihm die Sorge, die sich jetzt auch ihrer bemaechtigte, nicht zu zeigen. Irgend etwas musste vorgefallen sein. Es war jetzt halb zehn Uhr; so lange war Ilse noch nie ausgeblieben, ohne vorher etwas gesagt oder Bescheid geschickt zu haben. Und wo sollte sie denn ueberhaupt sein? Sie hatten ja ueberall schon nachgefragt. Leo war ans Fenster getreten und presste sein Gesicht an die Scheiben, gegen welche der Regen prasselnd aufschlug. Nun wurde es ihm klar: Ilse hatte in ihrer Aufregung irgend einen Schritt getan, der sie alle in Angst und Aufregung versetzte. Aber was, was fuer ein Schritt konnte dies sein? Ein unheimlicher Verdacht stieg in ihm empor, aber er draengte ihn schaudernd zurueck. Um Gottes willen, nein, soweit wuerde sie sich nicht hinreissen lassen, das war ja nicht moeglich, das konnte nicht sein! "Rufe die Knechte zusammen, Anne," unterbrach die Stimme seines Schwiegervaters das beaengstigende Schweigen, und als seine Frau ihn fragend ansah, fuegte er hinzu: "Sie sollen die Laternen und Fackeln zurecht machen, wir wollen Ilse suchen." Er stiess die Worte kurz und abgerissen hervor, seine Stimme bebte in verhaltener Aufregung, und vor innerer Angst fast gelaehmt liess er sich in einen Stuhl sinken und vergrub sein Gesicht in beiden Haenden. Frau Anne tat es im Herzensgrunde leid, wie sie ihn so gebrochen dasitzen sah, und sie schlang zaertlich ihren Arm um seinen Hals. "Richard," bat sie innig, "ich bitte dich, gib dich doch nicht gleich den schlimmsten Vermutungen hin; ich frage nochmals, was soll dem Kinde zugestossen sein, das jeden Weg auf das genaueste kennt? Soll ich die Knechte wirklich zusammenrufen?" Der Gedanke, dass die Leute mit Laternen fortgehen sollten, um Ilse zu suchen, war ihr zu schrecklich. "Lass nur, Anne," wehrte er jetzt ab, "ich will den Knechten selbst Bescheid sagen." Mit diesen Worten erhob er sich und verliess das Zimmer. "Leo," sagte Frau Anne, indem sie zu ihm trat, "ich aengstige mich sehr und will nur dem Papa meine Angst nicht zeigen. Was kann Ilse zugestossen sein? Wenn ihr nur kein Unglueck begegnet ist! Ich kann es nicht begreifen, dass sie noch nicht da ist." Schweigend hoerte Leo sie an, auch ihn hatte die Angst erfasst, und in seinem Innern bestand er jetzt einen harten Kampf; er fuehlte wohl, dass es seine Pflicht war, den Streit, welchen er mit Ilse gehabt, zu erwaehnen, und doch konnte er sich nicht dazu entschliessen. Er hatte seine Braut wiederholt gebeten, wenn sie in ihrer Offenheit und Heftigkeit die kleinen Missverstaendnisse, ohne die es zwischen ihnen nicht immer abging, den Eltern ausgeplaudert hatte, dies kuenftig zu unterlassen, - und nun sollte er selbst erzaehlen, dass sie sich gezankt hatten? Nein, das widerstrebte ihm, das wollte er nicht! Frau Anne beobachtete ihn stillschweigend, ihr scharfes Auge hatte in seinen bewegten Mienen gelesen, und es war klar in ihr, dass zwischen den Brautleuten etwas vorgefallen sein musste. Aber sie fragte nicht und sagte nichts, ihr feinfuehlender Sinn verstand die peinliche Lage, in der sich Leo jetzt befand. Leise summte der kupferne Teekessel, der auf dem Bueffet stand, sein eintoeniges Lied, als Frau Anne jetzt herantrat und ihn von der Spiritusflamme herunter nahm. "Willst du nicht etwas essen, Leo?" fragte sie. "Danke, Mama!" "So trinke wenigstens eine Tasse Tee," bat sie und goss das kochende Wasser in die Teekanne. "Danke, Mama," erwiderte er ebenso kurz und schnell wie vorhin. Dann starrte er wieder unbeweglich in die Dunkelheit hinaus, die so undurchdringlich war wie das Dunkel, welches Ilses Verschwinden umgab. Heulend tobte der Sturm um das Haus, man hoerte das Aechzen der schwankenden Baeume und den stroemenden Regen, der klatschend niederschlug. Das Unwetter trug dazu bei, Leos beklommenes Herz noch schwerer zu machen. Diese Ungewissheit ueber das Ausbleiben seiner Braut ertrug er nicht laenger, es wurde ihm zu heiss, zu eng hier, und er sprang so heftig empor, dass der Stuhl, auf dem er gesessen, mit lautem Gepolter zurueckflog. "Es ist erdrueckend schwuel hier, findest du nicht auch, Mama?" und ungestuem riss er das Fenster auf, dass ihm der Regen kalt in das erhitzte Gesicht schlug. Unten im Hofe hoerte man jetzt Stimmen durcheinander toenen, und Lichter flackerten hin und her. Leo beugte sich hinaus und sah die Gestalt seines Schwiegervaters, welcher hastig auf und ab schritt, ohne Hut und Mantel, des Regens und Sturmes nicht achtend. "Das geht nicht," meinte er, indem er sich nach Frau Anne umdrehte. "Papa soll in diesem Wetter nicht mit. Ich will ihm doch sagen, dass er zu Hause bleibt, ich werde mit den Leuten gehen." Frau Anne stimmte ihm bei und folgte ihm in den Hof, um auch ihren Einfluss geltend zu machen und ihren Mann zu bewegen, dass er daheim bleiben moege. Aber er liess sich weder von ihr noch von Leo bereden, um keinen Preis wuerde er zurueck bleiben, entschied er kurz. Sein joviales, immer heiteres Gesicht war heute durch die Angst und Aufregung foermlich verzerrt, und er schien um Jahre gealtert zu sein. "Adieu, Anne," sagte er, seiner Frau die Hand reichend, und indem er sein Gesicht fortwandte, fuegte er hinzu: "Wir wollen nun unsre arme Ilse suchen." "Nein, Richard," rief sie und hielt ihn fest, "so darfst du auf keinen Fall fort, ohne Hut, ohne Ueberzieher, du wuerdest dich auf den Tod erkaelten." Sie flog ins Haus und holte ihm beides. Auch sie selbst hatte sich ihren Mantel umgehaengt und ein Tuch um den Kopf geschlungen. "Lass mich mit dir gehen," bat sie ihren Mann. "Nein, Kind," sagte er und schob sie sanft zurueck, "du bleibst hier. Kommt, Leute," befahl er dann und ging mit grossen Schritten voran. An seiner Seite schritt Leo. Die Enden seines weiten Mantels flatterten im Winde. Den grosskraempigen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen und sein Blick haftete fest auf dem Boden. Frau Anne sah ihnen nach, bis der letzte den Hof verlassen hatte, dann erst ging sie ins Haus zurueck. Vom Fenster aus verfolgte sie den Zug der Fackeln, mit denen der Sturm sein lustiges Spiel trieb. Wie unheimlich das aussah! - O, mein Gott, wenn nur nichts passiert ist! Krampfhaft zog sich bei diesem Gedanken ihr Herz zusammen, und angstvoll presste sie die Haende auf dasselbe. Ein nervoeses Froesteln ueberlief sie, fester huellte sie sich in ihr Tuch, das sie um die Schultern geschlungen hatte, und sah vor sich hin. Was mochte nur zwischen dem Brautpaare vorgefallen sein? Etwas Ernstes gewiss, denn Leo hatte so bekuemmert dagesessen, und schon den ganzen Nachmittag war er ungewoehnlich ernst gewesen. Sie gruebelte hin und her, wo Ilse noch sein koennte, wie ihr Fortbleiben zu erklaeren waere. Kein Rat, kein Ausweg mehr! Sollte sie in ihrer Leidenschaftlichkeit eine unglueckselige Tat begangen haben? Frau Anne wies diesen entsetzlichen Gedanken so schnell zurueck, wie er ihr gekommen war, - nein, das war Ilse nicht zuzutrauen, denn trotz aller Leidenschaftlichkeit war sie nicht im geringsten krankhaft ueberspannt, sondern hatte eine kerngesunde Natur. Langsam schlich die Zeit dahin. Tiefe Nacht herrschte jetzt ueberall im Dorfe, alles war dunkel. Der Sturm hatte nachgelassen, und nur der Regen klatschte noch an die Fenster. Unaufhoerlich rieselten die kleinen Baeche in schnellem Lauf ueber die glatten Scheiben, Tropfen auf Tropfen jagten einander. Frau Anne sah mechanisch dem Spiele zu, dessen einfoermiges Geraeusch die einzige Unterbrechung der naechtlichen Stille war. Und deshalb zuckte sie auch jaeh zusammen, als der Glockenschlag der zwoelften Stunde jetzt laut und langsam feierlich durch die Nacht hallte. Traulich und heimisch beruehrten sie sonst diese Toene, aber schauerlich bang klangen sie heute in ihrem Innern wieder. Nun waren sie schon ueber eine Stunde fort, ihr Mann und Leo! Noch deutete nichts darauf hin, dass sie zurueckkaemen, und vergeblich spaehte sie in die Dunkelheit hinaus, ob nicht ferner Lichtschein ihre Heimkehr verkuendete. Da, - es war ihr, als hoerte sie ploetzlich Schritte, gespannt horchte sie hinaus, und richtig, sie hatte sich nicht getaeuscht. Die einsamen Schritte naeherten sich dem Hause, und Frau Anne hoerte, dass die Gartenpforte aufgemacht wurde. Eilig riss sie das Fenster auf und sah, wie eine Gestalt ueber den Hof auf das Haus zukam. Gleich darauf wurde heftig an der Glocke gezogen. "Wer ist da," rief sie von oben hinunter. "Eine Depesche," antwortete eine Stimme von unten. Frau Anne schlug das Fenster zu und flog die Treppe hinab. Wie ihr das Herz klopfte! - Die Maegde, welche sich auf dem Hausflur befanden, hatten die Tuere noch nicht aufgemacht; sie standen dicht zusammengedraengt, mit so angstvollen Gesichtern, als wenn der leibhaftige Satanas vor der Tuere waere und Einlass begehrte. "Warum macht ihr denn nicht auf?" fragte Frau Macket und wollte den Schluessel im Schloss umdrehen, als die alte Koechin sie am Arm zurueckhielt und flehentlich mit weinerlicher Stimme bat, doch ja nicht zu oeffnen, denn man koenne ja nicht wissen, wer draussen staende. "Ach, liebe, gnaedige Frau, machen Sie doch nicht auf," jammerte sie, als Frau Anne den Schluessel nun doch entschlossen umdrehte und der Druecker von draussen niederging. Laut kreischend flogen die Maegde auseinander, und mit bebender Hand nahm Frau Anne dem Boten die Depesche ab und oeffnete sie. Sie wurde ganz blass, als sie den Inhalt las, und wollte ihren Augen nicht trauen. [Illustration] "Es ist nicht moeglich," sagte sie laut; dann nahm sie das Blatt, hielt es dicht unter die Flurlampe und las es noch einmal. Nein, sie hatte sich nicht geirrt, da stand es deutlich und klar: "Ilse ist hier wohlbehalten und gesund eingetroffen, Brief folgt. Doktor Althoff." Sie faltete das Blatt zusammen und ging zurueck ins Zimmer. Um Gottes willen, was hatte Ilse getan! Geflohen war das tolle Kind, - dachte sie denn gar nicht daran, wieviel Angst sie durch diesen wahnsinnigen Streich ihren Angehoerigen bereitete? Frau Annes Empoerung war gross, und doch draengte sich der Gedanke: "es ist ihr nichts passiert" beruhigend und versoehnend hervor. Wenn die Maenner nur erst heimkehrten; sie konnte die Zeit nicht abwarten, bis sie ihrem armen, auf das hoechste geaengstigten Mann die Nachricht mitzuteilen vermoechte. Ihre Ungeduld, ihre Unruhe liessen sie nicht lange mehr im Zimmer verweilen; sie beschloss Herrn Macket entgegenzugehen. Als sie ueber den Flur ging, standen dort noch immer die Maegde, fluesternd mit weit aufgerissenen Augen und Maeulern. Die eine erzaehlte gerade eine schaurige Geschichte und die andern hoerten ihr mit grausigem Wohlbehagen zu. Auch sie waren ueber das Fortbleiben von Fraeulein Ilschen in nicht geringe Aufregung versetzt worden und malten sich nach Art ungebildeter Leute in der schrecklichsten Weise aus, wie und auf welche Weise das arme, liebe Fraeulein wohl umgekommen sein koennte. Waehrend Frau Macket eilig an ihnen vorbei der Tuere zu schritt, flogen sie mit den Koepfen auseinander und stiessen sich gegenseitig an. Immer unheimlicher wurde die Lage, nun ging auch noch die Frau fort, allein in die finstere Nacht hinaus. Was hatte das zu bedeuten? Fragend sahen sie sich an; da konnte sich die alte Koechin nicht laenger beherrschen. "Ach, du mein Gott, ach, du mein Gott," wimmerte sie, "was ist das fuer ein Unglueck!" und sie nahm ihre Schuerze vor das Gesicht, hinter welcher sie jaemmerlich schluchzte. Im Chore stimmten die uebrigen mit ein. "Wie gut ist das Fraeulein immer gewesen," sagte die eine. "So freundlich gegen jedermann," rief das Hausmaedchen, und nun ergingen sie sich derart in Lobeserhebungen ueber Ilse, als wenn sie ueber eine bereits Abgeschiedene spraechen. "Das Unglueck, das Unglueck," kraechzte die Koechin von Zeit zu Zeit wie ein Unheil verkuendender Ungluecksrabe dazwischen. "Wer haette das gedacht! Ja, ich sage ja - ich habe es immer gesagt, ich habe es kommen sehen. Ach," - sie unterbrach ihre tiefsinnigen Betrachtungen mit einem erneuten Schluchzen. Die andern nickten zustimmend. "So jung und so reich," rief das Stubenmaedchen schwaermerisch aus, "ach, es ist schrecklich!" Das kleine Kindermaedchen, als die mutigste von allen, hatte sich bis zum Flurfenster gewagt und schrie ploetzlich: "Jetzt kommen sie, jetzt bringen sie das Fraeulein!" Im Nu waren die andern am Fenster, - richtig, da kamen sie. Die Fackeln tanzten im Winde und kamen immer naeher. Voran gingen Herr und Frau Macket und der Herr Assessor, hinterher folgten die Maenner mit den Laternen und Fackeln. Jetzt bogen sie in das Hoftor ein. "Legt euch zu Bett nun," hoerten die Maedchen Herrn Mackets Stimme den Knechten befehlen, und dann schritt er dem Hause zu. Sie zogen sich schnell in eine dunkle Ecke zurueck, als gleich darauf die Haustuere ging, und von dort folgten ihre Blicke neugierig der Herrschaft und dem jungen Herrn, die wortlos an ihnen vorueberschritten, Herr Macket sehr bleich mit finster zusammengezogenen Brauen. Das kleine Kindermaedchen, das ebenso schlau war, als es sich vorhin mutig gezeigt hatte, schlich sich durch die Hintertuer zu den heimgekehrten Knechten und liess sich von allem haarklein berichten. In der Kueche erzaehlte es dann spaeter alles, was es erfahren hatte, und kam sich ungeheuer wichtig vor, als die andern es im Kreise umstanden und seinen Worten andaechtig lauschten. Herr Macket war mit Frau und Schwiegersohn in das Esszimmer gegangen, wo er sich auf das Sofa warf. Er sprach kein Wort, aber seine breite Brust hob und senkte sich in schnellen Atemzuegen. Leo lehnte am Tisch und drehte die zierlichen Enden seines Schnurrbaertchens mit nervoesem Eifer zwischen den Fingern. Ein schmerzlicher Zug lagerte um seinen Mund, aber die Falte auf seiner Stirn, die sich zwischen den starken Brauen vertiefte, und die zitternden Nasenfluegel gaben zugleich Zeugnis von einer inneren Empoerung und Erbitterung. Unverwandt starrte er vor sich nieder. Frau Anne blickte besorgt von einem zum andern, und sah selbst tief bekuemmert aus. Nun setzte sie sich neben ihren Gatten und legte ihre Hand auf seine Schulter. "Richard," bat sie sanft, als sie sah, dass er die zerknitterte Depesche mit der Hand glatt strich und wieder las, "lass uns ueber diese Sache nicht so streng richten, Ilse ist noch ein Kind." Er warf das Papier fort und sprang auf. "Ja, ein Kind, ein toerichtes, ungezogenes Kind," rief er, und seine Augen blitzten zornig auf. "Was faellt ihr ein, was soll es bedeuten, dass sie fortlaeuft? Wie kann sie so etwas wagen! Aber sie soll zurueck, sofort, - ich will es!" Seine Stimme klang so laut und hart, dass Frau Anne wieder erschreckt an seine Seite eilte. Sie kannte ihn heute abend nicht wieder, so erzuernt auf seinen Liebling hatte sie ihn noch nie gesehen. "Ja, und warum, warum hat sie uns das getan, was ist denn geschehen?" rief er wieder, und diesmal klang ein schmerzlicher Ton aus seinen Worten. Er hatte dabei Leo von der Seite angesehen, denn eine Ahnung daemmerte in ihm auf, dass dieser den Grund zu Ilses Flucht wohl wissen mochte; dass ihre Aufregung, in der er sie diesen Mittag getroffen hatte, damit im Zusammenhang stehen musste. Leo verstand seinen fragenden Blick, und er fuehlte, dass er jetzt nicht mehr schweigen durfte. "Papa," sagte er ploetzlich und trat auf ihn zu, "ich bin dir und Mama eine Erklaerung schuldig. Ilse und ich hatten diesen Mittag einen Streit zusammen, der damit endete, dass Ilse mich in hoechster Erregung verliess. Ich habe sie danach nicht wieder gesehen und" - er stockte - "bin nun auf das tiefste betruebt, dass sie sich zu einer solchen Tat hat hinreissen lassen." Er sagte nichts weiter als diese wenigen Worte, die er muehsam Atem holend hervorbrachte. Herr Macket hatte ihn schweigend, mit den Haenden auf dem Ruecken, angehoert und setzte nun seine Wanderung im Zimmer auf und ab wieder fort. Frau Anne sah voll Mitleid auf den jungen Mann, der durch Ilses Leichtsinn tief getroffen war. "Ilse hat unverzeihlich gehandelt, so weit durfte sie in ihrer Leidenschaft nicht gehen," sagte sie aergerlich. Ihre besaenftigenden Worte von vorhin hatten bei ihrem Manne die entgegengesetzte Wirkung hervorgerufen, jetzt aber, wo ihre gerechte Empoerung deutlich aus ihren Worten sprach und auch Leo Ilse nicht in Schutz nahm, loeste sich die Erbitterung von seinem Herzen und verwandelte sich in zaertliche Sorge fuer den fernen Liebling. Er malte sich in Gedanken Ilses Reise aus und die mancherlei Unannehmlichkeiten, welche sie gewiss betroffen hatten. "Was mag das arme Kind fuer eine Angst ausgestanden haben auf der Reise!" Mit diesen Worten machte er schliesslich seinen Gefuehlen Luft. "Und in der fremden Stadt, wo sie niemand kennt. In der Dunkelheit ist sie dort angekommen, - sie hat sich gewiss sehr gefuerchtet." Frau Anne dachte, diese Furcht und Angst waere am Ende nur die gerechte Strafe fuer ihre Tollkuehnheit gewesen. "Wenn sie nur keine nassen Fuesse bekommen und sich erkaeltet hat," fuhr Herr Macket fort. "Nellie wird doch wohl dafuer gesorgt haben, dass sie gleich ins Bett kam." Seine Stimme klang mit jedem Worte sanfter und weicher. Der erste Unmut ueber Ilses Flucht war erloschen und hatte einer zaertlichen Besorgnis Platz gemacht. Gedankenvoll blieb er eine Weile stehen. "Leo," redete er diesen ploetzlich an, "morgen frueh um 81/2 Uhr geht der erste Zug nach F.; mit diesem reisen wir, nicht wahr?" Verbluefft sah ihn Leo an und fragte dann: "Willst du Ilse holen, Papa? Dann werde ich dich morgen frueh sehr gerne zum Bahnhof begleiten." Jetzt drueckten Herrn Mackets Zuege eine foermliche Erstarrung aus. "Ja, du reisest doch mit?" fragte er erstaunt. "Nein, Papa," erwiderte Leo freundlich aber bestimmt, "ich reise nicht mit. Erlass es mir auch, dir die naeheren Einzelheiten unsres Streites zu erzaehlen, und sei ueberzeugt, dass es mir sehr, sehr schwer geworden ist, diesen ueberhaupt beruehren zu muessen, doch das ging nun einmal nicht anders. Ich muss nur noch das eine hervorheben, so schmerzlich es mir ist: ich kann und darf nicht mit zu Ilse reisen, so gern ich ihr, wie schon so oft, ja ich darf wohl sagen, nur zu oft geschehen, wieder zuerst die Hand zur Versoehnung bieten wuerde." Sein Atem ging schnell und heftig bei diesen Worten, so ruhig er sie auch aussprach. Herr Macket hatte ihn mit keiner Silbe unterbrochen, auch jetzt sagte er nichts. Aber seine gerunzelten Augenbrauen, die festen Schritte, mit welchen er zur Tuere schritt und sie hart ins Schloss fallen liess, verrieten, dass er Leos Entschluss durchaus nicht billigte. Frau Anne sah ihren Schwiegersohn fragend an. "Es tut mir leid, dass Papa aergerlich auf mich ist, aber ich kann nicht anders handeln," sagte er. Frau Anne zuckte die Achseln, als begreife sie ihren Mann nicht, denn sie selbst teilte Leos Ansicht und billigte es vollkommen, wie er in dieser ernsten, fuer seine und Ilses Zukunft entscheidenden Sache zu handeln gedachte. Ilse jetzt nachzureisen, waere geradezu Torheit gewesen und wuerde sicher nicht dazu beigetragen haben, das leidenschaftliche Kind zu aendern. "Ich will doch mit dem Papa sprechen, dass er nichts in Uebereilung tut," sagte sie zu Leo. "Wenn er erst ruhiger geworden ist, wird er dich auch begreifen; du kennst ja seine blinde Liebe zu Ilse." Als Leo allein war, sank er auf einen Stuhl und vergrub seine Haende in sein dichtes Haar. Wie wehe, wie grenzenlos wehe hatte ihm Ilse getan! Er konnte nicht begreifen, wie sie ihm diesen Schmerz und zugleich diesen Schimpf zufuegen konnte; er hatte geglaubt, sein Lieb so genau zu kennen, das aber, das haette er ihr nie zugetraut. - Sie war keine sanfte, keine hingebende Braut, seine Ilse, und er musste immer von neuem um sie ringen und kaempfen, was sie ihm aber doppelt anziehend machte. Hatte er seither wohl den richtigen Weg eingeschlagen, sich seine kleine Widerspenstige zu zaehmen? Ihr Widerspruch reizte ihn, sie gefiel ihm in ihrem Trotz; war sie erst seine Frau, dann sollte alles anders werden. So hatte er bis jetzt gedacht, nun fiel es ihm mit einem Male wie Schuppen vor den Augen, dass er ihren Charakter falsch beurteilte, dass es verkehrt war, ihr stets nachzugeben, denn das stachelte sie immer von neuem zum Trotz und Widerspruch auf. Diese Erkenntnis war bitter fuer ihn. - In seinen Gedanken versunken hatte er nicht bemerkt, dass die Tuere geoeffnet worden und Frau Anne wieder eingetreten war; erst als sie ihre Hand auf seine Schulter legte, blickte er auf. "Ach, du bist es, Mama," sagte er und erhob sich. Sie drueckte ihn sanft auf seinen Platz zurueck und setzte sich ihm gegenueber. "Ich habe mit dem Papa gesprochen, Leo, er ist jetzt entschlossen, mit seiner Reise nach F. zu warten, bis ein erklaerender Brief von Ilse eingetroffen ist." "So - das ist mir lieb," gab er zur Antwort und sah dann wieder schweigend in die Finsternis hinaus. Auch Frau Macket schaute nachdenklich vor sich hin, als kaempfte sie mit einem Entschluss. Mehrmals oeffnete sie die Lippen zum Sprechen, ohne jedoch etwas zu sagen. Nach einer Weile fing sie endlich an: "Leo, ich will mich nicht in deine und Ilses Angelegenheiten draengen; darf ich dich nur das eine fragen, glaubst du dich wirklich voellig schuldlos an Ilses Flucht?" Fast schuechtern klang diese Frage und zoegernd brachte sie dieselbe hervor. "Es ist das erstemal, dass ich ihr nicht nachgab!" stiess er erregt heraus. "Darf sie deshalb einen so abenteuerlichen Streich ausfuehren, alle Ruecksichten beiseite werfen und fliehen?" "Nein, das durfte sie gewiss nicht," stimmte ihm Frau Anne bei, "und doch," fuhr sie fort, "ich habe es kommen sehen, dass sie eines Tages etwas tun wuerde, das uns allen grossen Kummer zu bereiten imstande waere. Ich liebe meine kleine Tochter innig, und auch sie ist mir von Herzen zugetan. Aber blind bin ich deshalb gegen ihre Schwaechen und Fehler nicht, wie der Papa und - verzeihe mir - begreiflicherweise auch du. Ilse ist schon einmal gezaehmt worden durch die Pension und das reizende Leben daselbst; ihre praechtigen Freundinnen hatten sie ganz und gar umgewandelt. Halb Kind noch, wurde sie Braut, sie liebt dich gewiss aufrichtig, aber die tiefe ernste Liebe des Weibes ist ihrem Kinderherzen noch fremd. Hast du wohl den richtigen Weg eingeschlagen, dir ihre Nachgiebigkeit, ihre Fuegsamkeit zu erringen? Ich habe mich bemueht, in ihrem jungen Herzen zu lesen, und bin ueberzeugt, es waere ihr lieber gewesen, wenn du ihr oefter entschieden entgegengetreten waerst, statt ihre Einfaelle, ihre Launen reizend zu finden; denn sie ist eine stolze und doch zugleich hingebende Natur, die nur nicht zeigen will, dass sie sich auch unterzuordnen vermag, aber ebensowenig vertragen kann, dass man ihr in allem den Willen laesst. Nun, da du ihr zum erstenmal nicht nachgibst, empfindet sie das doppelt schroff und wird es als eine grosse Demuetigung ansehen. Aber jetzt, da sie weiss, dass ihr Wille nicht immer durchgeht, wird ihre Liebe zu dir, ohne dass sie es eingesteht, gewiss erstarken. Ich hoffe, sie wird nach und nach zur Besinnung kommen, dass sie unrecht hatte, und wenn sie diese Krisis ueberstanden hat, fuer immer geheilt sein." Frau Anne hatte mit warmem herzlichen Eifer gesprochen und reichte nun ihrem Schwiegersohne die Hand, welcher diese innig umschloss. "Ich weiss," fuhr sie fort, "du wirst das, was ich dir eben sagte, nicht falsch verstehen. Ich haette dir meine Ansicht nicht unaufgefordert mitgeteilt, waere nicht alles so gekommen. Wie lieb ich euch beide habe und wie vertrauensvoll ich trotz dieses Vorfalls in eure Zukunft blicke, das brauche ich dir nicht erst zu sagen, nicht wahr? - Gute Nacht, Leo," schloss sie und erhob sich von ihrem Sitz. "Schlafe wohl, morgen wirst du die Sache schon in einem andern Lichte ansehen." "Gute Nacht, Mama, ich danke dir." Die Nachtruhe war fuer alle dahin, zu sehr hatte die Bestuerzung die Gemueter aufgeregt. - Leo blieb noch auf demselben Fleck sitzen, es waere ihm unmoeglich gewesen, jetzt schon zu schlafen. Noch pochte sein Herz zu unruhig, noch stuermten die Gedanken zu lebhaft auf ihn ein. Frau Annes Worte hallten in ihm nach, sie hatten einen Anklang in seinem Innern gefunden, denn sie hatte wahr gesprochen. Warum musste es so weit kommen? Haette er die Tragweite seiner Worte geahnt, er wuerde sie vielleicht nicht ausgesprochen haben. Nochmals liess er die Szene vom Mittag an seinem Geist vorueberziehen. Er war zuletzt auch heftig geworden - gewiss -, aber er hatte sich in dem Augenblick wirklich ueber Ilse geaergert, zum erstenmal hatte ihn ihr unfuegsames Wesen unangenehm beruehrt. Was sollte nun werden? Der Gedanke an die Zukunft legte sich ihm drueckend und beaengstigend wie ein Bann aufs Herz, dass ihm fast der Atem stockte. Erst als er das Fenster geoeffnet hatte und die kuehle Nachtluft hereindrang, wurde ihm wohler. Lange blickte er in die zerrissenen Wolken, die eilend vorueberjagten. Ob sie jetzt auch an ihn dachte? Er sah im Geiste ihr liebes holdes Antlitz. Er hoerte ihr froehliches Lachen und ihre dunklen Augen blitzten ihn neckisch an, - da schwanden die bangen Gedanken. Heisse Liebe und Sehnsucht erfuellten ihn, und er zweifelte keinen Augenblick mehr, dass sie zu ihm zurueckkehren wuerde. Aber unerschuetterlich befestigte sich in diesem Augenblick die Ueberzeugung in ihm, dass er ihr diesmal nicht zuerst die Hand zur Versoehnung reichen duerfe. Die grosse Lampe in dem stillen Zimmer, die schon seit einiger Zeit am Ausgehen war und deren Licht immer schwaecher und kleiner wurde, erlosch jetzt nach einem letzten Aufflackern. Leo erhob sich und ging in sein Zimmer. * * * Ilse wachte am andern Morgen erst auf, als die Sonne das kleine Zimmer schon laengst erhellte. Sie fuehlte sich durch den guten Schlaf erquickt und erfrischt und war im ersten Augenblick des Erwachens noch so traumbefangen, dass sie sich erst besinnen musste, wo sie sich eigentlich befand. Nach und nach kam ihr das Geschehene wieder deutlich zum Bewusstsein, klarer als am Tage zuvor. Ihre gestrige Aufregung war einer unangenehmen Empfindung gewichen. Reue und Beschaemung beschlichen sie, und der Gedanke, was ihre Eltern zu der Flucht gesagt haben mochten, beunruhigte sie aufs hoechste. Auch an Leo dachte sie, aber nicht etwa, ob er wohl betruebt sein wuerde, sondern voll heimlichen Triumphgefuehls. Sie erschien sich ihm gegenueber als siegreiche Heldin, denn sie hatte eine Tat ausgefuehrt, die er ihr gewiss nicht zugetraut hatte. Womoeglich langte schon heute ein um Verzeihung flehender Brief von ihm an, und gewiss wuerde er selbst mit dem Papa kommen, um sie zurueckzuholen. So blind gefangen war unsre Ilse, so fest glaubte sie Leo durch ihre Heldentat einen gewaltigen Respekt eingefloesst zu haben! Die Erwartung auf eine Nachricht von Hause trieb sie aus dem Bette. Sie zog die hellgebluemten Gardinen zurueck und oeffnete das Fenster. Man merkte heute nichts mehr von dem gestrigen Unwetter, kein Woelkchen truebte den Himmel, der Ilse tiefblau entgegenlachte. Goldener Sonnenschein breitete sich ueber die kahlen Gaerten und lag blendend auf den hellen Haeuserwaenden. Ueberall hatten die Leute Tueren und Fenster geoeffnet, dass die frische Herbstluft in vollen Stroemen hereindringen konnte. So hatte Ilse gestern frueh daheim auch am Fenster gestanden und sich ueber den klaren Herbstmorgen gefreut. Wenn sie da geahnt haette, welches Ungemach ihr der Tag noch bringen wuerde! Was hatte sie durchmachen muessen! Es war zu schrecklich. [Illustration] Sie fuhr sich mit der Hand ueber die Augen, die wieder feucht wurden, aber die hervorquellenden Traenen wurden tapfer zurueckgedraengt. Nellie und ihr Mann sollten nicht sehen, dass sie geweint hatte, sie wuerden sonst wohl denken, dass sie Reue fuehlte, was ja so viel bedeutete, als ihr Unrecht eingestehen. Vor Doktor Althoffs pruefenden und ironischen Blicken hatte sie Furcht, sie kannte diese noch zu gut von der Schule her. Er konnte so freundlich laecheln mit spottlustigen Augen; kein Tadel, nicht die schaerfste Ruege traf so sicher, als ein solcher Blick von ihm. Durch ein Pochen an der Tuer wurde sie in ihren Betrachtungen gestoert, gleich darauf wurde dieselbe leise geoeffnet, und Nellies Gesicht kam zum Vorschein. "Schon wach, lieb Ilschen?" rief sie freundlich und begruesste die Freundin mit einem herzlichen Morgenkuss. "Wie hast du geschlafen, _darling_? Ich hoffe, du hast eine gute Nacht gehabt." "Herrlich habe ich geschlafen, liebste Nellie; was ich aber getraeumt habe, weiss ich wirklich nicht mehr." "Kann ich dich bei dein Ankleiden helfen, Kindchen?" fragte Nellie, als sie sah, dass Ilse sich jetzt beeilte, in ihre Kleider zu kommen. Die Toilette war bald beendet, und von den beiden hatte keine das Thema beruehrt, das doch am naechsten lag und sie so lebhaft beschaeftigte. Erst als Ilse Arm in Arm mit Nellie vor dem Esszimmer stand, fragte sie zoegernd: "Nellie, ist dein Mann da?" "Gewiss, Ilschen, und er freut sich riesig, sein frueheres furchtbar niedliches Schuelerin wieder zu sehen." "Hast du ihm meine Flucht eingestanden, Nellie?" fragte Ilse aengstlich. Die junge Frau zoegerte mit der Antwort. Sie hatte gestern abend allerdings versprochen, Fred nichts davon zu sagen, aber nur um Ilse nicht weiter aufzuregen; doch jetzt wollte sie die Wahrheit nicht verschweigen - so leid es ihr tat! "Lieb Ilschen," sagte sie innig, "ich konnte nicht anders, ich wollte mein Fred nichts vorluegen. Bist du mir boese?" "Nein, nein," versicherte Ilse, "aber ach, Nellie, was wird dein Mann von mir denken?" "O, Ilschen, er denkt nur Gutes von dich - aber nun komm -" Und um Ilse ueber die peinliche Lage hinwegzuhelfen, oeffnete sie schnell die Tuere und schob die sich Straeubende hinein. Doktor Althoff kam ihr entgegen. "Guten Morgen, Fraeulein Ilse, wie freue ich mich, Sie zu sehen," rief er freundlich und reichte ihr die Hand zum Grusse. Mit niedergeschlagenen Augen gab sie ihm ihre Rechte, aber kein Wort kam ueber ihre Lippen, und vor Verlegenheit wagte sie nicht aufzublicken. Nellie war auch hier der rettende Engel. Sie fuehrte Ilse an den gedeckten Kaffeetisch und schob ihr einen Stuhl hin; dann schenkte sie Kaffee ein und reichte ihrem Mann und Ilse die Tassen. Ihr tat die Freundin leid, welche wortlos dasass und krampfhaft auf das Muster der Kaffeeserviette sah, als haette sie sich tief in das Studium der Schnoerkel und Arabesken in derselben versenkt. Die Roete der Beschaemung brannte noch auf ihren Wangen, und vergeblich hatte Nellie sie verschiedenemale angeredet. Jetzt warf diese ihrem Manne verstaendnisvolle Blicke zu, die ihm bedeuteten, er solle dieser ungemuetlichen Stimmung ein Ende machen. Aber Maenner sind nicht so leicht jeder Lage gewachsen, wie eine kluge Frau, und das dachte auch Nellie, als ihr Mann sie gar nicht verstand. Ja, er hatte sie sogar mit den Fragen: "Was soll ich, Kind?" und als sie ihn mit dem Fusse anstiess: "warum stoessest du mich denn?" recht in Verlegenheit gesetzt. Sie versuchte deshalb von neuem das Schweigen zu brechen, was ihr bisher nicht gelungen war. Zum zweitenmale fuellte sie jetzt Ilses Tasse und reichte ihr Zucker und Sahne. Sie wollte dabei ein Gespraech anfangen, aber ihre Scherze blieben unbeachtet und auf ihre freundlichen Fragen bekam sie einsilbige Antworten. Ilse vermochte die Furcht vor Doktor Althoffs ironischen Augen, die sie wie zwei Brennpunkte auf sich gerichtet waehnte, nicht zu ueberwinden. Sie konnte ja nicht wissen, dass sie sich taeuschte, dass seine gefuerchteten Blicke diesmal nicht spoettischer Art waren. Ernst und voller Mitleid sah er auf seine ehemalige Schuelerin, - kannte er sie doch so genau, alle ihre Vorzuege, alle ihre Schwaechen. Viel, viel muss die Kleine noch lernen, so dachte er in diesem Augenblick, und bittere Stunden wird sie das noch kosten. Nicht jeder wurde schon so fruehzeitig durch eine harte Schule gelaeutert, wie seine Nellie sie hatte durchmachen muessen. Diese hatte ja das Leben schon als Kind unter fremde Menschen gebracht; dadurch war ihre Erfahrung gereift worden, und sie hatte gelernt, Ruecksichten zu nehmen. Zaertlich blickte er zu ihr hinueber und beobachtete mit strahlenden Augen, mit welcher Anmut sie sich bewegte und wie sie verstand, einen Hauch der Behaglichkeit ueberall zu verbreiten. So sassen die drei wieder eine Weile schweigend am Kaffeetisch, jeder lebhaft mit seinen Gedanken beschaeftigt. "Ilschen," fing Nellie endlich an, "weisst du auch wohl, dass du hier eine alte Bekannte triffst, die seit weniges Monate mit ihrem Mann hierher versetzt ist? Ich hatte ganz vergessen, in meinem letzten Brief davon zu sprechen. Rate einmal, _darling_!" Die Frage wirkte erloesend auf Ilses Schweigsamkeit, sie hob den Kopf und sah Nellie fragend an. "Rate, Ilschen," wiederholte diese. "Wer denn, Nellie? Etwa Rosi Mueller? Die artige Pastorin ist ja aber schon seit dem Sommer hier in der Naehe verheiratet, die kannst du doch wohl nicht meinen." Nellie schuettelte lachend den Kopf; sie war froh, ein Thema beruehrt zu haben, das Ilse interessierte. "Ein wenig muss ich dir noch foltern," neckte sie lustig, "aber du raetst ja leicht, denn nur wenige von unsre Freundinnen sind verheiratet." "Ach, nun weiss ich," rief Ilse, "natuerlich Flora ist es! Ich dachte im Augenblick wirklich nicht an sie. Richtig, die ist ja auch schon eine ehrbare Ehefrau!" "O, nix da, Ilse - ein ehrbares Frau ist unsre Dichterin nicht geworden." "Wie kommt sie denn eigentlich hierher?" unterbrach Ilse, "ihr Mann lebte doch auch in B., wo Floras Eltern wohnen." "Lass dich erzaehlen, _darling_. Du weisst, dass Floras Mann ein Arzt ist, er ist nun als Direktor an das Spital hier berufen - eine sehr gute Stelle, mit gute Einnahmen. Er soll ein tuechtiger Mann sein, wir moegen ihn gern, er ist so nett. Nicht wahr, Fred? Und, oh, er hat ein so herzig Baby von 4 Jahr - denn Flora ist seine zweite Frau." "Ja," warf Althoff ein, "Doktor Gerber ist ein liebenswuerdiger, gescheiter Mann, sein einziger Fehler ist seine Frau. Fuer diese poetische Seele ist er viel zu prosaisch, zu materiell! Die arme Flora ist noch ebenso ueberspannt wie frueher, sie dichtet leider immer noch." Ilse wagte bei diesen Worten Nellies Mann zum ersten Male mit einem scheuen Seitenblick zu streifen, bis dahin hatte sie es noch immer vermieden, ihn anzusehen. Nun fand sie, dass der Gefuerchtete garnicht so aussah, wie ihr boeses Gewissen sich ihn ausmalte. Seine Augen hatten nicht den von ihr vermuteten spottlustigen Ausdruck, und das freundliche Laecheln, mit welchem er sie anblickte, als wenn nichts vorgefallen waere, verscheuchte bald jede Befangenheit, so dass sie nun in die Scherze des jungen Ehepaares mit einstimmte, und mit Nellie immer neue Erinnerungen ueber Flora auskramte. Laechelnd hoerte ihnen Doktor Althoff zu und warf nur dann und wann eine treffende Bemerkung dazwischen. Die beiden waren unerschoepflich in ihren Witzen ueber Flora, und die eine wusste immer noch mehr als die andre. "O, und die viele zerbrochene Herzen, die in ihre Romane stets vorkamen, _darling_, weisst du noch?" fragte Nellie. "Und wie wir sie immer mit ihre Gedichte aergerten?" "Ach ja, das war himmlisch!" beteuerte Ilse unter Lachen, "und wie boese sie dann wurde und schalt, dass wir fuer ihre Poesien kein Verstaendnis haetten." "Ihr seid ein boeses Volk," sagte Doktor Althoff, "wie koennt ihr euch nur so ueber eure Freundin lustig machen?" "O, du scheinheiliges Mann," drohte ihm Nellie mit dem Finger, "hast doch die groesste Spass an unsre Scherze. Weisst du, Ilschen, bald gehen wir zu der Dichterin, das gibt ein famose Jux! Sie muss uns aus ihre neuesten Werke vorlesen." "Das wird sie gern tun," sagte er, "denn ihrem Mann darf sie gewiss mit solchem Unsinn nicht kommen. Er ist viel zu vernuenftig, und ich hoffe ja immer noch, dass er Flora aendern wird." "Das grosse Gegenteil von unsre Dichterin ist Rosi, das wuerdige Pastorenfrau," sagte Nellie mit feierlicher Stimme. "O, Ilse, einmal haben wir ihr besucht, o, sie ist so brav und zuechtig, noch ganz die 'Artige' aus die Pension. Und der Mann ist so still und sanft, er traegt eine lange Rock, bis ueber den Knie, und eine hohe Kragen, dazu eine grosse Brille und hat eine glatte Scheitel von blondes Haar, ganz zu die brave Rosi passend, - sie sind ein wuerdige Ehepaar." Ilse brach ueber die Beschreibung in lautes Lachen aus, und Nellie stimmte mit ein. Auch Doktor Althoff freute sich ueber seine drollige Frau. "Du bist eine kleine Boshafte," sagte er zu ihr. "Ueberhaupt, Kinder, ihr seid mir zu mokant, das kann ich nicht vertragen, deshalb gehe ich fort. Adieu!" Er legte die Serviette neben die Tasse und erhob sich mit scheinbar ernster Miene, sodass Ilse ganz erschrocken zu ihm aufblickte. Waren sie wirklich zu weit gegangen? Als sie aber seine lustig zwinkernden Augen sah und Nellie mit froehlichem Lachen ihn umschlang, da wusste sie, dass er nur Spass machte. Als er fortgegangen war und die beiden allein gelassen hatte, da war Ilses erste hastige Frage: "Nellie, ist denn nichts fuer mich angekommen, kein Brief, keine Depesche?" "Ja, Ilschen, hier ist eine Depesche von deine Eltern, sie ist eben angekommen." Ilse riss sie ihr aus der Hand und oeffnete sie, dann las sie laut: "Ilse soll Brief abwarten. Papa." Das waren nur wenige Worte, die ihre Ungeduld nicht stillen konnten. Ja, sie brachten sie nur noch mehr in Aufregung, denn alles moegliche las sie aus der kurzen Zeile heraus. Wie ernste strenge Richter standen die einzelnen Buchstaben vor ihren Augen. Hart klang der Befehl, den sie enthielten; daraus schloss sie, wie boese ihre Eltern auf sie sein mussten. "Nellie," seufzte sie aengstlich, "was werden die Eltern von mir denken? Sie sind gewiss furchtbar boese." "Du musst ihnen gleich schreiben," sagte Nellie. "Erst will ich ihren Brief abwarten; ach, wenn er doch erst da waere!" Nellie nickte beistimmend und meinte, so waere es auch wohl am besten. "Komm, wir wollen in meine Stube gehen, _darling_," sagte sie und oeffnete die Tuere, die in ihr Allerheiligstes fuehrte, das zwischen dem Esszimmer und ihres Mannes Zimmer an der Eckwand des Hauses lag. Ein kleiner nach aussen vorspringender Erker verlieh dem Raum eine anheimelnde Gemuetlichkeit. Nellie hatte ihn dicht mit Blattpflanzen besetzt, davor zwei kleine Sessel aus Bambusrohr nebst einem ebensolchen winzigen runden Tischchen gestellt und dadurch ein lauschiges, reizendes Plaudereckchen hergerichtet. Hierhin noetigte sie jetzt Ilse, die sich rings im Zimmer umsah. "Es ist entzueckend bei dir," versicherte sie wieder, und trotzdem Nellie bescheiden abwehrte, freute sie sich doch ueber das ihr gespendete Lob. "Fred macht es so viel Freude, wenn die Wohnung huebsch ist, da macht es mich auch Spass," und dabei fuhr sie liebkosend ueber die spiegelblanke Platte ihres zierlichen Schreibtisches und rueckte an den Figuerchen und Nippes, die darauf standen. "Die vielen reizenden Sachen, die du hast, Nellie!" "Die schenkt mich alle mein Fred. Er ist so gut zu mir, unbeschreiblich lieb; o Ilschen, was bin ich fuer ein glueckliches Frau. Ich denke nur immer daran, ob er mit mir auch so gluecklich ist." Eine so dankbare uneigennuetzige Liebe leuchtete aus ihren Augen, dass Ilse beschaemt die ihrigen zu Boden senkte; so wie die Freundin eben sprach, hatte sie noch nie gefuehlt, solche Gedanken waren noch nicht in ihr aufgestiegen. Dies machte sie doch stutzig. Hatte sie eigentlich jemals eine Regung des Dankes fuer alle Liebe und Zaertlichkeit Leos gehabt? Nein, das war ihr nie eingefallen! Und hatte sie sich jemals geprueft, ob auch sie alles tue, ihn gluecklich zu machen? Nein! gestand sie sich wieder. Jetzt tauchten zum ersten Male diese Fragen in ihr auf und regten sie zu ernstlichem Nachdenken an. "Aber Nellie ist eine schwaermerische, hingebende Natur, und das bin ich nicht und will ich auch nicht sein," sagte sie sich schliesslich, und bei diesem Gedanken beruhigte sie sich. Und doch konnte sie die Augen der Freundin nicht vergessen und beneidete sie fast im stillen. "Nellie," fragte sie ploetzlich, "wann kommt denn der naechste Zug von Moosdorf hier an?" "Warum, Ilschen? Glaubst du, deine Eltern kommen dich zu holen? Oder erwartest du deinen Braeutigam?" "Nein, nein, das denke ich nicht, - ich fragte ueberhaupt nur so," sagte Ilse erroetend. Und doch hatte Nellie ihre Gedanken richtig erraten, denn sie erwartete, ja hoffte mit banger Sehnsucht, dass Leo den Tag nicht vergehen lassen wuerde, ohne zu ihr zu eilen. Gewiss hatte er jetzt eingesehen, wie unrecht er ihr tat. Aber wenn er kam, dann wollte sie ihm verzeihen, sie wollte nicht laenger widerspenstig, sondern nachgiebiger sein als sonst. Das alles malte sie sich im Geiste aus und konnte doch eine Sorge, eine unbestimmte Ahnung, dass es vielleicht nicht so kommen wuerde, wie sie sehnlich wuenschte, nicht unterdruecken. Die folgenden Stunden waren nicht die behaglichsten fuer Ilse. Sie war in steter Erwartung, bei jedem Klingeln schreckte sie zusammen. Der Mittagszug war laengst da. Sie hatte waehrend dieser Zeit wie zufaellig am Fenster gesessen und auf die Strasse gesehen. So oft eine Gestalt in der Ferne auftauchte, schlug ihr das Herz, und immer von neuem wurde sie enttaeuscht. Dann ballten sich ihre Haende fest zusammen, und sie musste sich beherrschen, um nicht in lautes Weinen auszubrechen. Nellie und ihr Mann ueberliessen sie sich selbst und ihrer Stimmung. Die beiden, feinfuehlenden Menschen ahnten, was in ihr vorging und sie bewegte. Ilse wurde von den selbstquaelerischsten Gedanken geplagt; sie war heute so viel milder gestimmt als gestern, sie dachte an den geliebten Vater, welche Angst er wohl um sie ausgestanden, an die Mama, wie sie sich um ihr Ausbleiben beunruhigt haben mochte; an aller Sorge der lieben Eltern war sie schuld. Dies innere Gestaendnis machte sie sehr weich, wie die Traenen verrieten, die in hellen Tropfen auf ihre verschlungenen Haende fielen. Der Herbsttag neigte sich bereits seinem Ende zu, die Daemmerung war hereingebrochen - und wieder sass Ilse am Fenster. Ihre Hoffnung, dass Leo noch kommen wuerde, war gesunken, und nur mechanisch sah sie noch auf die Strasse hinunter. Die Gestalten, die jetzt schattenhaft vorueber huschten, verfolgte sie nicht mehr mit ungeduldig klopfendem Herzen, sie war mutlos geworden! Vor ihrer geaengstigten Seele stand Lucies Bild, und wie es sie gestern zur Umkehr bewegen wollte, blickte es sie jetzt mit schmerzlichen Augen an und schien ihr zu sagen: "Er kommt nicht! Du wirst umsonst auf ihn warten." Ihre aufgeregten Nerven liessen ihr diese Worte fortwaehrend in den Ohren klingen. Auf einmal empfand sie die Schwere des unglueckseligen Schrittes, den sie gewagt hatte, und die Angst legte sich gleich einem Alp auf ihr Herz. Wie eine Erloesung wirkte es daher jetzt auf sie, als zwei Arme sie zaertlich umschlangen und Nellies Koepfchen sich an ihre heisse Wange legte. Es war ihr, als wuerde sie aus einem haesslichen Traum aufgeweckt, und erleichtert holte sie Atem. "_Darling_," sagte Nellie, "ich habe eine Nachricht von deine liebe Mama." Ilse fuhr in die Hoehe. "Wo hast du den Brief, bitte, gib ihn mir," flehte sie foermlich und sah suchend nach Nellies Haenden. "Warte nur, Kindchen, ich gebe ihn dir schon; aber erst muss ich mit dir sprechen; deine gute Mama schreibt so reizend. Sehr aufgeregt waren deine Eltern ueber deine Flucht, aber sie haben dir verziehen, und du darfst nun fuer einige Zeit bei mich bleiben; o, wie freue ich mir!" Ilse horchte gespannt. "Was steht sonst noch im Briefe?" fragte sie hastig. "Was hat Papa gesagt?" "Dein Papa wird dir schreiben, wenn ein Brief von dich angekommen ist. O, dein Vater ist ein so lieber Herr, er zuernt nicht mehr mit dir," versicherte Nellie treuherzig. "Hier lies ihn selbst, das Brief, was sonst noch darin steht," sagte sie und reichte ihn Ilse hin, die ihn mit zitternden Haenden aus dem Kuvert nahm. Hastig faltete sie die engbeschriebenen Blaetter auseinander, suchend ueberflogen ihre Augen Zeile auf Zeile, und eine schmerzliche Enttaeuschung malte sich in ihren Zuegen, als sie fertig gelesen hatte. Schweigend legte sie den Brief wieder zusammen und gab ihn Nellie zurueck. "Nun, Kindchen," sagte die junge Frau, "freust du dich nicht ueber den lieben Brief von deine Mama? Wie muessen dir deine Eltern lieb haben! Wie schoen, dass du bei uns bist! Bleibst du auch gern hier?" Ilse nickte. "Sehr gern, Nellie, und ich weiss auch," fuhr sie mit erregter Stimme fort, "dass mich meine Eltern lieben, sehr lieben, mehr wie irgend jemand auf der Welt. Ich will deshalb auch immer bei ihnen bleiben und sie nie verlassen!" "O, Kind -," sagte Nellie vorwurfsvoll; aber Ilse unterbrach sie. "Ja das will ich, das will ich bestimmt, denn er ist ja doch nur froh, wenn er mich los ist!" rief sie laut und warf mit bitterem Lachen den Kopf zurueck. Nellie sah die Freundin erschrocken an, und zurechtweisende Worte draengten sich auf ihre Lippen. Aber sie sagte nichts, ihr mitleidiges Herz hielt sie zurueck, als sie sah, wie aufgeregt Ilse war, und dass sie nur mit Muehe einen leidenschaftlichen Ausbruch zurueckhielt. "O, _darling_, ich kenne dich nicht wieder," sagte sie leise und sah ihr traurig in die Augen. Da loeste sich die Spannung von Ilses Gemuet, sie legte beide Haende vor das Gesicht und brach in heftiges Weinen aus. "Was hast du, Herz? Sprich doch," bat Nellie, "vertraue mich, ich bin doch deine geliebte Freundin und verrate dich nicht. Sprich dir aus, Ilschen, mach dein kleine Herz leichter! Oder darf ich dir sagen, warum du so weinst? Ist es, weil dein Braeutigam nicht schrieb oder nicht kam, seine Schatz wieder zu holen? Ist es nicht dies Kummer, was deine Seele drueckt? Gestehe es mich doch." Zaertlich und einschmeichelnd klang ihre Bitte, und Ilse wurde dadurch bezwungen. Sie nickte und lehnte sich an Nellies Schulter, indem sie leise fortweinte. "Siehst du, ich dachte es mich wohl, _darling_, aber nun hoere mich an. Ich bin dein vernuenftige alte Freundin und muss dir ein paar ernste Worte einreden. Du kennst noch nicht die Maenner, du lernst sie erst verstehen, wenn du deines Leo kleine Frau bist. Er ist viel zu nachgebend gegen dich; aber wenn ihr verheiratet seid, wird er nicht immer tun, was lieb Ilschen will. Das wird im Anfang viel Streitigkeit geben, denn die Maenner wollen haben, dass wir uns in sie fuegen, weil sie die Herren der Schoepfung sind. O du, du wirst lernen, wie schoen das ist; denn haben wir uns einiges Mal gefuegt, so koennen wir das liebe Mann um den kleinen Finger wickeln, und er merkt es nicht! Darum lieb' Schatz, sei nicht hartnaeckig. Du musst dein Leo schreiben und ihn bitten, dass er dich verzeiht." Bis dahin hatte Ilse ruhig zugehoert; nun brauste sie auf, und ihre Augen funkelten, als sie hochaufgerichtet vor Nellie stand. "Um Verzeihung bitten?" rief sie spoettisch. "Nellie, du kennst mich schlecht! Ihn um Verzeihung bitten, nein, dazu bin ich zu stolz. Nellie, so weit erniedrige ich mich nicht, nie und nimmer!" Sie betonte die letzten Worte nachdruecklich und fuhr leidenschaftlich mit dem Taschentuch ueber ihre Augen, die noch von den eben vergossenen Traenen feucht glaenzten, als wolle sie damit ausdruecken: "er ist es nicht wert, dass ich seinetwegen Traenen vergiesse." Nellie sah sie angstvoll an, sie begriff die Freundin nicht. "O Ilse," sagte sie, "wie kannst du so sprechen? Es ist grosse Unrecht von dich. Wie hast du mich selbst so oft geschrieben, wie treu und gut dein Leo ist, wie lieb -" "Ich bitte dich," fiel ihr Ilse ins Wort und erhob flehend ihre Haende; "lass uns ueber diese Geschichte schweigen. Ich sehe ja, du bist auch auf seiner Seite. Ich natuerlich, nur ich habe schuld! Ich soll mir alles gefallen lassen von ihm, so denkst auch du, Nellie; aber deshalb demuetige ich mich doch nicht vor ihm!" Nellie schwieg. Sie merkte, dass jetzt keines ihrer gutgemeinten Worte etwas fruchten, ja, dass ihr Zureden Ilses Trotz nur verschlimmern koennte. Aber sie wuenschte in diesem Augenblick sehnsuechtig, dass bald die Zeit kommen moechte, die Ilse bekehren und aendern wuerde. Das schrieb sie auch an Frau Anne und versprach ihr, allen Einfluss aufzubieten, der ihr zu Gebote staende; vorlaeufig aber muesse man den geliebten Trotzkopf ganz in Ruhe lassen. Am andern Morgen sass Ilse eifrig schreibend in ihrem Stuebchen, als Nellie hereintrat. "Ich schreibe an die Eltern," sagte sie erroetend und kam mit diesen Worten einer Frage Nellies zuvor. Dann sprang sie auf und ergriff Nellies Haende. "Wollt ihr mich denn auch wirklich fuer einige Zeit behalten, bin ich euch nicht zur Last, und ist es auch deinem Manne recht und hast du mich auch noch ebenso lieb wie frueher, Nellie?" So liess sie in ihrer lebhaften Weise die Fragen durcheinanderschwirren. Die junge Frau zog sie an sich. "O, _darling_, wie kannst du so fragen? Wenn es dich verwoehnte Schosskind nur bei uns einfache Leute gefaellt, so werden wir froh sein. Wie freue ich mir auf dein Aufenthalt! Wir wollen eine vergnuegte Zeit durchleben," rief sie jubelnd. In diesen Jubel stimmte Ilse nicht mit ein, sondern blickte gedankenvoll vor sich hin. Sie wollte Leo zeigen, dass sie fest bleiben koenne; dieser Entschluss vollzog sich jetzt in ihrem Innern und verlieh ihren Zuegen einen trotzigen Ernst. Der Brief an die Eltern war abgeschickt, und Ilse war sicher, dass er sie wieder ganz versoehnen wuerde. Sie hatte dieselben herzlich um Verzeihung gebeten, aber zugleich die instaendige Bitte ausgesprochen, nicht nach dem Grunde ihrer Flucht zu forschen. In den naechsten Tagen traf ein grosser Koffer mit Sachen fuer sie ein, worin ein langer zaertlicher Brief von ihrem Papa lag. Kein Tadel, kein Vorwurf enthielt derselbe; die sorgende Liebe, die aus jeder Zeile sprach, beschaemte sie tief. Hatte sie dieselbe wohl verdient? Am Schlusse des Briefes schrieb der Papa: "Amuesiere dich nur recht gut bei deiner Nellie, liebes Kind, sei heiter und vergnuegt, aber bleibe nicht zu lange fort und vergiss nicht deinen alten Vater!" Diese Worte ruehrten sie sehr. Nein, gewiss! Vergessen wuerde sie ihren einzigen guten Herzenspapa nicht. Leo wurde von ihm mit keiner Silbe erwaehnt, und auch als ihr der andre Tag einen Brief von Frau Anne brachte, war sie enttaeuscht, denn derselbe bewahrte ebenfalls tiefes Stillschweigen ueber ihn. Von allem erzaehlten die Eltern ausfuehrlich, aber ueber Leo schwiegen sie beharrlich. Sie wussten gewiss, was zwischen ihnen vorgefallen war, und glaubten wohl, es wuerde ihr peinlich sein, wenn sie diesen Punkt beruehrten. Viel lieber waere es ihr gewesen, von ihnen darueber zu hoeren, denn sie haette gern gewusst, wie Leo die Entdeckung ihrer Flucht aufgenommen hatte; aber dennoch wollte sie um keinen Preis die Eltern danach fragen. Sie nahm sich fest vor, nicht mehr daran zu denken, ob ihr Leo schreiben wuerde oder selbst kaeme, um sie zu holen. In ihrem Herzen freilich lebte die sehnsuechtige Hoffnung nach einem Lebenszeichen von ihm fort und liess sich durch alle ihre Vorsaetze nicht zurueckdraengen. Ohne dass sie es sich gestand, wuchs ihre Ungeduld von Tag zu Tag, und sie war schliesslich in einer fieberhaften Aufregung. So oft der Brieftraeger kam, zitterte sie vor banger Erwartung, jedes Klingeln an der Tuere liess sie zusammenschrecken. Den Eltern schrieb sie eifrig, fast taeglich, und erhielt ebenso regelmaessige Antworten. Wenn ein Brief von daheim ankam, ging sie schnell auf ihr Zimmer, riegelte die Tuer zu und erbrach ihn mit zitternden Fingern. Sie durchflog die Seiten und wurde immer von neuem enttaeuscht. Dann stuerzten ihr oft heisse Traenen aus den Augen, und sie knitterte zornig das unschuldige Papier zusammen. So schwanden ihr die Tage unter Zweifel und Ungewissheit dahin, und sie litt schwer darunter. Nellie war ihr eine treue Freundin voll zarter Aufmerksamkeit. Aber auch sie beruehrte nicht mehr das peinliche Thema. "Es ist besser, du schweigst," hatte ihr Mann gesagt, als sie wieder einmal versuchen wollte, ob sie Ilse bewegen koenne, an ihren Braeutigam zu schreiben. Sie wusste von Ilses Mutter, dass Leo, empoert und zugleich betruebt ueber die Tat seiner Braut, ihr auf keinen Fall schreiben oder gar selbst kommen wuerde. Aber sie brachte es nicht uebers Herz, Ilse das zu sagen. Sie fuerchtete einen neuen leidenschaftlichen Ausbruch und glaubte Ilses Widerstand dadurch nur noch groesser zu machen. "Armes _darling_, wie tust du mich leid," sagte sie oft leise, wenn sie in dem blassen Gesichte der Freundin deren heimliche Kaempfe las, und sie fuehlte mit ihr, wie sie litt. Zwei Wochen waren fuer Ilse in Hangen und Bangen verstrichen. Sie hatte sich bei ihren liebenswuerdigen Freunden vollstaendig eingelebt, und Nellie hatte es verstanden, sie bisweilen etwas aufzuheitern. Aber dann konnte sie auch wieder lange schweigend vor sich hinstarren, und die trotzig aufgeworfene Oberlippe liess erraten, woran sie dachte. "Ich muss ihr etwas zerstreuen," sagte Nellie zu ihrem Mann. "Sie ist so blass und hat schwarze Ringels unter den Augen; sie darf nicht mehr so viel an der Sache denken. Sie ist eine kleine Widerspenstige, und ihr kuenftiger Mann muss ihr sehr heilen, bis sie eine so sanfte Weibchen wird, wie ich es bin," fuegte sie mit einem schalkhaften Blick hinzu. "Ja," lachte Althoff, "wenn man einen so guten Mann hat, wie ich es bin, der zu allem 'Ja' und 'Amen' sagt, dann ist es leicht, sanft zu sein." "O, du," drohte Nellie scherzend mit dem Finger, aber er schloss ihr den Mund mit einem Kusse. "Heute muessen wir einige Visiten machen," sagte Nellie eines Tages zu Ilse. "Die Leute betrachten dir schon wie eine verwunschene Prinzessin, weil ich dich nirgends zeige. Und Florchen, wie wird sie grimmig sein, wenn sie hoert, dass du bist schon lange bei mich und hast ihr noch nicht ins 'eigene Heim' besucht. Das ist naemlich ihr Lieblingsausdruck." Ilse zeigte wenig Lust fuer diese Besuche, liess sich endlich aber doch dazu bewegen. Seit dem Abend ihrer Ankunft war sie nur einige Male in der Daemmerung mit Althoffs spazieren gegangen, heute sah sie die kleine Stadt zum ersten Male im hellen Tageslicht. Mancher neugierige Blick folgte den beiden. Frau Doktor Althoff hatte Besuch, und davon wusste man nichts? Das war doch unerhoert! Wer mochte denn die junge Dame sein? Frau Doktor Althoff hatte ja gar nicht erwaehnt, dass sie Besuch bekaeme, warum hatte sie das verschwiegen? So zerbrachen sich Nellies Bekannte, die ihnen begegneten, den Kopf. In der breiten Hauptstrasse vor einem huebschen Hause machte Nellie Halt. "Hier wohnt die Dichterin Frau Doktor Flora Gerber, in dies Haus, eine Treppe hoch," sagte sie und oeffnete die Haustuere. Als sie oben angekommen waren, fluesterte sie Ilse zu: "Ilschen, wenn dir das neugierige Flora nach alles fragt, nach dein Hiersein, dein Verlobten, lass mir nur machen, ich geb' ihr Antwort." Wie ein Stein fiel es Ilse bei diesen Worten vom Herzen, denn heimlich hatte sie schon ueberlegt, ob sie Floras Fragen ausweichen oder sie beantworten sollte. Sie drueckte Nellie mit einem dankbaren Blicke die Hand. Auf Nellies zweimaliges Schellen wurde die Tuere von einem wenig sauberen Maedchen geoeffnet. "Sind die Herrschaften zu sprechen?" fragte Nellie. "Der Herr Doktor sind nicht zu Hause," stotterte das Maedchen verlegen, "aber ich will mal nachsehen -" Ohne den Satz zu beenden, verschwand sie eiligst hinter der Tuere. Nach einem Weilchen erschien sie wieder, riss die gegenueberliegende Stubentuere weit auf und meldete lakonisch: "Da sollen Se rein gehen." Flora war nicht im Zimmer, und Ilse hatte Musse, sich gruendlich darin umzusehen. Sie bedurfte uebrigens nur weniger Blicke, um einen deutlichen Eindruck zu gewinnen. Wie viel vermisste hier ihr stark ausgepraegter Schoenheitssinn! Traulich, harmonisch, geschmackvoll war es bei Nellie, ungemuetlich, geschmacklos, ein wirres Durcheinander bei Flora! Die Moebel, gut und neu, entbehrten jeder Pflege, das sah man ihnen nur zu deutlich an, denn eine graue Staubdecke lag darauf. Die Bilder an den Waenden hingen schief, die Pflanzen am Fenster und im Blumentisch liessen durstig die Koepfe haengen, und die gelben vertrockneten Blaetter an den Stengeln gaben ihnen ein traurig verkommenes Aussehen. Ilse, die eine grosse Blumenfreundin war, betrachtete sich die Aermsten mitleidig und sah sich unwillkuerlich nach einer Giesskanne um, ohne jedoch eine solche entdecken zu koennen. Auf dem Tisch vor dem Sofa, ueber den eine blaue Samtdecke gebreitet war, welche schief herabhing, lagen eine Menge Buecher, zum Teil aufgeschlagen, mit Flecken und umgebogenen Ecken, dazwischen Visitenkarten, Briefe, lose Blaetter in einem wahren Chaos zusammen. "Nellie, sieh nur," rief Ilse halblaut und zeigte mit der Hand auf diesen Wirrwar, "das nennt Flora gewiss 'malerisch'." "O, stoere mir nicht in mein heiliges Andacht," gab Nellie zur Antwort, und als sich Ilse bei diesen mit Pathos gesprochenen Worten umwandte, sah sie Nellie mit gefalteten Haenden vor einem Schreibtisch stehen, der seinen Platz am Fenster hatte. "Hier schafft unser grosse Dichterin, Ilschen. An was fuer ein herrliches Mordgeschicht' mag sie wieder dichten," fuhr sie in demselben feierlichen Tone fort. Ilse hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen, denn Nellie war zu komisch. "Eben hat Florchen dieses Platz verlassen, wir haben ihr gewiss aus ihre schoenste Gedanken gescheucht," fing Nellie wieder an. Sie schien mit ihrer Vermutung recht zu haben, denn die Feder glaenzte noch feucht von Tinte, der Stuhl stand jaeh zur Seite geschoben, und einige Blaetter, die an der Erde lagen, waren wohl beim eiligen Aufstehen auf den Boden geflogen. Mit beschriebenen und unbeschriebenen Blaettern war der ganze Schreibtisch bedeckt, kaum dass die Stelle freigeblieben war, wo ein ueber und ueber bespritztes Tintenfass thronte, das nicht aussah wie fuer einen Damenschreibtisch bestimmt. "Sieh hier, _darling_," sagte Nellie leise und zog die noch immer sich verwundert umsehende Freundin mit sich fort, "das ist Florchens Mann." Sie zeigte auf ein Bild, das ueber dem Schreibtisch hing. Ilse trat naeher heran und sah sich den nicht gerade huebschen aber interessanten Maennerkopf mit dem kurz geschorenen Haar und Bart voll Interesse an. Sie war noch in der Betrachtung des Bildes versunken, als sich die Tuere ungestuem oeffnete und Flora auf der Schwelle erschien. Dieselbe fuhr erstaunt zurueck, als sie Ilse gewahrte, deren Besuch sie gar nicht vermutet hatte. [Illustration] "Mein Gott, Ilse, bist du es wirklich, oder ist es dein Geist?" rief sie theatralisch mit weit vorgestreckten Haenden. "Beruhige dich, Flora," antwortete Nellie, "komme zu dich, es ist nicht ihre Geist, es ist die liebe Ilse in wahre Leibhaftigkeit. Sie kam uns auf recht lange Zeit zu besuchen." "Das Maedchen sagte mir, es waere noch eine Dame dabei, aber ich hatte natuerlich keine Ahnung, dass diese Dame Ilse war. Ich dachte, es waere vielleicht Rosi." "Wir wollten dir ueberraschen, Flora," erklaerte Nellie. "Aber nun willkommen, herzlich willkommen im eigenen Heim!" rief Flora und ging mit geoeffneten Armen Ilse entgegen, die kaum das Lachen verbergen konnte, weil Nellie sie bei dem 'eigenen Heim' mit dem Ellbogen angestossen hatte. "Und nun setzt euch, Kinder," sagte Flora, als die Begruessung vorueber war und sie sich von dem Erstaunen ueber Ilses ploetzliches Erscheinen etwas erholt hatte. Sie fuehrte die beiden zum Sofa und liess sich ihnen gegenueber in einen der blauen Plueschsessel fallen, die um den Tisch standen. "Seid nur nicht boese, dass ich noch im tiefsten Negligee erscheine," entschuldigte sie sich und wies auf ihren allerdings recht primitiven Morgenrock. Mit einem schwaermerischen Ausblick fuhr sie fort: "Doch, wenn ich einmal im Schaffensdrang bin, verlaesst mich der Gedanke an die Wirklichkeit vollstaendig. Was liegt auch an dem elenden Putz und Tand! Am liebsten huelle ich mich in eine einfache Kutte, nur um die Zeit zu sparen und mich noch mehr meinen Arbeiten widmen zu koennen." Sie seufzte leise bei diesen Worten. Ilse und Nellie erwiesen ihr nicht den Gefallen, auf ihre Phrase vom Schaffensdrang naeher einzugehen. Nellie schnitt das Thema kurz ab mit der Frage: "Wo ist dein Mann, Flora? Und die kleine Baby?" "Ernst macht Krankenbesuche und kommt erst zu Mittag nach Hause," gab Flora gedehnt zur Antwort, die letzte Frage scheinbar ueberhoerend. "Ach Kinder," fuhr sie fort, "ihr glaubt nicht, wie entsetzlich schwer es ist, die Frau eines Arztes zu sein. An was muss man sich da nicht alles gewoehnen! Der Beruf ist furchtbar prosaisch, entbehrt jeder Poesie. Schon allein die Karbol- und Jodoformgerueche, in welche sich der Arzt huellen muss, - puh, unausstehlich!" Sie schnitt bei dem Gedanken an diese verpoenten Gerueche ein wegwerfendes Gesicht und hielt sich unwillkuerlich ihr stark parfuemiertes Taschentuch unter die Nase. "O, ich finde sie ein sehr schoenes Parfuem, nix rieche ich lieber als Jodoform und Karbol," sagte Nellie ganz ernsthaft. Entsetzt sah Flora sie an. "Pfui, Nellie! das kann dein Ernst nicht sein," rief sie. "Aber freilich, du warst von jeher eine trockene, nuechterne Natur, du haettest eigentlich gut zu Ernst gepasst." "O ja," erwiderte Nellie laechelnd, und aus ihren Gruebchen sah der Schelm hervor, "und ich glaube, du gut zu mein Alfred, weil er hat ein so fein Verstaendnis fuer deine Poesien." Ilse freute sich im geheimen ueber Nellies Schlagfertigkeit, aber ueber Floras Gesicht ergoss sich eine brennende Roete. Sie fuehlte den Stich aus Nellies Worten deutlich heraus, denn noch heute konnte sie Doktor Althoffs Kritik ueber ihre Werke nicht verschmerzen. Zugleich hatte Nellie unbewusst auf eine kleine Schwaeche angespielt, die sie noch immer fuer ihren frueheren Lehrer besass. Sie antwortete nicht, sondern verbarg ihren Unmut und wandte sich an Ilse. "Wie geht es deinem Braeutigam, du glueckliches Menschenkind?" Jetzt war an Ilse die Reihe zum Erroeten, und die Verlegenheit trieb ihr das Blut heiss in die Wangen. Zum Glueck deutete Flora ihr Erroeten ganz anders; sie fand es entzueckend, reizend, es sollte ihr den Stoff zu einem Gedicht geben, dessen Titel unbedingt heissen musste: "Das schaemige Braeutchen." Sie fand diese Idee wundervoll, einzig in ihrer Art, und war so begeistert davon, dass sie laut ausrief: "Nun sieh mir nur einer das schaemige Braeutchen an." Und traeumerisch vor sich hinblickend, fuhr sie fort: "Ja, Ilse, die Brautzeit ist die poesievollste des ganzen Lebens. In suessem Taendeln verfliessen die Tage, die angeborene Rauheit des Mannes liegt da noch gebaendigt in den Rosenfesseln der Liebe, in duftigen Zauber gehuellt vergeht die Zeit, nur der Koerper beruehrt noch mit fluechtigem Fuss die profane Erde. Der Geist, das Herz, sie entflohen in himmlische Gefilde und traeumen dort den ewigen Traum der Liebe, fern vom lauten Getuemmel der Welt, der Prosa des Lebens!" Nellie und Ilse hatten sich bei diesem poetischen Erguss schon einige Male verstaendnisinnig angeblickt; aber als Nellie die letzten Worte Floras mit einem urkomischen Gesicht begleitete, die Augen schwaermerisch aufgeschlagen und gen Himmel gerichtet, konnte Ilse ihre Heiterkeit nicht mehr verbergen und fing zu lachen an. Natuerlich stimmte Nellie mit ein. Flora war empoert ueber den verkehrten Eindruck ihrer Worte und wuetend sah sie die beiden an. "Ihr scheint noch ebenso albern und verstaendnislos zu sein wie in der Pension," sagte sie erregt. "Ich glaubte wirklich, Nellie, du waerst als Frau vernuenftiger geworden und du, liebe Ilse, scheinst mir ja eine recht prosaische Braut zu sein. Mein Gedankenflug war eben zu hoch fuer euch, wie ich merke." Die letzten Worte betonte sie besonders und sah dabei die beiden herablassend an. Ilse aergerte sich ueber Flora, sie war ganz ernst geworden und hatte eine Erwiderung auf den Lippen. Aber Nellie kam ihr zuvor. "Da haben wir unsere Teil," sagte sie mit der liebenswuerdigsten Miene, ohne durch Floras Abfertigung im mindesten aus der Fassung gebracht zu sein. "Florchen, ich werde mich bessern, damit ich mit dich fliegen kann in deine hohe schoene Land." Diese spoettischen Worte erregten Floras Zorn noch mehr. "Nimm mir nicht uebel, Nellie," rief sie, "aber in dir lebt auch nicht ein Funke von Poesie, du ziehst alles in den Staub und Schmutz herab." Ilse war ausser sich ueber diese Schmaehung ihrer geliebten Freundin. "Nun ist es aber genug, Flora!" rief sie heftig, doch weiter kam sie auch diesmal nicht, denn die Tuere wurde geoeffnet, die intelligente Dienstmagd erschien und meldete, Herr Referendar Lueders wuensche Frau Doktor zu sprechen. Flora schnellte wie elektrisiert empor. "Wie furchtbar fatal, - Herr Lueders und ich noch in Morgentoilette. Aber, er ist ja unser Hausfreund. Ich koennte mich schon so vor ihm zeigen." Sie trat vor den Spiegel und besah sich musternd, aber nicht ohne Wohlgefallen. "Was meint ihr?" fragte sie, "kann ich ihn so empfangen?" "Ich meine nicht," antwortete Ilse in ihrer gewoehnlichen Offenheit. "Es ist doch schon Mittag jetzt, und dann, denke ich, darf man im Morgenrock ueberhaupt keine Herren empfangen." "So denkt man wohl bei euch auf dem Lande," entgegnete Flora gereizt, indem sie Ilse ueber ihre Schultern hinweg einen mitleidigen Blick zuwarf. "Ich muss gestehen, das nenne ich enge Ansichten. Haette ich nur meine hochelegante Matinee an, dann natuerlich wuerde ich Herrn Lueders sofort empfangen. Sage Herrn Referendar, ich liesse ihn bitten einzutreten, ich wuerde sofort erscheinen," wandte sie sich zu dem Maedchen, das stumpfsinnig und bewegungslos an der Tuere stand, der Dinge harrend, die da kommen sollten. "Adieu, Flora, wir muessen gehen," sagte Nellie und erhob sich. [Illustration] "Nein, auf keinen Fall! Bitte, bleibt nur noch so lange, bis ich zurueckkomme, bitte," bat Flora dringend und verschwand eiligst, weil die Tuere weit aufging und Herr Lueders erschien. Nellie wollte mit einem hoeflichen Grusse an ihm vorbei gehen, er kam aber schnell auf sie zu und machte ihr eine tiefe Verbeugung. "Gnaedige Frau," sagte er, "ich bin beglueckt, Sie hier zu treffen; darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen." Nellie antwortete kuehl. "O, ich danke, ich befinde mich sehr wohl. Ilse," wandte sie sich zu dieser, "darf ich dir Herrn Referendar Lueders vorstellen, - Fraeulein Macket." "Eine grosse Ehre," sagte er verbindlich mit einer neuen eleganten Bewegung. "Wir wollen uns noch einen Augenblick setzen, bis Flora kommt," sagte Nellie. Ilse bemerkte, dass sie gegen diesen Herrn merkwuerdig zurueckhaltend war, ganz gegen ihre gewoehnliche liebenswuerdige Art. Er gefiel auch ihr nicht; sie konnte ihn jetzt, waehrend er sich mit Nellie unterhielt, pruefend betrachten. Das glatte Gesicht war nicht unschoen, aber ausdruckslos, die hellen blauen Augen erschienen ihr geradezu unangenehm. Er hatte blonde Haare, blonde Augenbrauen, blonde Wimpern und vom hellsten Blond war auch das kleine Schnurrbaertchen, das in zwei steif abstehende und kunstvoll gedrehte Spitzen auslief. Die Gesichtsfarbe war maedchenhaft zart und rosig. Ohne dass sie es wollte, draengte sich Ilse der Vergleich auf zwischen ihm und ihrem Braeutigam. Wie kraftvoll und energisch war dessen Gestalt gegen die des zierlichen Herrchens, das keine Spur von Maennlichkeit und Ernst zeigte. Jetzt wandte er sich zu ihr und rueckte an seinem Kneifer, der auf der kleinen, etwas aufgestuelpten Nase keinen rechten Platz finden konnte. "Wie lange weilen gnaediges Fraeulein schon in unsern Mauern?" fragte er und sah ihr dabei keck ins Gesicht, dass sie unwillkuerlich den Kopf zurueckwarf und ihn von oben herab unnahbar anblickte. Sie fand ihn in diesem Augenblick unausstehlich, so dass sie sich Muehe geben musste, seine Fragen artig zu beantworten, und froh war, als Floras Eintreten der Unterhaltung ein Ende machte. "Mein lieber Herr Lueders, verzeihen Sie nur, bitte, bitte, dass ich Sie warten liess," rief sie ihm entgegen mit kindlich gefalteten Haenden und demuetigem Augenaufschlag. "Wie koennte ich Ihnen boese sein," sagte er mit Nachdruck und fuehrte ihre Hand an seine Lippen. Flora hatte in grosser Eile Toilette gemacht, das sah man, und ebenso geschmacklos wie vorher, auch das fiel sofort auf. Die Haare trug sie jetzt hoch aufgetuermt, was ihren ohnedies grossen Kopf noch groesser erscheinen liess. Das schwarze Kleid, das sie trug, war ueberreich mit Perlen besetzt, von denen schon viele die Flucht ergriffen und kahle Stellen zurueckgelassen hatten. Aber fuer solche Kleinigkeiten hatte die geniale Flora keinen Blick und jetzt besonders nicht, denn ihre Aufmerksamkeit nahm der Referendar in Anspruch. Er hatte aus seiner Tasche ein Heft gezogen und ueberreichte ihr dasselbe. "Ich habe mich an den Kindern Ihrer Muse wahrhaft ergoetzt," sagte er, "seit lange habe ich nichts von so tiefem Inhalt, so poetischem Wert gelesen. Ich bewundre Ihre Phantasie, Ihren Geist, gnaedige Frau." Flora schwamm in einem Meer von Seligkeit, ihr Gesicht strahlte, und triumphierend sahen ihre Augen zu den Freundinnen hinueber. "Seht, es gibt doch noch Menschen, die mich und meine Werke verstehen," schienen sie zu sagen. "Wie freue ich mich, dass Ihnen die kleinen Bluemchen, die ich in dem Gaertchen meiner Poesie pflueckte, gefallen," sagte sie bescheiden. "Macht es Ihnen Spass, so gebe ich Ihnen ein groesseres Opus zum Lesen mit, ich bin gerade damit fertig geworden." Sie stand auf, es zu holen, und diese Gelegenheit benuetzte Nellie und Ilse sich auch zu erheben, um sich zu verabschieden. Flora hielt sie jetzt auch nicht laenger mehr zurueck; es war ihr offenbar ganz erwuenscht, dass sie gingen. Sie kuesste beide mit ueberwallender Zaertlichkeit, trug Nellie tausend Gruesse fuer den strengen Gebieter und Ilse ebensoviel an ihren Braeutigam. Als sie von der Tuere zurueck ins Zimmer trat, fing sie noch gerade den bewundernden Blick auf, den Herr Lueders Ilse nachsandte. Das stimmte ihre gehobene Laune etwas herab. Als Ilse und Nellie schon auf der Treppe waren, fiel es ersterer ein, dass sie ja einen Schirm mitgebracht hatte. Sie gingen deshalb zurueck, fanden ihn aber nicht mehr auf dem Platz, wo sie ihn hingestellt hatten. "O, wahrscheinlich hat ihn das saubere Dienstbot weggestellt, ich werde ihr fragen," sagte Nellie und ging in die Kueche, die am Ende des Korridors lag. Gleich darauf rief sie: "Komm, Ilschen, sieh dir mal die kleine Stiefkind von Flora an, - o, ist es nicht eine suesse Baby?" Sie hatte das kleine Wesen schon auf dem Arme, als Ilse hereintrat, welche als Kinderfreundin, die sie war, das Kind nun ebenfalls liebkoste und streichelte. Es war ein reizendes kleines Maedchen von vier Jahren, mit dunklen Augen und dunklem lockigen Haar. Aengstlich und schuechtern sah es die beiden an und bog sich bei ihren Liebkosungen abwehrend zurueck, indem sie die Haendchen fest gegen Nellies Brust stemmte. "Bitte, Nellie, gib mir die Kleine nur ein einziges Mal," quaelte Ilse, "ich mag Kinder so schrecklich gern. Meinen kleinen Bruder schleppe ich so viel herum, dass Mama oft schilt, denn sie will nicht, dass er so viel getragen wird. Der suesse kleine Kerl, ob er sich wohl nach mir sehnt, oder mich schon vergessen hat?" Sie seufzte bei diesen Worten, und in dem sehnsuechtigen Gedanken an das Bruederchen nahm sie Nellie das Kind so heftig aus dem Arm und presste es so stuermisch an sich, dass es jaemmerlich zu schreien anfing und mit Haenden und Fuessen die groessten Anstrengungen machte, von Ilses Arm zu kommen. Erschrocken liess diese es auf den Boden gleiten, Nellie aber kniete neben ihm nieder und fragte es: "Wie heisst du denn, _darling_?" Die Kleine antwortete nicht, weder auf diese noch auf ihre weiteren Fragen. Sie zog sich in eine Ecke zwischen dem Tisch und Kuechenschrank zurueck, und sah sich die beiden mit trotzig verschlossenen Blicken an. Dem armen kleinen Wesen fehlte die liebende, sorgende Hand der Mutter. Das fleckige Kleidchen aus dunklem schwerem Stoff, die schmutzige Schuerze aus grellbuntem Kattun bewiesen, dass ihr Anzug ohne Lust und Liebe gewaehlt war. "Arme Baby," sagte Nellie leise und sah mitleidig auf das Kind. "Findest du nicht," fragte Ilse, "dass sie Aehnlichkeit mit unserer suessen Lilli hat? Ihre Augen haben denselben schwermuetigen Ausdruck. Ist Flora denn nicht sehr gluecklich ueber dieses reizende Kind?" "O, ich glaube nicht," meinte Nellie, "es ist nie die Rede von die kleine Kaethe, sie besorgt sich wenig um ihr. - Nun aber, Ilschen, es ist die hoechste Zeit, dass wir fortgehen, sonst kommt Fred nach Hause und findet mich abwesend." Nellie beugte sich zu dem Kinde nieder und griff nach ihren Haendchen, Kaethe entzog sie ihr aber schnell und versteckte sie auf dem Ruecken. Als sie ueber den Vorplatz gingen, hoerten sie Floras laute, etwas weinerliche Stimme; sie schien in lebhafter Unterhaltung mit Herrn Lueders begriffen zu sein. Auf der Strasse hing sich Nellie an Ilses Arm und lachte mit dem ganzen Gesicht. "Ein schoener Besuch, nicht wahr, Ilschen?" fragte sie heiter. "Wie gefaellt dich Flora als Frau und Mutter? Ist sie nicht noch eine ebenso verschraubte Person wie frueher?" "Noch schlimmer ist sie geworden," stimmte Ilse bei. "Ich finde sie zu laecherlich! Hast du wohl bemerkt, wie holdselig sie den Referendar anlaechelte, als er ihre Werke lobte? Und hast du sein spoettisches Gesicht gesehen?" "O, ich habe alles gesehen, _darling_, ich habe auch eine scharfe Blick. Dieser Lueders, ich mag ihn gar nicht, er ist keine Gentleman, er ist nicht richtig." "Er ist nicht richtig?" fragte Ilse erschrocken, "hat er denn schon mal im Irrenhaus gesessen?" "O nein," lachte Nellie, "du verstehst mich nicht." "Ja, aber du sagst doch, er waere nicht richtig, und das heisst so viel als: er hat seinen vollen Verstand nicht." "_Darling_, ich meine ja ganz anders, ich denke, er ist nicht richtig, weil er nicht die Wahrheit sagt." "Ach so," rief Ilse, "nun geht mir ein Licht auf; du meinst, er ist nicht aufrichtig?" "Ja, ja," bestaetigte die junge Frau, "so heisst das Wort, der ich nicht finden konnte." Dieses Missverstaendnis belustigte beide aufs hoechste, sie kamen immer wieder darauf zurueck und mussten immer von neuem darueber lachen. In heiterster Laune langten sie zu Hause an. "Herr Doktor ist schon lange da," empfing sie das Maedchen. "O weh," fluesterte Nellie, "da haben wir die Zeit verfehlt. Wie viel ist denn die Uhr, ich habe kein Begriff." "Gleich zwei Uhr," berichtete das Maedchen. "Der Herr Doktor hat schon oft nach den Damen gefragt." Auf dem Vorplatz kam ihnen Nellies Mann entgegen, und man sah es ihm an, dass ihn die Ungeduld unwillig gemacht hatte. "Wo bleibst du denn so lange?" fragte er verstimmt, "ich warte nun schon seit ein Uhr auf dich. Du weisst doch, liebes Kind, dass ich die Puenktlichkeit liebe und es vor allen Dingen nicht in der Ordnung finde, wenn die Frau ihren Mann warten laesst." Er hatte Ilse nicht bemerkt, die sich bei seinen Worten aengstlich hinter einem Kleiderschrank versteckt hielt, und glaubte wohl, dass sie schon in ihr Zimmer gegangen waere. Sie blieb in ihrem Versteck, bis das Ehepaar fortgegangen war, und huschte dann in ihr Stuebchen. "Das war aber stark," sagte sie vor sich hin, "das haette mir mein Mann nicht bieten duerfen; ich haette mir das nicht so ruhig gefallen lassen. Es war doch recht dumm von Nellie, dass sie ihm keine Antwort gab." Das Maedchen unterbrach sie in ihrem Selbstgespraech und rief sie zum Mittagessen. "Das wird ein heiterer Mittag werden," dachte Ilse, "Doktor Althoff ist schlechter Laune und Nellie doch sicherlich auch nach diesem Empfang." Zoegernd trat sie ins Esszimmer. Doktor Althoff stand am Fenster und trommelte gegen die Scheiben. Er drehte sich bei ihrem Grusse nur fluechtig um und nickte ihr zu. Nellie stand schon am Tisch und fuellte die Suppe auf. "Kommt, Ilschen und Fred, wir wollen essen," rief sie freundlich und setzte ihnen die dampfenden Teller hin. Doktor Althoff war, wie Ilse richtig vermutet hatte, in uebler Laune. Er ass schweigend, und fuer Nellies Fragen hatte er nur einsilbige Antworten. Erstaunt sah Ilse, dass Nellie sich durch sein Benehmen nicht stoeren liess und gleichmaessig freundlich blieb. Sie verstand die Freundin nicht. Sie wuerde im gleichen Falle einfach vom Tisch aufgesprungen und hinausgegangen sein. Aber auch noch ein freundliches Gesicht machen, wie Nellie es tat, das wuerde sie auf keinen Fall vermocht haben. Das Mittagsmahl verlief wenig gemuetlich fuer die drei. Ilse, durch Althoffs Schweigsamkeit eingeschuechtert, wagte kaum ein Wort zu sagen, nur Nellie war wie sonst, man sah ihr auch nicht den leisesten Unmut an. Als der Tisch abgeraeumt war, sollte wie gewoehnlich der Kaffee in Doktor Althoffs behaglichem Arbeitszimmer getrunken werden. "Lieber Fred, der Kaffee ist fertig," sagte Nellie, "wollen wir nicht trinken?" Er zog seine Uhr heraus. "Nein, es ist schon viel zu spaet," entgegnete er kurz. "Ich kann keinen Kaffee mehr trinken; es ist hoechste Zeit, dass ich gehe. Adieu." Ohne Ilse die Hand zu reichen und Nellie den ueblichen Abschiedskuss zu geben, ging er fort. Ilse sah, wie der jungen Frau eine heisse Blutwelle ins Gesicht stieg und ihre Augen sich mit Traenen fuellten. Sie naeherte sich ihr voller Mitleid und umschlang sie. Aber Nellie schob sie sanft zurueck und eilte ihrem Gatten nach. Sie macht sich rein zu seiner Sklavin, dachte Ilse erbittert. Nun bittet sie ihn wohl gar noch um Verzeihung; ich begreife sie einfach nicht. Nach kurzer Zeit kam Nellie zurueck, und in ihrem vergnuegten Gesicht sah man keine Spur von Erregtheit mehr. Sie nahm Ilse gegenueber Platz, welche am Fenster sass. "Arme Ilse," sagte sie schelmisch, "du hast dir heute mittag gewiss recht gemopst mit uns langweilige Menschen; sei nicht boese." "Wie sollte ich boese sein, Nellie? Ich fasse nur nicht -" hier stockte sie und sprach nicht weiter. "Was fassest du nicht?" fragte Nellie. "Nun, ich fasse nicht," sagte Ilse, "wie du dir so viel gefallen lassen kannst von deinem Manne. Das ist mir rein unbegreiflich." "Du bist noch eine kleine unverstaendliche Person," gab Nellie zur Antwort. "Du wirst auch noch lernen zu schweigen, wenn dein Mann mal boes ist." "Das werde ich nie, niemals!" beteuerte Ilse lebhaft. "Du wirst," fiel ihr Nellie entschieden ins Wort. "Fred hat oft viel Aerger mit die Jungens in der Schule und wenn er nach Hause kommt, darf ihn sein kleine Frau nicht auch aergern. Heute hat er so grosse Verdruss gehabt, das arme Mann. Du bist noch so jung, Kindchen, du verstehst noch nix von die Ehe, von das Benehmen der Frau gegen ihre Mann." Ilse lachte! "Das ist himmlisch! Du bist gerade zwei Jahre aelter als ich und tust immer, als wenn du meine Grossmutter waerst." "O, ich habe Erfahrung," rief Nellie, "und kenne die Welt mit die Menschen besser als du, Baby." "Ja, du bist meine einzige kluge Nellie," sagte Ilse, sie umschlingend. "Aber wenn dein Mann mal wieder boese gegen dich ist, bekommt er es mit mir zu tun." Nellie hatte sie durch ihre Worte zwar nicht bekehrt, und sie gab ihr nicht recht, denn sie wollte nicht die Sklavin ihres Mannes werden, aber im Grunde ihres Herzens bewunderte sie doch die Freundin und ihre Selbstbeherrschung. * * * Seit dem Besuche bei Flora war wieder eine Woche verstrichen. Das Doktorpaar hatte schon nach einigen Tagen einen Gegenbesuch gemacht, und Floras Mann hatte Ilse ausserordentlich gut gefallen. Er war klug und liebenswuerdig und hatte ein ruhiges, sicheres Benehmen. Bei Floras ueberschwenglichem Unsinn schwieg er meistens, und es erschien dann in seinem Gesicht ein Ausdruck, als ergebe er sich in das Unvermeidliche, das zu aendern er aufgegeben hatte. "Wie kam nur der nette Mann dazu, sich in Flora zu verlieben, Nellie?" fragte Ilse. "Ich begreife das nicht." "O," meinte diese, "Florchen wird sein Herz mit ihre schoene Liebesgedichte gefangen haben. Wir muessen ihr gelegentlich ueber ihre Verlobung ausforschen. Mich tut der arme Mann leid und die kleine Baby; Flora macht ihnen kein Glueck, weil sie nichts wie dummes Zeug im Kopf hat." - An einem Sonntagmorgen sass das junge Althoffsche Ehepaar mit Ilse gemuetlich am Kaffeetisch, als das Maedchen einen Brief fuer Nellie hereinbrachte. "Eine grosse Neuigkeit!" rief sie, als sie ihn gelesen hatte. "Ratet, ich sage nix," und geheimnisvoll sah sie zu Ilse hinueber, deren Blicke aengstlich fragend auf ihr ruhten. Was mochte der Brief fuer eine Nachricht enthalten, von wem mochte er sein? Ihr Herz pochte in heftigen Schlaegen, und wieder tauchte die Hoffnung in ihr auf: es ist vielleicht eine Nachricht von ihm, und er meldet sein Kommen an. Die erwartungsvolle Aufregung, in der sie die erste Zeit hier verbracht hatte, war nach und nach einer bitteren Ruhe gewichen. Sie zerfloss nicht mehr in leidenschaftlichen Traenen, wenn Briefe von den Eltern eintrafen, die nichts von Leo enthielten, und sie schreckte auch nicht mehr bei jedem Klingeln zusammen. Nur abends, wenn sie im Bette lag, scheuchten noch haeufig angstvolle Gedanken den Schlaf von ihren mueden Lidern, und sie waelzte sich dann manchmal ruhelos auf ihrem Lager umher. Schwarz wie die Nacht erschien ihr dann die Zukunft, sie kam sich einsam und verlassen vor und schlief unter Traenen ein. - Ilse wagte nicht, Nellie, welche sich mit ihrem Manne herumneckte, nach dem Inhalt der Karte zu fragen. Doktor Althoff, der nach langem Hin- und Herraten, das ihm jedesmal ein lakonisches "Falsch" von seiner Frau eingetragen hatte, ungeduldig geworden war, nahm schliesslich Nellie den Brief aus der Hand. "O, was seid ihr Maenner neugierig," sagte sie lachend. Er las den Brief und warf ihn dann auf den Tisch. "Wenn es weiter nichts ist," sagte er mit enttaeuschter Miene, "ich dachte Wunder, was der Brief enthielte! Also Pastors wollen uns heute besuchen, das ist die ganze interessante Neuigkeit. Na, das wird einen heiteren Sonntag geben," setzte er mit sauersuesser Miene hinzu. Ilse hatte gespannt auf jedes seiner Worte gelauscht, sie war von neuem enttaeuscht, und doch loeste es sich wie ein Alp von ihrer Brust. "Ilschen," wandte sich Nellie jetzt zu ihr, "die artige Rosi mit ihre Pfarrersmann wird uns heute besuchen. Freust du dich nicht?" Sie nahm den Brief wieder an sich und las ihn nochmals. "Durch Flora hat Rosi von dein Hiersein gehoert und freut sich riesig dich wiederzusehen," teilte sie Ilse mit. "Sie fahren mit der Kutsche, schreibt mich Rosi, um acht Uhr von den Dorf weg; wann sind sie also hier, Fred?" Sie musste ihre Frage wiederholen, denn er las in der Zeitung und hatte nicht zugehoert. "Um acht Uhr fahren sie fort," berechnete er, - "vielmehr sind sie fortgefahren, da werden sie gegen elf Uhr hier sein." "O, dann haben wir noch viele Zeit," meinte Nellie, "dann koennen wir in Ruhe Vorbereitungen zu Ehrwuerdens Empfang machen. Hilfst du mir, Ilschen?" "Natuerlich, Nellie! Ich bin riesig gespannt, Rosi wiederzusehen. Sie ist gewiss eine unterwuerfige Frau, eine demuetige Magd, wie sie im Buche steht, geworden." Die Kaffeestunde wurde heute abgekuerzt, denn Nellie musste fuer das Fruehstueck und Mittagsmahl sorgen. Geschaeftig eilte sie mit dem Schluesselkoerbchen klappernd hin und her, bald war sie in der Kueche, bald im Zimmer. Jetzt kam sie mit einem Pack Tischzeug herein, legte dasselbe auf den Esstisch und fing an zu decken. Ilse stand mit verschraenkten Armen daneben und sah ihr zu. "Nellie, weisst du noch, wie ungeschickt ich mich in der Pension benahm, als ich zum ersten Male den Tisch decken sollte? Jetzt mache ich solche 'Dienstbotenarbeiten' ganz gern; so geschickt wie du bin ich natuerlich noch nicht und werde es auch nie sein." "O, _darling_," erwiderte Nellie, "wenn du erst ein kleines Hausfrau bist, wirst du alles schoen machen, viel schoener als ich es -" Ilse liess sie den Satz nicht beenden. Das Wort Hausfrau hatte sie peinlich beruehrt und machte sie verlegen. "Nein," rief sie schnell, "nie, nie! Ich bin ein ungeschicktes, plumpes Bauernmaedchen gegen dich." "O, o," sagte Nellie, indem sie bei diesen uebertriebenen Worten erstaunt aufblickte, "wie kannst du dich unterstehen, eine liebe Freundin von mir so schlecht zu machen, das verbitte ich mich. Komm, hier hast du eine Obstschale und hier den Obst von dem Bueffet. Da sind auch einige Weinblaetter noch, du musst ihr malerisch zwischen die Fruechte gruppieren." "Ich will versuchen, ob ich die Blaetter malerisch gruppieren kann," lachte Ilse. "O du kannst," entschied Nellie, "du hast ein gross malerisch Sinn." Der Fruehstueckstisch war fertig, und die Obstschale prangte in der Mitte. Nellie ueberschaute alles noch einmal mit pruefendem Blicke. "Wir haben unser Sach gut gemacht," sagte sie befriedigt zu Ilse, "wir duerfen uns dieser Lob spenden. Vor artig brave Rosi duerfen wir uns aber auch keine Blossheit geben." "Das ist klassisch: Blossheit geben. Bloesse meinst du wohl, Nellie?" verbesserte Ilse heiter. "Du hast oft Ausdruecke zum Totlachen, aber sie klingen in deinem Munde furchtbar niedlich und suess!" "O, du furchtbar niedliches Ilsekind," neckte Nellie, "du musst nicht ueber mich lachen, wenn ich falsch spreche, du musst mir ausbessern." Es war eine kleine Koketterie von der jungen Frau, dass sie sich oft nicht die Muehe gab, die richtigen Worte zu finden, weil sie genau wusste, wie drollig und komisch es klang, wenn sie so gebrochen deutsch sprach. Nellie verschwand jetzt eiligst, um ihren hellblauen Morgenrock mit einem Hauskleide zu vertauschen. "Du musst mir rufen, wenn du den Wagen kommen hoerst," rief sie Ilse noch zu, die sich ans Fenster gesetzt hatte und nun nachdenklich auf die Strasse hinabschaute. Mit gemischten Empfindungen sah sie Rosis Ankunft entgegen. Sie freute sich, die Pensionsfreundin wiederzusehen, aber der Gedanke, dass sie wieder peinliche Fragen nach ihrem Verlobten ueber sich ergehen lassen muesse, wie bei Flora, beunruhigte sie schon im voraus. Sie kam sich wie eine Schuldige vor, die ihre Schuld vor der Welt verbergen musste, und dieses Gefuehl war ihr schrecklich. Gegen elf Uhr hoerte sie fernes Wagenrollen und schnell rief sie nun die Freundin herbei. [Illustration] "Das Landpastorkutsch erregt grosse Aufsicht," sagte Nellie und wies auf die Fenster der Nachbarhaeuser, die mit Neugierigen besetzt waren, welche das herannahende Wagengebaeude in Augenschein nehmen wollten. Langsam bewegte sich dasselbe vorwaerts und unterbrach jaeh die sonntaegliche Stille durch das Gerassel, welches es auf dem holperigen Strassenpflaster verursachte. Zwei schwerfaellige dicke Gaeule wurden von dem Kutscher durch Zureden und Peitschenhiebe angetrieben, ohne dass es ihm gelungen waere, sie aus ihrem Phlegma aufzuruetteln. In unregelmaessigen Schwankungen bewegte sich der grosse, ueber und ueber mit Schmutz bedeckte Wagen, dessen ehrwuerdiges Alter nicht zu verkennen war, vorwaerts; die einstmals wahrscheinlich blauen, jetzt bis zur Unkenntlichkeit verschossenen Gardinen waren zugezogen, und umsonst reckten sich die Haelse der Neugierigen krampfhaft aus, in dem Bemuehen die Insassen zu sehen. Diejenigen, welche dem Althoffschen Hause gegenueber und dicht daneben wohnten, harten es bequemer; denn als der Wagen hielt, konnten sie ohne Genickverrenkung erkennen, wer ihm entstieg. Also Althoffs bekommen Besuch, das war ja hoechst interessant! Leider konnte man seine Neugierde nicht genuegend befriedigen, denn die zwei Personen, welche den Wagen verliessen, wurden nicht, wie man erwartet hatte, draussen an der Pforte in Empfang genommen, sondern verschwanden sogleich hinter der Haustuere. Man haette sich die beiden so gern erst genauer betrachtet, gerne gewusst, welches Kleid die Dame unter ihrem Mantel trug, und den Schnitt desselben geprueft. Auch konnte man unter dem dichten Schleier, den sie vor das Gesicht gezogen hatte, nicht erkennen, ob sie jung oder alt, huebsch oder haesslich war. Kurz und gut, man war enttaeuscht, wie die verwitwete Frau Sekretaer, welche Althoffs gegenueber wohnte, durch das aergerliche Zuschlagen ihres Fensters deutlich bewies. "Komische Moden fuehrt die junge Frau da drueben ein," sagte sie zu ihrer verbluehten Tochter. "Bisher war es Sitte, dass man seinen Gaesten entgegenging; wie unpassend, ihnen nicht mal beim Aussteigen behilflich zu sein! Na, wie ich das finde!" Sie begleitete ihre Worte mit einem missbilligenden Kopfschuetteln und setzte sich wieder an ihren Naehtisch. "Ja, das kommt mir auch merkwuerdig vor," pflichtete das aelteste Maedchen bei. "Uebrigens kann es uns ja ganz egal sein, was die da drueben machen und tun." Und doch war es ihr nicht gleichgueltig, was "die da drueben" taten, denn sie war eine scharfe Beobachterin ihres Gegenueber. Das glueckliche junge Ehepaar weckte so oft ein geheimes Sehnen in ihrem Herzen, mancher Seufzer entstieg dann ihrer Brust und voll Bitterkeit dachte sie, dass ihr, der alten Jungfer, niemals ein solches Glueck erbluehen wuerde. - Drueben war die Begruessung vorueber, und Althoffs sassen mit ihren Gaesten bereits am Fruehstueckstisch. Die beiden Ehepaare waren im lebhaften Gespraech, und Ilse hatte daher Musse, sich ihre Schulfreundin und deren Mann gruendlich zu betrachten. "Genau, wie sie Nellie geschildert hat," dachte sie in ihrem Innern. Rosi hatte sich wenig veraendert, nur strenger waren ihre Zuege geworden, und die Haare glaenzten vielleicht noch heller als frueher in ihrer Glaette. Tadellos wie immer war ihre Haltung und von fast kloesterlicher Einfachheit ihr Anzug. Das schwarze Kleid sah doch recht trist und altmodisch aus, und wie steif war der weisse Strich am Kragen, den die goldene Brosche zusammenhielt, welche schon in der Pension aller Entsetzen gewesen war. Auch der Herr Pastor im langen, schwarzen, tabakduftenden Rock wurde von Ilse einer eingehenden Pruefung unterworfen, ihrem scharfen Blick entging nichts. In dem gutmuetigen Gesicht beruehrte ein liebenswuerdiger Zug aeusserst angenehm, aber ueber den schuechternen Ausdruck in seinen blauen Augen musste Ilse unwillkuerlich laecheln. Und wie unbeholfen waren seine Bewegungen, als er sich jetzt mit der Hand ueber seine duennen blonden Haare strich und dann die goldene Brille zurecht rueckte. Rosi riss Ilse endlich aus ihren Betrachtungen. "Liebe Ilse," sagte sie freundlich, "ich freue mich, dir nun muendlich noch zu deiner Verlobung gratulieren zu koennen. Ich nehme den waermsten Anteil an deinem Glueck. Wann heiratet ihr denn?" "O, noch lange nicht," stiess Ilse hervor und wurde blutrot, denn sie bemerkte, dass der Pastor bei diesem Gespraech zu ihr herueber blickte, wahrscheinlich wollte auch er seinen Glueckwunsch hinzufuegen. O, diese Wuensche fuer ihr Glueck erschienen ihr wie der bitterste Hohn, und die Heuchelei, die Verstellung, mit der sie dieselben hinnehmen musste, widerstanden ihrer ehrlichen Natur. "Ach, ich dachte, ihr wuerdet schon bald heiraten! Nellie, sagtest du mir nicht, die Hochzeit sollte im Fruehjahr oder Sommer sein?" fing Rosi das peinliche Verhoer wieder an. Ilse sass wie auf Kohlen, verstohlen blickte sie zu Nellie hinueber, welche diesen flehenden Wink auch verstand und ihr zu Hilfe kam. Rosis Frage scheinbar ueberhoerend, nahm sie eifrig einen Teller mit Aufschnitt vom Tisch und reichte ihr denselben hin. "Bitte, iss noch, Rosi," noetigte sie lebhaft, "denn wenn wir nachher in der Stadt umherlaufen und Besorgungen machen wollen, musst du dir erst tuechtig satt essen." "Ja, liebe Frau," wandte sich der Pastor jetzt an sie, "was meinst du, ich denke, du machst deine Besorgungen mit Frau Doktor und Fraeulein Ilse, und wir treffen uns nachher im Ratskeller, wo wir beiden Herren einen Fruehschoppen trinken wollen." Rosi sah ihren Mann mit so erstaunten Augen an, dass er ganz verlegen wurde, sich einige Male raeusperte, wobei er die Fingerspitzen auf den Mund legte und schliesslich nach einer kleinen Pause die Worte hervorstotterte: "Doktor Althoff machte mir naemlich den Vorschlag." "Frau Pastorin," fiel dieser ihm in die Rede, "Sie haben wirklich einen ganz durchtriebenen Gatten. Jetzt schiebt er alle Schuld auf mich, waehrend er es war, der mich zum Fruehschoppen verleiten wollte." Rosi verzog bei diesem Scherz keine Miene. "Ich denke, wir bleiben besser zusammen," sagte sie entschieden zu ihrem Mann, "und dann, du weisst doch, in Wirtshaeuser gehe ich grundsaetzlich nicht." Ilse sah verwundert zu ihr hin. War das denn die sanfte, fuegsame Rosi von frueher? "O," rief Nellie, "du armes Rosi, wie bedaure ich dir, denn in der Kneip ist es zu schoen. Oft gehe ich mit Fred und einige gute Freunde ins Wirtshaus, und dann trinken wir Bier zusammen. O, das ist fein! Und das Comment hat mir Fred auch gelehrt, ich kann es gut - pass auf!" Sie sah Rosi mit schelmischer Herausforderung an, erhob ihr Glas und hielt es dem Pastor entgegen. "Herr Pastor, trinken Sie auf mein Wohl, dann werde ich mir _a tempo_ loeffeln," rief sie lustig. Er wurde ueber und ueber rot wie ein junges Maedchen, aber dem lieblichen Gesicht der jungen Frau konnte er nicht widerstehen. Er nahm sein Glas und stiess mit ihr an. Er wollte auch etwas sagen, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken, als er einen verstohlenen Blick auf seine Frau warf. Sie stimmte nicht mit ein in das froehliche Lachen Althoffs und Ilses, sondern richtete sich noch steifer auf, und ihre Zuege blieben unbeweglich. In ihrem Innern dachte sie mit Unwillen: "Nellie ist doch recht burschikos." "Ich denke, wir brechen jetzt auf, lieber Adolf," sagte sie sanft aber bestimmt und stand auf. "Wir haben eine Menge Besorgungen; es moechte sonst zu spaet werden." Die andern erhoben sich pflichtschuldigst. "Kommen Sie mit in mein Zimmer, Herr Pastor," sagte Althoff. "Bis die Damen fertig sind, wollen wir eine Zigarre rauchen." Der Pastor begruesste diese Aufforderung mit grosser Freude, denn er fuerchtete jetzt ein Alleinsein mit seiner Frau. Nellie war in die Kueche gegangen, um fuer das Mittagessen noch einige Anordnungen zu treffen. Ilse hatte Rosis Sachen vom Vorplatz hereingeholt und belustigte sich nun ueber die Umstaendlichkeit, mit der die Frau Pastorin ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte. Sie war doch noch ganz die pedantische Rosi aus der Pension! Die Baender des Kapothutes wurden zu einer streng symmetrischen Schleife zusammen gebunden, dann feuchtete sie die Fingerspitzen mit der Zunge an und strich mit denselben ueber den Scheitel, damit jedes sich vorwitzig hervordraengende Haerchen in seine Schranken zurueckgewiesen wurde. Eine innere Unruhe ergriff Ilse bei diesen Anstalten. Wie konnte man nur beim Anziehen so langweilig sein. Wenn sie sich ihren Hut aufsetzte, blickte sie nur fluechtig in den Spiegel, um zu wissen, ob er schief oder gerade sass, und damit Punktum! Endlich war Rosi fertig, und die Reise konnte nun losgehen. Als alle zum Ausgehen geruestet auf dem Vorplatz standen, nahm Rosi eine Tasche vom Kleiderstaender herunter und hing sie sich ueber den Arm. "O, dieses entsetzliche Tasch nimmt sie mit," fluesterte Nellie Ilse zu und betrachtete das Ding mit misstrauischen Augen. Schoen war die Tasche nicht, das konnte man nicht behaupten, aber desto groesser, von grober grauer Leinwand, worauf mit lila Wolle in Kettenstich die Worte gestickt waren: "_Bon voyage_". "Willst du den Sack mitnehmen, Rosi!" machte Nellie ihren Gefuehlen Luft. "Du brauchst nicht," fuegte sie freundlich hinzu, "die Kaufleute schicken gern alle Ware ins Haus." "Einen Sack brauchst du diese Tasche nun nicht gerade zu nennen, Nellie, wenn du sie auch nicht schoen findest," erwiderte Rosi gereizt und zog die Geschmaehte noch fester ueber ihren Arm. "O, sei nicht boese, ich kenne in der deutsche Sprach noch oft nicht die richtige Worte", entschuldigte sich die junge Frau, und der Schalk lachte aus ihren Augen. "Das scheint so," meinte Rosi kuehl und ging voran. Verschiedene Einkaeufe waren schon besorgt und die Pakete in die verpoente Tasche gewandert, die sich behaglich in die Weite und Breite dehnte. "Hier moechte ich noch eine Arbeit fuer meinen Mann zu Weihnachten kaufen," sagte Rosi leise zu den beiden Freundinnen und blieb vor einem Stickereiladen stehen. "Lieber Adolf," wandte sie sich zu ihrem Manne, "du bleibst wohl hier so lange vor dem Laden stehen; ich moechte etwas kaufen, was du nicht sehen sollst. Sei auch so gut und halte die Tasche so lange." Sie wollte ihm damit die lila '_bon voyage_' in die Haende geben, aber Ilse riss sie ihm fast fort. Sie fand Rosis Zumutung ihrem Manne gegenueber empoerend. "Bitte, Herr Pastor, lassen Sie mir die Tasche," bat sie, als er sie ihr fortnehmen wollte, "es wuerde doch zu laecherlich aussehen, wenn Sie das Ding hielten." "Sie sind zu guetig," stammelte der Pastor, "aber Rosi moechte doch gern, dass ich die Tasche hielte; bitte, geben Sie." Ilse war jedoch schon hinter der Ladentuere verschwunden und gesellte sich zu Nellie und Rosi, welche bereits eifrig mit dem Ladenfraeulein verhandelten. Hilflos sah ihr der Pastor nach. "Ob es Rosi wohl recht ist, dass ich die Tasche hergab?" sagte er halblaut, und sein aengstlich fragendes Gesicht war so komisch, dass sich Doktor Althoff abwenden musste, um nicht laut aufzulachen. "Wollen wir nicht ein wenig auf und ab gehen," sagte Althoff, als sie eine Weile gewartet hatten, "die Damen scheinen lange zu waehlen; ich kenne das schon von meiner Frau her." "Wenn Sie meinen, Herr Doktor," entgegnete der Pastor zaghaft. "Nun ja, wie Sie wollen. Ich hoffe jedoch, die Damen werden bald fertig sein." Er trat an die Ladentuere heran und sah durch das Fenster. Die drei Damen schienen noch nicht ans Fortgehen zu denken. Auf dem Ladentische vor ihnen lag eine unendliche Menge Sachen ausgebreitet, unter denen die Wahl recht schwierig sein mochte, denn sie wanderten von Hand zu Hand und wurden eingehend besichtigt, worauf die drei Koepfe zu einer eifrigen Beratung dicht zusammenrueckten. Der Pastor ueberzeugte sich, dass die Damen wohl noch lange nicht fertig sein wuerden, und ging deshalb auf Althoffs Vorschlag ein. Langsam spazierten die beiden Herren auf und ab und jedesmal, wenn sie an dem Laden vorbei kamen, warf der Pastor forschende Blicke in das Innere desselben. "Es dauert recht lange, bis die Damen fertig sind," meinte er. "Ja," lachte Althoff, "das kenne ich schon, wenn Frauen einkaufen, muss man Geduld haben. Uebrigens da faellt mir ein, ich moechte Ihnen gern das Rathaus zeigen, dessen Renovierung jetzt sehr fortgeschritten ist. Es wird wirklich huebsch, kommen Sie." Er fasste den Pastor unter den Arm und zog den halb Widerstrebenden mit sich fort. "Ja, ich saehe es gern, aber Verehrtester, wenn wir dann unsre Frauen nur nicht verfehlen." "Aber ich bitte Sie, in diesem kleinen Nest kann man sich ja gar nicht verfehlen." Nach einigem Zoegern willigte der Pastor ein. Das alte Rathaus im neuen Schmuck gefiel ihm und mit Interesse betrachtete er alle Giebel und Tuermchen des gotischen Baues. "Und innen muessen Sie es auch besichtigen," sagte der Doktor, "die Vorhalle ist sehenswert. Jetzt sind die Fresken an den Waenden auch bis auf einen kleinen Teil fertig." Sie stiegen die Steintreppe empor, betraten den mit Fliesen ausgelegten Fussboden der grossen Vorhalle, unterwarfen die neuen Gemaelde einer eingehenden Kritik und schritten dann weiter. Die ausgebauten Erker mit den Butzenscheiben und den Holzbaenken ringsherum waren nicht veraendert und die bis zur Haelfte der Hoehe mit Eichenholz getaefelten Waende hatte der Pastor auch schon frueher bewundert. Nur auf den Gesimsen, die mit alten Kruegen und Glaesern besetzt waren, entdeckte er manches noch nicht gesehene Stueck und blieb davor stehen. Althoff kam es vor, als betrachte er die schweren Humpen nicht einzig und allein mit dem Interesse des Kunstkenners, und da er sich dabei auf seinen eigenen durstigen Gedanken ertappte, fragte er scherzend: "Was meinen Sie, Herr Pastor, wollen wir nicht einen solchen Humpen auf das Wohl unserer Frauen leeren?" Erschrocken sah sich der Angeredete um. [Illustration] "Wir haben es hier naemlich sehr bequem," fuhr Doktor Althoff fort, "wir brauchen nur diese kleine Treppe hinunterzugehen und koennen uns unten an einem herrlichen Fruehschoppen laben." Der Pastor stand noch immer unschluessig da. "Ja, aber meine Frau," warf er ein, "sie weiss dann nicht, wo ich geblieben bin, und darum moechte ich es lieber nicht tun." "Ich schicke einen Kellner mit einem Zettel nach dem Laden, wo die Damen sicher noch sind," beschwichtigte ihn Althoff, "kommen Sie nur. Es gibt hier ein famoses Spatenbraeu." "So?" sagte der Pastor und zeigte sich bei dieser verlockenden Aussicht schon geneigter, mitzugehen; "ach ja, gutes Bier habe ich lange nicht getrunken. Wir trinken abends stets Tee." Dabei fiel ihm seine Frau wieder ein, und er war wieder voll Zweifel, ob er mitgehen sollte. "Wenn es meiner Frau nur recht ist," sagte er unentschlossen. "Ihre Frau Gemahlin wird sich freuen, dass ich Sie zu einem Glas Bier ueberredet habe." "Nun ja denn, vielleicht freut sie sich," sagte er schliesslich, obgleich er innerlich vom Gegenteil ueberzeugt war. Aber der Wunsch, mal wieder eine gemuetliche Kneipstunde zu verleben, kam seiner Phantasie zu Hilfe, und er sagte nochmals, um seine Zweifel zu verscheuchen: "Vielleicht freut sie sich." Und doch folgte er dem Doktor die schmale Treppe mit dem Gefuehl hinunter, als ob er auf verbotenen Wegen wandle. - Rosi hatte nach langem Waehlen ihren Einkauf beendet und war sehr vergnuegt darueber, denn sie hatte gefunden, was sie suchte, naemlich ein Paar angefangene Morgenschuhe und einen geschnitzten Pfeifenstaender, der noch mit einer gestickten Borte verziert werden sollte. Sie fand die Morgenschuhe besonders schoen und konnte nicht begreifen, dass Nellie und Ilse ihr rieten, doch ein andres Muster zu waehlen. Ihr gefielen diese roten Rosen, welche sie mit schwarzer Wolle ausfuellen wollte, ganz besonders gut. Als sie aus dem Laden auf die Strasse traten, sah sich Rosi suchend um. "Wo sind denn die Herren geblieben? Ich sehe sie ja garnicht." "Vielleicht ist dein Mann auch in eine Laden und kauft schoene Weihnachtsdinge fuer dir," meinte Nellie, "wir wollen die Strasse hinuntergehen und in die Ladens schauen." Sie gingen weiter; aber die beiden Herren waren nirgends zu entdecken. "Ich begreife das nicht," sagte Rosi kopfschuettelnd, "Adolf wollte doch bestimmt auf mich warten." "Dein Mann wird sich ja auch schon finden," meinte Ilse, welche sich ueber Rosi aergerte, da diese ihre gute Laune durch den kleinen Zwischenfall schon wieder ganz eingebuesst hatte. Rosi ueberhoerte diese Worte, denn ihre Aufmerksamkeit wurde durch etwas andres in Anspruch genommen. Sie sah erwartungsvoll auf Nellie, der soeben von einem Jungen ein Zettel uebergeben worden war, welchen sie eifrig las. "O, das ist fein," rief sie und reichte Rosi den Zettel. "Unsre Maenner sind im Rathauskeller und Alfred schreibt, wir moechten sie dort abholen." "Was," brauste Rosi auf und knitterte den Zettel zusammen, "Adolf sitzt im Wirtshaus, heute am Sonntagmorgen!" Weiter sagte sie nichts, wurde aber blutrot und ging mit schnellen Schritten vorwaerts. Nellie und Ilse wechselten einige verstaendnisvolle Blicke, und aus Nellies Schelmenaugen leuchtete etwas wie heimliche Schadenfreude ueber die angefuehrte Rosi. "Hast du noch etwas zu besorgen, Rosi?" fragte sie die aufgeregte Pastorin, "sonst koennen wir gleich nach das Rathaus gehen." "Ich begreife dich nicht, Nellie," gab Rosi unwillig zur Antwort. "Wir sind doch keine Studenten, dass wir in die Kneipe gehen koennen. Willst du deinen Mann abholen, dann tue es; bitte, entschuldige aber, wenn ich nach Hause gehe." "O, wir lassen dir nicht allein gehen, Rosi, natuerlich gehen wir mit," entgegnete Nellie. Eine rechte Unterhaltung kam zwischen den dreien nicht wieder zustande. Nellie und Ilse machten einige schwache Versuche, mit Rosi ein Gespraech anzufangen, aber sie antwortete kurz und einsilbig. "Ich kenne unsre 'artige Rosi' ja gar nicht wieder," fluesterte Ilse der Freundin zu. "O, ich erstaune mich auch ueber ihr," gab diese ebenso leise zur Antwort, "was hat sie, dass sie ihr Mann nicht in der Kneip laesst? Sie ist eine Tyrann!" Auf dem Nachhauseweg verbarg Rosi ihre Verstimmtheit hinter einer ungemuetlichen Schweigsamkeit, aber man sah ihr an, wie es in ihr kochte und wie sie sich nur muehsam bezwang, ruhig zu erscheinen. Desto gemuetlicher war die Stimmung in dem Ratskeller, wo die beiden Herren in dichte Rauchwolken gehuellt in einer behaglichen Ecke sassen. Dem Pastor mundete das Bier nach langer Entbehrung herrlich, er war in eine redselige Laune gekommen und plauderte von alten Zeiten, als er noch ein froehlicher Studiosus war. "_Tempi passati!_" sagte er mit einem leisen Seufzer. "Aber hier ist es auch gemuetlich," fuhr er dann fort, indem er sich noch fester in seine Sofaecke zuruecklehnte und in Erinnerungen versunken dem blauen Dampf seiner Zigarre zusah, wie dieser in die Hoehe stieg und langsam zerrann. "Nicht wahr, das Bier schmeckt Ihnen?" fragte Althoff. "O, das ist famos! Seit meiner Studienzeit habe ich es nicht so gut getrunken." Und er liebaeugelte mit dem frisch gefuellten Glase, das vor ihm stand, und aus dem er dann einen tiefen Trunk tat. - Der Doktor hatte oefter nach der Tuere gesehen, da er noch immer hoffte, Nellie wuerde die Pastorin ueberredet haben, sie abzuholen. "Ich dachte, Ihre Frau wuerde sich noch haben bewegen lassen, hierherzukommen," sagte er zum Pastor und fuegte erklaerend hinzu, als er dessen erstaunt fragende Augen auf sich gerichtet sah: "Ich hatte meiner Frau naemlich geschrieben, dass wir die Damen hier erwarteten." "So, so, das hatten Sie geschrieben? Werter Herr Doktor, meine Frau geht in kein Wirtshaus, sie sagte es ja noch heute morgen." "Das war doch nur Scherz," fiel Althoff ein. "Nein, ach nein, in solchen Dingen scherzt meine Frau nicht." Ein bedauernder Zug glitt bei diesen Worten ueber die Zuege des Pastors, von denen jetzt die ruhige Behaglichkeit verschwunden war. Der Gedanke an seine Frau machte ihn unruhig, er sah nach der Uhr und meinte, es waere die hoechste Zeit, dass sie gingen; energisch trieb er jetzt zum Aufbruch, an den er noch eben zuvor nicht gedacht hatte. "Ich moechte doch meine Frau nicht warten lassen," sagte er, indem er sich seinen Ueberzieher anzog. Unterwegs schwaermte er noch immer von dem schoenen Fruehschoppen und erklaerte scherzend, dass er bald mal wieder kommen wuerde, allein schon des guten Bieres wegen. Als sie am Althoffschen Hause angelangt waren, ueberlegte er im stillen, wie er Rosi am besten beschwichtigen koennte und was er zu ihren Vorwuerfen sagen wollte. Er stieg zoegernd die Treppe hinauf und dachte: "Wie wird sie mich wohl empfangen?" Aber Rosi empfing ihn besser, als er erwartete. Nellie und Ilse hatten es fertig gebracht, sie zu besaenftigen, ihnen verdankte es der Pastor, dass er von seiner Frau zwar foermlich und gemessen, aber wenigstens ohne die erwartete Gardinenpredigt begruesst wurde. Mit keinem Worte erwaehnte sie, wo er gewesen war, und als Nellies Mann lebhaft bedauerte, dass die Damen nicht nachgekommen waeren, schwieg sie auch. Der Pastor atmete erleichtert auf und setzte sich in bester Stimmung mit den uebrigen zu Tische. Es schien, als erwarteten ihn heute lauter Genuesse. Doktor Althoff hatte einen feinen alten Wein aus dem Keller geholt und forderte lebhaft zum Trinken auf. "Frau Pastor," sagte er zu Rosi, "Sie muessen aber besser trinken. Sie sind ja wahrhaftig noch beim ersten Glase. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Gatten, dessen Trunkfestigkeit ich heute morgen bewundert habe. Und zu spasshaft ist es, dass er noch obendrein behauptet, er koenne jetzt nichts mehr vertragen, als Student haette er - nun, ich gebrauche die Worte Ihres Gatten - einen ganz anderen Stiefel vertragen koennen." Der Pastor rueckte unruhig auf seinem Stuhle hin und her und sah seine Frau, die nicht von ihrem Teller aufblickte und kein Wort erwiderte, scheu von der Seite an. Warum schwieg sie heute nur so beharrlich? Es wurde ihm nachgerade unheimlich, da es doch sonst ihre Art nicht war. Wenn nur der Doktor auf ein andres Thema kommen wollte, aber immer wieder fing er an, alle moeglichen Studentenfahrten zu erzaehlen, die der Pastor ihm diesen Morgen in froehlicher Kneiplaune zum besten gegeben hatte. Die bedeutungsvollen Blicke, die er ihm zuwarf, schien er nicht zu verstehen, ja als er ihn mit dem Fusse anstiess, zog er den seinigen schnell fort, als waere er aus Versehen dagegen gestossen. Nellie und Ilse unterhielten sich koestlich und hoerten aufmerksam zu, aber seine Frau verzog keine Miene. "Wenn sie nur einmal ein Wort sagte," dachte er, ihre Ruhe kam ihm zu unnatuerlich vor. Bis jetzt wusste sie noch nichts von allen seinen lustigen Streichen. Er hatte sie ihr wohlweislich verschwiegen, denn ihr pedantischer Sinn wuerde dieselben doch nicht begriffen haben. Und doch, wie schoen war seine lustige Studentenzeit gewesen, wie uebermuetig hatte er damals sein koennen. Aber das war schon lange, lange her! Zum zweitenmal heute wurden diese Erinnerungen lebhaft in ihm wachgerufen. Von seinen Jugendlieben hatte er dem Doktor leichtsinnigerweise auch erzaehlt; wenn er wenigstens davon schwieg, aber in demselben Augenblick schlug auch schon das Wort "Flammen" an sein Ohr, und mit ahnungsloser Breite erzaehlte Althoff, wieviel reizenden Maedchen jener nachgelaufen waere. Der Pastor senkte bei diesen Erzaehlungen die Augen wie ein junges Maedchen, denn er fuehlte, dass jetzt Rosis Blick strafend auf ihm ruhte. Verlegen griff er immer wieder zu seinem Weinglas und stuerzte einige Glaeser voller Hast hinunter. Er suchte nach einem Ausweg, dem Gespraech eine andre Wendung zu geben. Aengstlich sann er darueber nach, stand dann ploetzlich auf und schlug mit dem Messer an sein Glas. Als Rosi ihres Mannes geroetete Wangen und glaenzende Augen sah, sprang sie auf und ging zu ihm. "Bitte, lieber Adolf, setze dich wieder," sagte sie anscheinend sanft und legte die Hand auf seine Schulter. Da drehte er sich herum und wollte den Arm um sie schlingen, aber unwillig wich sie zurueck. "Ich wollte mich nur bei unsern liebenswuerdigen Wirten fuer die freundliche Aufnahme bedanken, Roeschen," sagte er laechelnd. "Fuer die wirklich reizende Aufnahme, die wir hier gefunden haben." Ohne sich von Rosis strengem Gesicht beirren zu lassen, fuhr er zu dem jungen Ehepaar gewendet fort: "Sie muessen uns auch recht bald besuchen, und dann kommen wir auch wieder zu Ihnen, denn es ist zu schoen hier. Der Wein ist koestlich, das Essen schmeckt so gut und Sie, lieber werter Herr Doktor, sind ein so praechtiger Mann," hier erhob er seine Stimme, "und die Frau Doktor ist eine kleine famose Frau. Ach, so etwas haben wir nicht auf unsrem einsamen Lande. - Roeschen, lass mich doch," wehrte er seine Frau ab, die sich ihm wieder genaehert hatte und ihn zum Schweigen bringen wollte, "ich muss doch den guten braven Leuten danken! Komm Schatz, gib mir einen Kuss." Er breitete die Arme aus und wollte sie kuessen, aber nun riss Rosis Geduld, sie stiess ihn unsanft zurueck und lief zum Zimmer hinaus. Der Pastor bemerkte kaum den Unwillen seiner Frau. "Herr Doktor, die lustige Studienzeit soll leben!" rief er, indem er Althoff sein Glas entgegenhielt, und in seliger Stimmung begann er das alte Burschenlied zu singen: "_Gaudeamus igitur, Juvenes dum sumus._" "O, wie dumm von sie," sagte Nellie halblaut, stand auf und ging Rosi nach. Sie fand sie im andern Zimmer, aufgeloest in Traenen. "Was hast du?" fragte Nellie, "warum weinst du?" "Du fragst auch noch," schluchzte die Pastorin, "und weisst recht gut, warum ich weinen muss? Meinst du, es ist mir angenehm, dass sich mein Mann so betraegt?" "O," gab ihr Nellie entschieden zur Antwort, "dein Mann hat ein gut Betragen. Was macht es, er hat ein klein Schwips und ist lustig, das schadet doch nix?" "Wenn seine Amtsbrueder das saehen, er muesste sich ja zu Tode schaemen!" "Lass doch die dumme Amtsbrueder, sie wissen ja nichts davon. Komm Rosi, geh wieder hinein und tue, als waere nichts geschehen. Es ist gewiss das kluegste, was du tun kannst." Sie fasste die Weinende unter den Arm und wollte sie fortziehen, aber Rosi entwand sich ihr schnell und sagte beleidigt: "Du denkst ueber solche Sachen eben anders, als ich, liebe Nellie; ich kann mich aber nicht so leicht darueber hinwegsetzen. Ich gehe nicht mit! Bitte, schicke das Maedchen nach unsrem Wagen, dass er sofort kommt; ich will nach Hause fahren." "O nein, du musst noch bleiben," rief Nellie. "Nein, auf keinen Fall," entschied Rosi kategorisch und achselzuckend schwieg Nellie. Sie aergerte sich ueber Rosis Halsstarrigkeit und merkte, dass ihre Bitten nichts ausrichten wuerden. Im stillen glaubte sie auch, dass nach diesem Auftritt keine rechte Stimmung wieder aufkommen wuerde, und deshalb gab sie dem Maedchen den Auftrag, den Wagen zu bestellen, ohne Rosi noch weiter zum Bleiben zu noetigen. "Es tut mir leid, dass du fort willst," sagte sie zu ihr, die mit dem Taschentuche ihre geroeteten Augen trocknete. "Ja, mir auch, Nellie, aber glaube mir, es ist das beste, wenn wir fahren; habe vielen Dank fuer deinen freundlichen Empfang. Und nun komm, ich will meinem Mann sagen, dass der Wagen gleich da sein wird." Den Pastor schien das Verschwinden seiner Frau nicht tief beruehrt zu haben. Er unterhielt sich lebhaft mit Althoff und hatte mit Ilse wiederholt auf das Wohl ihres Braeutigams angestossen, was ihr jedesmal eine tiefe Roete in die Wangen trieb. Rosi beherrschte sich und zeigte ein anscheinend ruhiges Gesicht, als sie ins Zimmer trat. Sie trug ihren Hut in der Hand und ihren Mantel ueber dem Arm und legte beides auf einen Stuhl. "Lieber Adolf," sagte sie, zu ihrem Manne tretend, "willst du dich zurecht machen, ich habe den Wagen bestellt und er wird sogleich vorfahren." "Was, Roeschen, geliebtes Weibchen, du willst schon fort?" fragte er. "Ich bitte dich, Adolf, komm, es ist die hoechste Zeit, dass wir uns auf den Weg machen." Krampfhaft nahm sie sich zusammen, und unheimlich sanft klang ihre Stimme. Aber Adolf hatte noch keine Lust zum Gehen. So heiter und fidel war er seit Jahren nicht gewesen. Lustig sang er: "Nach Hause gehn wir nicht, Nach Hause gehn wir nicht, Nach Hause gehn wir lange nicht - -" "Aber Adolf, Adolf, ich begreife dich nicht," unterbrach ihn Rosi, "so komm doch nur, ich will fort!" "Bleiben Sie doch noch, Frau Pastorin," bat Althoff jetzt, aber ein verstaendnisvoller Blick seiner Frau bedeutete ihn, dass er seine Bitte nicht wiederholen solle. Rosi antwortete auch gar nicht darauf; voller Verzweiflung zupfte sie ihren Mann verstohlen am Aermel und trieb fortwaehrend zum Aufbruch. Aber alle Versuche, ihn zum Aufstehen zu bewegen, prallten an ihm ab. "Nein, ich bleibe hier, du kannst allein fahren," erklaerte er mit einer geradezu hartnaeckigen Entschiedenheit und blieb sitzen. Rosi war ausser sich und kaempfte von neuem mit den Traenen. Der gutherzigen Nellie tat sie nun doch leid, sie schlang ihren Arm um sie und fuehrte sie fort. "Zieh dich deine Sachen an, dein Mann kommt dann schon," sagte sie und gab ihr den Mantel. "Das kommt von dem Wirtshausgehen," fuhr die empoerte Pastorin heraus, mit einer Miene, als haette sie in dieser Beziehung schon die truebsten Erfahrungen in ihrer jungen Ehe gemacht. Nellie laechelte, aber sagte nichts. Rosi war zu aufgeregt, in ihren Ansichten zu erhaben und halsstarrig, als dass sie ihr eine andre Meinung haette beibringen koennen. Ilse meldete jetzt, dass der Wagen vorgefahren sei. Von neuem ging Rosi zu ihrem Manne. "So, ich bin fertig, willst du nun kommen?" Er ruehrte sich nicht vom Platze. "Aber Adolf," draengte sie wieder mit weinerlicher Stimme. Lachend sah er sie an. Als er aber ihre heissen roten Wangen und ihre zornig funkelnden Augen bemerkte, erhob er sich endlich. "Ich bliebe so gern noch bei den guten Leuten, es ist so reizend hier; warum muessen wir denn schon fort, Roeschen? Was hast du denn fuer Eile?" Unter solchen Beteuerungen und Fragen, die er fortwaehrend wiederholte, machte er sich zum Aufbruch bereit. Rosi verfolgte seine Bewegungen mit angstvollem Gesicht, es kam ihr vor, als ginge er unsicher die Treppe hinunter, als waere sein Gang schwankend! Es war zu schrecklich, wie konnte er sich so weit vergessen! Sie war froh, dass es schon fast dunkel draussen war, da sah ihn wenigstens niemand. "Roeschen," sagte der Pastor unten zu ihr, "sage dem Kutscher, dass der Wagen aufgemacht wird, ich moechte beim Fahren in die Sterne sehen." Sie gab keine Antwort und riss die Wagentuere auf. "Sage dem Kutscher, dass er den Wagen aufmacht, Kind," wiederholte er. "Ich glaube, Herr Pastor," warf Althoff ein, "zum Fahren im offenen Wagen ist es heute abend zu kuehl, Sie koennten sich erkaelten." "Ich begreife ueberhaupt nicht, wie du auf diese Idee kommst, lieber Adolf," sagte Rosi unliebenswuerdig, "wir sind doch nie im offenen Wagen gefahren. Aber bitte, nun beeile dich und steige ein, damit ich dir die Sachen zureichen kann." Sie draengte ihn zur Wagentuere. Er stieg aber nicht ein, sondern erklaerte mit Bestimmtheit: "Der Wagen soll offen sein, sonst fahre ich nicht mit!" "Herr Pastor, Ihre Frau hat recht," legte sich nun Nellie ins Mittel, die bei seinem Widerstand in Rosis Gesicht ein Ungewitter aufziehen sah, "es ist keine schoene Luft diese Abend, ein ander Mal koennen Sie der Sterne besehen." Sie sprach das erloesende Wort, denn der Pastor bestand nicht laenger auf seinem Willen. Er ging auf Nellie zu und drueckte ihr die Hand. "Frau Doktor, vielen Dank, es war zu schoen, zu schoen," versicherte er voll Begeisterung. Und dann umarmte er Althoff, als naehme er Abschied, mindestens um nach Amerika zu gehen; dann uebermannte ihn die Ruehrung, er konnte nicht mehr sprechen und stieg in den Wagen. Rosi sprang hinter ihm her, machte schnell die Tuere zu, als haette sie Angst, dass er wieder entschluepfen koennte, und trieb den Kutscher zur Eile an. Sie sah noch fluechtig aus dem Fenster und nickte den draussen Stehenden zu, dann zog sie die verblichenen Gardinen dicht zusammen. Die schwerfaelligen Gaeule, durch einige Peitschenhiebe angetrieben, zogen langsam an, und die grosse Kutsche rumpelte von dannen. Als die drei wieder im Zimmer waren, warfen sich Nellie und Ilse ungestuem ins Sofa und brachen in ein unbaendiges Gelaechter aus. "Ihr seid doch noch recht alberne Kinder," sagte Althoff kopfschuettelnd. Aber Nellie sprang auf, hing sich an seinen Hals und drehte ihn im Kreise herum. "Kein strenge Wort, Fred," rief sie lustig, "ich muss mir erst auslachen ueber den Pastoren-Ehepaar." "Ich finde, dass es hier nichts zu lachen gibt, Nellie," sagte er ernst. "Diese Szene zwischen den beiden war sehr peinlich, und ich habe mich ueber Rosi geaergert. Ich kenne sie nicht wieder; aus dem fuegsamen sanften Maedchen ist eine herrische, anspruchsvolle Frau geworden, die mit ihren pedantischen, verkehrten Ansichten ihrem Manne das Leben schwer zu machen scheint." "Ich bin auch erstaunt, wie sehr sich Rosi veraendert hat," sagte Ilse. "Sie hat ihren Mann vollstaendig unter dem Pantoffel." "O, wie wird es das arme Mann jetzt in die Gardinenkutsch' schlecht ergehen," rief Nellie. "Ich moecht nicht in seine Fell sitzen, wie viel artige Redens wird ihn Rosi halten. O, und er war so lustig, er tut mich leid!" "Rosi hat nicht nur toericht, sondern auch unrecht gehandelt; sie haette mit Scherz ueber die Sache weggehen sollen, statt durch ihr Fortlaufen solche Ungemuetlichkeit hervorzurufen. Nur durch ihr albernes Benehmen ist es so weit gekommen. Sie hat sich laecherlich gemacht. Es ist durchaus unwuerdig von einer Frau, wenn sie stets ihren Willen durchsetzen will." Ilse war bei diesen Worten ihres frueheren Lehrers nachdenklich geworden. Hatte sie bis jetzt auch stets ihren Willen durchsetzen wollen und dachte sie nicht, dass es in der Zukunft auch so sein muesste? Ja, Doktor Althoff hatte recht, es machte einen laecherlichen, unwuerdigen Eindruck, wenn die Frau herrschte und der Mann sich fuegte. Heute hatte sie sich davon ueberzeugen koennen. Ein Pantoffelheld, wie graesslich, nein, den moechte sie nicht zum Manne haben. Und doch, wenn sich Leo jetzt und kuenftig immer ihrem Willen fuegen sollte, wuerde er etwas anderes sein? Haette sie nicht so gedacht, waere es so weit gekommen? Waere es nicht besser gewesen, sie haette nachgegeben? Vergab sie sich dadurch etwas? Fiel es ihr unangenehm auf, wenn sich Nellie den Wuenschen ihres Mannes in bereitwilligster Weise fuegte und war sie deshalb eine untergeordnete Natur ohne selbstaendigen Willen? Nein, durchaus nicht, Nellie war nur klug, sie verstand es, fuegsam zu sein, und erreichte durch ihr Nachgeben mehr, als durch eigensinnigen Widerstand; das hatte Ilse schon oft bemerkt. - Ein Gefuehl der Reue wallte ploetzlich heiss in ihr auf, und sie gestand sich, dass alles anders waere, wenn sie nur das eine Mal nachgegeben haette. "Du bist ja so still geworden," sagte Nellie, "an was denkst du?" "Ach, an gar nichts," gab sie ausweichend zur Antwort. "Nellie," fragte sie dann nach einer Weile ploetzlich, "nicht wahr, du magst es doch auch nicht leiden, wenn der Mann unter dem Pantoffel steht?" "O, eine Pantoffelmann ist mich zum Totlachen, ich verachte ihn," rief die junge Frau. - Ilse ertappte ihre Gedanken an diesem Abend noch oft bei Leo, und die ganze Nacht traeumte sie von ihm. Sie war mit ihm zusammen, er sah aber ganz anders aus, als sonst, seine hohe Gestalt hatte etwas von der Unterwuerfigkeit des Pastors, und zu allem, was sie sprach, sagte er: "Ja, ganz wie du wuenschest, mein Kind." Das fand sie schrecklich und wurde schliesslich aergerlich, bis er ihr sagte: "Du willst ja, dass ich mich dir in allem fuegen soll. Nur weil ich es nicht tat, hast du mich doch verlassen." Sein blasses, demuetiges Gesicht brachte sie zur Verzweiflung, und sie flehte ihn auf den Knien an, dass er doch wieder anders werden moechte, so wie er frueher war; sie wollte sich auch aendern und sie koennten dann wieder so gluecklich sein wie frueher. Als sie hierauf sehnsuechtig die Arme nach ihm ausstreckte, um ihn an ihr Herz zu druecken, griff sie in die leere Luft, - das Traumbild war verschwunden. Da quaelte sie die Reue und entlockte ihr heisse Traenen, und als sie endlich aufwachte, fuehlte sie, dass sie wirklich geweint hatte, und der Traum zog noch einmal beaengstigend an ihrem Geist vorueber. Sie fragte sich, ob sie, wenn er jetzt kaeme, ihn wohl mit offenen Armen empfangen wuerde? Ja, ach wie gern, antwortete ihr Herz. - "Aber er kommt ja nicht," dachte sie traurig, "denn er liebt mich nicht mehr. Und doch wollte ich anders werden, kaeme er mich zu holen, aber mich so weit erniedrigen und ihn um Verzeihung bitten, nein, das kann ich nicht, das darf er nicht von mir verlangen." - * * * Leo litt unsagbar unter der Trennung von seiner Braut. Wie Ilse hoffte, dass er ihr schreiben oder zu ihr kommen wuerde, so begruesste auch er jeden neuen Tag in der Hoffnung, ein Lebenszeichen von ihr zu erhalten und jeden Abend ging er enttaeuscht zur Ruhe. Eine rastlose Unruhe ergriff ihn schliesslich, er versuchte sich durch eine angestrengte Taetigkeit zu betaeuben, aber es fehlte ihm die Lust am Arbeiten. Er suchte Zerstreuungen, aber er hatte kein Vergnuegen daran. Nichts half ihm, sein jetziges Leben ertraeglicher zu machen, die peinvollen Zweifel zu verscheuchen, die in ihm auftauchten. Sollte er sich in Ilse geirrt haben? Diese Frage quaelte ihn unzaehlige Male, und doch, - nein, nein, das war ja nicht moeglich, so zuversichtlich kann man nicht auf einen Menschen bauen, um dann getaeuscht zu werden. Aber warum schwieg sie? Glaubte sie wirklich, dass er nach diesem Fall eine Versoehnung zwischen ihnen herbeifuehren koennte? Er hatte fest darauf gerechnet, dass sie einsehen wuerde, wie unrecht sie ihm getan habe, und dass sie umkehren wuerde auf dem gefaehrlichen Wege, den sie beschritten hatte. Sie unterwarf seine Liebe einer harten Pruefung. War sie derselben so sicher, oder war sie ihr gleichgueltig? Sein verschlossenes, veraendertes Wesen fiel seinen Eltern auf, doch ohne Arg, den wahren Grund nicht ahnend, schoben sie es auf sein angestrengtes Arbeiten, das er auf ihre besorgten Fragen vorschuetzte. Sie waeren tief betruebt gewesen, haetten sie gewusst, was zwischen dem Brautpaar vorgefallen war. Leo hatte ihnen gelegentlich kurz erzaehlt, dass Ilse einige Zeit bei ihrer Freundin zubrachte und bei seinen seltenen Besuchen im Elternhause wusste er das Gespraech immer von seiner Braut abzulenken. Eines Tages erklaerte er seinen Eltern, dass er sich einige Zeit Urlaub genommen habe, da er fuehle, wie er der Erholung, der Auffrischung beduerfe. Deshalb habe er vor, fuer einige Wochen mit einem Freunde nach Paris zu gehen, der dort seine Studien fortsetzen wolle. Herr und Frau Gontrau waren ueber den ploetzlichen Entschluss wohl etwas verwundert, aber Herr Gontrau billigte ihn vollstaendig und fand es sehr lobenswert, dass er Ilsens Abwesenheit zu dieser Reise benuetzte. Frau Annes kluge und diplomatisch abgefasste Briefe an Gontraus liessen keinen Argwohn in ihnen aufkommen. Sie bestellte ihnen Gruesse von Ilse, entschuldigte ihr Schweigen auf die beste, glaubhafteste Art und vertroestete sie immer von neuem auf einen baldigen Brief, dessen Ausbleiben sie dann wieder durch alle moeglichen Ausfluechte erklaeren musste; Ilse hatte naemlich auf ihre Anfrage, ob sie Leos Eltern, die so viel und oft nach ihr fragten, nicht einmal schreiben wolle, geantwortet, dass ihr dies unmoeglich sei. Und Frau Anne dachte, es waere am Ende auch besser, wenn sie nicht schriebe, denn das Gezwungene, was ein Brief unter diesen Verhaeltnissen haben wuerde, musste die Eltern Leos, denen sie stets eine kindliche Liebe entgegen gebracht hatte, und die mit so grosser Zaertlichkeit an der Schwiegertochter hingen, doch befremden. Leo reiste fort, nachdem er sich zuvor noch von seinen Schwiegereltern verabschiedet hatte. Seit jenem Abend war er nur selten bei ihnen gewesen. Zwischen seinem Schwiegervater und ihm war eine Spannung entstanden, denn Herr Macket konnte es ihm nicht verzeihen, dass er seinem Liebling nicht nachgereist war und ihn wiedergeholt hatte. Frau Anne war es zwar gelungen, ihren Mann davon zu ueberzeugen, dass Leo ueber Ilsens kuehnen Streich nicht mit Leichtigkeit hinweg gehen koennte, aber die Sehnsucht nach seinem Kinde packte ihn oft zu heftig und dann konnte er einen heimlichen Groll gegen Leo nicht ganz unterdruecken, wenn er schliesslich auch einsah, dass derselbe ungerecht war. Leo hatte seit jener Nacht nicht wieder mit seiner Schwiegermutter ueber Ilse gesprochen, und auch sie erwaehnte sie nicht. Frau Anne teilte Nellie mit, dass Leo nach Paris gereist waere. "Was wird Ilse dazu sagen?" schrieb sie. "Ich fuerchte, sie wird mit dieser Reise wenig einverstanden sein. Ich aber halte eine Zerstreuung, eine Ausspannung fuer Leo notwendig, denn er ist blass und ernst geworden, und ich lese in seinem Herzen, wie schwer der Kummer auf ihm lastet. Wann wird dieser Zustand ein Ende nehmen? Ich hege die besten Hoffnungen fuer Ilses Bekehrung, aber manchmal zage ich doch, und dann denke ich voll Angst und Zweifel, wenn sie nun ihren Trotz nicht bricht, was wird dann? Leo gibt diesmal nicht nach, das weiss ich, denn an einem einmal gefassten Entschluss haelt er mit eiserner Beharrlichkeit fest. Sollen die beiden jungen Menschen eines unglueckseligen Missverstaendnisses wegen fuer ihr ganzes Leben ungluecklich werden? Es waere schrecklich, und diese Strafe zu hart fuer Ilsens Unbeugsamkeit. Auf Sie, liebe Frau Doktor, baue ich am meisten und ich glaube, dass es Ihnen am besten gelingen wird, unser Kind auf den richtigen Weg zurueckzufuehren. Sie haben einen grossen Einfluss auf Ilse, welche Sie schwaermerisch liebt, und darum hoffe ich innig, dass Sie es vermoegen, ihren Trotz zu brechen. Ich leide sehr unter den jetzigen Verhaeltnissen und mag das meinem Manne nicht zeigen, dem die Trennung von Ilse ohnedies so schmerzlich ist. Darum komme ich zu ihnen, kleine Frau, und schuette mein Herz aus und hole mir Trost bei Ihnen! Der Himmel gebe, dass sich noch alles zum Besten wende! Ihre muetterliche Freundin Anne Macket." Und Nellie verstand es, Trost zu spenden. Sie schrieb Frau Anne umgehend wieder, und in ihrer drolligen gemuetvollen Weise schilderte sie ihr die Beobachtungen, welche sie bei Ilse anstellte. "Es geht schon besser mit sie," hiess es in dem Briefe, "sie versinkt in eine tiefe Nachdenken und tut Fragen an mir, bei denen ich in ihr Inneres schaue. O, zagen Sie nicht, Ilschen liebt ihren Braeutigam noch, und wenn man sie in Ruhe laesst, wird sie eines Tages eine Einsicht haben und seine Verzeihung erbitten. Von der Reise nach Paris sage ich ihr nix, denn ich glaube auch nicht, dass sie dieser Reise gern sieht!" - - * * * Bei Flora war grosse Gesellschaft! Die Gaeste waren schon zum Teil versammelt, als Althoffs mit Ilse eintraten. Sie wurden von Flora stuermisch begruesst, und dann stellte sie Ilse vor, deren neue Erscheinung mit Neugierde gemustert wurde. Eine Dame in mittleren Jahren in steifem hartblauem Seidenkleid und grellrosa Rosen im Haar und vor der Brust, die ihre nicht mehr jugendliche Gesichtsfarbe unvorteilhaft hervorhoben, naeherte sich Ilse sofort und ueberhaeufte sie mit einer Menge Fragen, so dass das junge Maedchen kaum zu Atem kommen konnte und nicht imstande war, sie alle zu beantworten. Sie hatte auch gar keine Lust dazu, denn die Neugierde dieser Dame war ihr zu unangenehm, und sie wunderte sich, dass Nellie, welche daneben stand, oft statt ihrer in der liebenswuerdigsten Weise die gewuenschte Auskunft gab, und als sie von der Dame fuer einen der naechsten Nachmittage zum Kaffee eingeladen wurde, bereitwilligst zusagte. "Da gehe ich aber nicht mit," dachte Ilse. Zu Nellie sagte sie spaeter leise: "Wer ist denn eigentlich diese schreckliche Frau, die alles wissen muss? Ich haette ihr an deiner Stelle keine ihrer neugierigen Fragen beantwortet." "O, waer ich ein dummes Ding," entgegnete Nellie mit schlauem Laecheln, "denn diese Dame ist die Frau vom Direktor, hat viel Einfluss auf ihr Mann, und wenn ich unfreundlich bin gegen ihr, muss arme Fred buessen. Ich mag ihr auch nicht, aber ich bin klug." "In ihren Kaffee brauchen wir aber doch nicht zu gehen, nicht wahr?" "Natuerlich, _darling_, da muessen mir hin und uns fein brav benehmen," neckte Nellie die Freundin. Ein junger Mann trat in diesem Augenblick zu den beiden und reichte Ilse den Arm, um sie zu Tisch zu fuehren. Es war der Assistent von Floras Mann, Doktor Andres, dessen liebenswuerdiges Benehmen und kluges, vornehmes Gesicht Ilse schon vorhin bei der Vorstellung aufgefallen war. Im altdeutschen Esszimmer stand die lange gedeckte Tafel, die Ilse schnellen Blickes ueberflog. Zwei Lampen, deren schwaches Licht durch rosa Lampenschirme noch mehr gedaempft wurde, standen zu beiden Enden des Tisches. In der Mitte prangte ein phantastisch aufgeputzter Tafelaufsatz, mit Blumen und Fruechten in wirrem Durcheinander gefuellt, der sein Haupt bedenklich nach der einen Seite neigte. Das war Florchens Werk, man sah es auf den ersten Blick. Jeder fand auf seinem Platz einen von Flora verfassten Vers, in einem Blumenstraeusschen versteckt. Mit strahlenden Augen erntete sie jedes Lob ein, das ihr ueber ihre dichterische Begabung gespendet wurde; freilich die spoettischen Mienen dabei bemerkte sie nicht. Ilses Verschen besang in ueberschwenglicher Weise die junge Braut. Sie las den Zettel und legte ihn dann erroetend neben sich hin. Ihr gegenueber sass Flora mit dem jungen Referendar, den sie damals getroffen hatte, als sie ihren ersten Besuch bei Flora machte. Er hatte eben das zusammengefaltete Papier aus seinem Blumenversteck hervorgezogen und las mit laechelnder Miene den fuer ihn bestimmten Vers. Erwartungsvoll sah ihn Flora an und liess sich dann mit vielem Behagen seine suesslichen Schmeicheleien gefallen. Das war ein Scherzen und Lachen, Flora schien waehrend der ganzen Zeit bei Tische nur Auge und Ohr fuer ihren Nachbar zu haben. Wie unvorteilhaft sah die junge Frau heute wieder aus! Ueberladen mit Spitzen und Blumen war ihr Anzug. Unwillkuerlich musste Ilse an Floras griechische Haarfrisur denken, damals als sie in der Pension die erste Tanzstunde mit Herren hatten. Es war doch zu komisch gewesen, wie sie da alle vor der Tuer standen und die mutwillige Grete dem klassisch frisierten Haupt einen Stoss gab, dass es gegen die Tuere flog. Ein vergnuegtes Laecheln huschte bei dieser Erinnerung ueber Ilsens Gesicht. "Sie scheinen an etwas sehr Angenehmes zu denken," unterbrach die Stimme des jungen Arztes ihre Gedanken, waehrend er die jugendlich frische Maedchengestalt im einfachen weissen Kleide mit Wohlgefallen betrachtete. "Natuerlich, Herr Doktor," rief Flora ueber den Tisch herueber, "Fraeulein Ilse denkt an etwas sehr Schoenes, an ihren Braeutigam naemlich." Und der Referendar hob sein Glas in die Hoehe und hielt es ihr entgegen. "Der Glueckliche soll leben," sagte er. Eine heisse Roete stieg in Ilses Wangen, zoegernd nahm sie ihr Glas und stiess mit ihm an. Der helle Ton der beiden Glaeser toente wie ein schriller Missklang in ihrem Ohre, und der Blick, den ihr der junge Mann dabei zugeworfen hatte, war so durchdringend, als suchte er in ihrer Seele zu lesen, was sie in diesem Augenblick bewegte. Verlegen schlug sie die Augen nieder, aber selbst durch die gesenkten Lider fuehlte sie seine brennenden Blicke auf sich gerichtet. "Gnaediges Fraeulein, darf auch ich mir erlauben, auf das Wohl Ihres Herrn Braeutigams anzustossen?" Wie liebenswuerdig klang diese Bitte ihres Nachbars! Ohne Scheu sah Ilse auf und blickte in ein Paar ruhige ernste Augen, denen sie nicht auszuweichen brauchte. "Ich danke Ihnen," sagte sie leise und griff nach ihrem Glase. Doktor Andres glaubte ihr nichts lieberes erweisen zu koennen, als wenn er in dem Gespraechsthema fortfuhr; denn wovon konnte man eine Braut besser unterhalten, als von ihrem Braeutigam? Er fragte, wie lange Ilse schon verlobt waere, wann sie heiraten wuerde und was ihr Verlobter waere. Sie haette ihm vielleicht unbefangener geantwortet, wenn sie die Augen ihres Gegenueber nicht unablaessig auf sich ruhen gefuehlt, wenn sie nicht empfunden haette, mit welcher Aufmerksamkeit jedes ihrer Worte drueben belauscht wurde. "Ich habe unter meinen Studiengenossen einen sehr lieben Freund," sagte der Arzt zu Ilse, "der auch Jurist war und jetzt schon laengere Zeit wohlbestallter Assessor ist. Vor ungefaehr zwei Jahren bekam ich seine Verlobungsanzeige, und er kuendigte mir dabei mit wenigen Zeilen einen ausfuehrlichen Brief an, der bald eintreffen sollte, aber bis heute noch nicht erschienen ist. Die alten Beziehungen scheinen zu erkalten, wenn man verliebt und verlobt ist, wahrscheinlich nehmen die Liebesbriefe zu viel Zeit in Anspruch. Sie muessen das ja aus Erfahrung wissen, gnaediges Fraeulein. Ich bin von Heidelberg, wo wir einige Semester zusammen studierten, nach Berlin gegangen und seit einem halben Jahre bin ich hier am Hospital Assistent des Doktor Gerber. - Mein Freund wird sich wundern, wenn ich naechstens von hier aus einen Angriff auf ihn ausueben werde, denn ich moechte gern mal wieder etwas von ihm hoeren. Vielleicht ist er schon in den Hafen der Ehe eingelaufen und ein biederer, solider Ehemann geworden. Ich kann ihn mir als solchen nicht vorstellen, er war ein urfideles Haus, ein famoser Korpsbruder, der gute Gontrau." Es war ein Glueck, dass er sich eben jetzt zur Seite wandte, weil ihm seine Nachbarin eine Schuessel reichte, und dass er deshalb nicht bemerken konnte, wie Ilse bei der Nennung dieses Namens zusammenfuhr und blass wurde. Und wieder begegnete sie den forschenden Blicken des Referendars, der wie auf der Lauer zu sitzen schien und dem, trotz der lebhaften Unterhaltung mit Flora, nichts von dem Gespraech des ihm gegenuebersitzenden Paares entging. Ilses Zusammenschrecken bei dem bewussten Namen interessierte ihn augenscheinlich aufs hoechste. Was fuer eine Bewandtnis mochte es damit haben? Ploetzlich ueberflog ein triumphierendes Laecheln seine Zuege, er beugte sich zu Flora hinueber und fragte sie, wie der Braeutigam von Fraeulein Macket hiesse. Trotzdem er leise gesprochen hatte, hoerte Ilse doch seine Frage, und voller Angst, dass ihr Nachbar Floras Antwort vernehmen koennte, richtete sie schnell einige gleichgueltige Worte an ihn. Erleichtert atmete sie auf, als gleich darauf die Tafel aufgehoben wurde und der junge Doktor sie in das andre Zimmer fuehrte. Sie haette so gerne Nellie gesprochen, aber die Freundin hatte ihr mit einem innigen Haendedruck freundlichst zugenickt und sass jetzt neben einer alten Dame, mit der sie sich eifrig unterhielt. So musste sie sich denn bis spaeter gedulden und kam der Aufforderung eines jungen Maedchens, neben ihr Platz zu nehmen, gerne nach. Die Herren hatten sich zum Teil in das Rauchzimmer zurueckgezogen, und Flora huepfte von einem zum andern. Sie wollte durchaus die liebenswuerdige Wirtin spielen, was ihr aber schlecht gelang, denn durch ihr fahriges Wesen versetzte sie ihre Gaeste mit in Unruhe. "Sie muessen uns etwas vorsingen," wandte sie sich jetzt an das junge Maedchen neben Ilse, die jedoch gegen diese Zumutung eifrig Einsprache erhob, da sie ganz heiser waere und so lange nicht gesungen haette. Mit diesen ueblichen Ausreden suchte sie sich frei zu machen, aber Flora liess nicht locker. "Sie muessen, Liebste," entschied sie schliesslich kurzweg und ging in ein kleines Nebengemach, wo ein Klavier stand, das sie oeffnete. Nachdem sie noch die Lichter angezuendet und aus einem Schrank einen Stoss Noten hervorgeholt hatte, den sie auf das Instrument warf, kam sie zurueck und zog die junge Dame, die ihr wie ein Opferlamm folgte, mit sich fort. Eine geraume Zeit stoeberten die beiden in den ungeordneten Noten herum, und als sie endlich etwas Passendes gefunden hatten, ertoente ein lauter Akkord, der energisch um Ruhe zu bitten schien. Die Unterhaltung im Damenzimmer verstummte denn auch sofort, und die Herren in Doktor Gerbers Zimmer daempften ihre Stimmen. Einen Genuss konnte man die nun folgende musikalische Auffuehrung nicht nennen, denn die gaenzlich ungeschulte Stimme war nur duenn und klein, und der ebenso mangelhafte Vortrag konnte dafuer nicht entschaedigen. Man brauchte ja nur das junge Maedchen mit der schlechten Haltung und der eingefallenen Brust anzusehen, aus der unmoeglich ein freier Ton hervorquellen konnte. Die Damen hatten ihre Plaetze verlassen und sich in dem Musikzimmer im Halbkreis dicht hinter der Saengerin gruppiert, was dieselbe vollends befangen machte und aus der Fassung brachte. Sie kam denn auch mehrere Male aus dem Takt, und es erklangen infolgedessen solche Disharmonien, dass einige der Zuhoererinnen das Taschentuch vor den Mund nahmen, um ihre Heiterkeit zu verbergen. Ilse fand den Gesang abscheulich, und da sie sich dabei langweilte, schlich sie sich leise von der offenen Tuere, in welcher sie gestanden hatte, fort und trat an ein kleines Tischchen, das neben dem Blumentisch stand und mit Buechern und Bildern bedeckt war. Dorthin setzte sie sich und blaetterte mechanisch in den Buechern. Es war ihr sehr erwuenscht, jetzt nicht sprechen zu muessen, denn der Gedanke, dass der junge Mediziner ein Freund Leos war, beschaeftigte sie unaufhoerlich. Sie entsann sich jetzt auch, von Leo den Namen Andres oefter gehoert zu haben. Gerne haette sie sich bei Tisch noch von ihm erzaehlen lassen, ihn nach manchem gefragt, aber der scharfe Beobachter gegenueber laehmte ihre Zunge. Der Gesang hatte jetzt auch teilweise die Herren herangelockt, nur Floras Mann liess sich in seinem lebhaften Gespraech mit einem Kollegen nicht stoeren, und er musste es sich daher gefallen lassen, dass seine Frau ihn zur Ruhe verwies. "Dieses ewige Fachsimpeln von dir ist schrecklich," sagte sie halblaut und scheinbar im Scherz. "Du solltest doch auch fuer hoehere Genuesse zugaenglich sein, lieber Ernst." "Du weisst, Kind," antwortete er freundlich, "ich bin nun einmal ein Musikbarbar. Weil ich absolut nichts davon verstehe, habe ich auch kein Interesse dafuer." "Ja, leider," sagte Flora, ihm verdriesslich den Ruecken wendend, und ging wieder in das andre Zimmer. "Es ist traurig," sagte sie mit einem vielsagenden Blick zu Herrn Lueders, "wenn alle Poesie, alles Hoehere in dem Materiellen und Nuechternen untergeht. Mein Mann hat fuer nichts weiter Sinn als fuer seine Kranken." Der Referendar gab ihr eine zerstreute Antwort, er hatte jetzt Wichtigeres zu sehen und zu hoeren, als Flora mit ihrem Klagelied. Scheinbar ganz in die Musik vertieft, sass er auf einem Sessel und hatte den Kopf in die Hand gestuetzt, als wollte er sich von nichts ablenken lassen, was ihm den koestlichen Genuss stoeren koennte. Durch seine Finger aber sah er unverwandt nach dem kleinen Tisch hinueber, wo Ilse sich eingehend mit Doktor Andres unterhielt, der sich eben zu ihr gesetzt hatte. Ilse war heimlich darueber erfreut gewesen, denn nun bot sich vielleicht die Gelegenheit, ihn nochmals nach Leo zu fragen, und sie sann darueber nach, wie sie das Gespraech auf ihn bringen koennte, ohne dass er es auffaellig faende. "Sie lieben wohl die Musik nicht, gnaediges Fraeulein?" richtete der junge Mann das Wort an sie. "Ich vermute dies wenigstens, weil diese Buecher Sie viel mehr zu interessieren scheinen, als der Gesang." "O doch," erwiderte Ilse schnell, "aber offen gestanden, diese Stimme und der Vortrag sind doch zu schlecht, finden Sie nicht auch?" Er nickte lachend. "Uebrigens ist mein Urteil gaenzlich unzulaenglich," meinte er dann, "denn ich habe es nur bis zu den Kneipliedern gebracht und selbst diese sang ich falsch; ich habe deswegen auch von meinen Heidelberger Freunden manchen Spott ertragen muessen." [Illustration] Ilse bebte vor innerer Erregung; jetzt konnte sie ihn wohl nach Leo fragen, ohne dass er Argwohn schoepfen wuerde. "In Heidelberg ist es wohl sehr schoen?" fragte sie unbefangen. "O," rief er entzueckt, "wenn es ein paradiesisches Stueck Erde gibt, so ist es Heidelberg. Sie muessen es sehen und kennen lernen und werden mir recht geben. Wenn ich mich mal verheiraten sollte, dann wuerde ich meine Hochzeitsreise entschieden nach Heidelberg machen." "Diesen guten Rat koennen Sie ja ihrem Freunde geben," unterbrach ihn jetzt Ilse, "von welchem Sie mir vorhin erzaehlt haben, der verlobt ist und dem Sie naechstens schreiben wollen. Wie hiess er doch, Gontring? Verzeihen Sie, ich habe den Namen wieder vergessen." "Gontrau," verbesserte er. "Richtig, Gontrau," wiederholte sie leise und schlug die Augen nieder, damit diese ihm nicht verrieten, welche Heuchlerin sie in diesem Augenblick war. "Gontrau und ich," fuhr der Doktor fort, dem man die Freude an diesem Gespraech auf dem Gesichte las, "haben eine herrliche Studienzeit in Heidelberg verlebt. Er war ein ausgelassener lustiger Mensch; wie viel tolle Streiche haben wir zusammen ausgefuehrt! Gontrau ist ein huebscher Kerl, und die Heidelberger Schoenen waren nicht blind dagegen, sondern machten ihm foermlich den Hof." "Ach?" fragte Ilse etwas zoegernd. Diese Eroeffnungen waren ihr ja hoechst interessant! Bisher war sie nie auf den Gedanken gekommen, dass auch andre Maedchen sich in Leo verliebt haben koennten und umgekehrt. "Hat Ihr Freund den jungen Damen auch die Kur geschnitten?" forschte sie weiter. "Nun natuerlich," antwortete er mit Lachen, "ein flotter schneidiger Student wird doch fuer die Huldigungen der Damenwelt nicht unempfindlich bleiben, noch dazu in Heidelberg, wo es so reizende Maedchen gab, als wir dort studierten. Gontrau stellte uns immer in den Schatten, bei Baellen, Partien, Schlittenfahrten, ueberall war er die Hauptperson. Den einen Winter hatte er sich sterblich in eine junge Amerikanerin verliebt, welche die Freundin einer Professorentochter und bei dieser zum Besuch war." Mit der gespanntesten Aufmerksamkeit hoerte Ilse zu, und als er schwieg, fragte sie schnell: "Sagen Sie mir, bitte, wirklich richtig verliebt war Ihr Freund in das junge Maedchen?" So eindringlich war diese Frage, und in ihrer Stimme klang ein leises Beben, dass der junge Mann sie verwundert anblickte. Sie merkte es und bezwang sich, wieder ruhig zu erscheinen. "Bitte, sagen Sie," wiederholte sie moeglichst unbefangen, aber mit schwer unterdrueckter Neugierde, denn es brannte ihr auf der Seele, das weitere zu wissen. "Ja, wirklich richtig verliebt war er." Doktor Andres gebrauchte Ilses eigene Worte und sprach sie mit Betonung aus, innerlich belustigt ueber ihre kindliche Frage. "Er hat ihr die schoensten Blumen geschickt, und wir hatten ihn sogar in Verdacht, dass er ihr Gedichte gemacht hat." Gewiss sind das dieselben, die er mir nachher geschickt hat, dachte Ilse, und ein Gefuehl eifersuechtiger Abneigung gegen diese Nebenbuhlerin stieg in ihr auf. - Leo hatte dieselbe nie erwaehnt, - warum nicht? Ob sie wohl huebsch war? "Wie sah denn das junge Maedchen aus?" fragte sie laut. "War sie schoen, blond oder dunkel, gross oder klein? Bitte, bitte, beschreiben Sie mir dieselbe!" Wieder musste der junge Arzt laecheln, denn Ilses Neugierde kam ihm so echt weiblich vor; er konnte ja nicht wissen, dass hinter dieser 'weiblichen Neugierde' ein berechtigtes tiefes Interesse versteckt war. "Sie fragen aber gruendlich," sagte er lachend. "Man merkt, dass Sie eine Juristenbraut sind. Hier haben Sie die Personalbeschreibung der jungen Dame, also: sie war mittelgross, zierlich und grazioes. Sie hatte dunkle Haare und wundervolle schwarze, wahrhaft phaenomenale Augen -" "Also wirklich schoen," unterbrach ihn Ilse. "Ja, auffallend liebreizend, dabei klug, aber etwas kokett. Sie war sich zu genau bewusst, wie verfuehrerisch sie war." "Ihr Freund lag ihr natuerlich zu Fuessen?" "Wenn Sie das woertlich meinen, gnaediges Fraeulein, so habe ich Gontrau in dieser Situation allerdings niemals gesehen; aber es ist wohl moeglich, denn er war ein feuriger Anbeter." Haette der junge Mann nur eine Ahnung gehabt, welchen Sturm seine Worte in dem Herzen seiner Nachbarin hervorriefen, er haette gewiss geschwiegen. Aber es plauderte sich zu angenehm ueber alte Erinnerungen, besonders da Ilse eine so eifrige Zuhoererin war. - "Liebte denn das junge Maedchen Ihren Freund auch?" fragte sie weiter. "O, natuerlich! Der begeisterte Verehrer gefiel ihr sehr gut, das haben ihm ihre schwarzen Augen oft genug verraten. Es wuerde mich nicht gewundert haben, wenn sie sich verlobt haetten, aber die Amerikanerin reiste dann wieder fort, und 'aus den Augen, aus dem Sinn'. Er hat sie jetzt gewiss laengst vergessen, diese seine Studentenliebe. Dass seine Zuneigung keine ernstliche war, beweist ja schon seine Verlobung mit einer andern." Ilse war aufgestanden, denn sie konnte ihre immer wachsende Aufregung nicht mehr verbergen. "Mir ist es auch unbegreiflich, dass sich Ihr Freund nicht mit jener Dame verlobt hat," sagte sie mit blitzenden Augen. "Wie konnte er es wagen, sich mit einer andern zu verloben? Das ist doch merkwuerdig, das ist unrecht! Er haette seiner ersten Liebe treu bleiben muessen; warum hat er es auch nicht getan? Gewiss ist er doch jetzt recht, recht ungluecklich geworden?" Ihre Stimme erstickte unter hervorbrechenden Traenen, und sie stuetzte zitternd die Hand auf den Tisch. Doktor Andres sprang nun ebenfalls in hoechster Bestuerzung auf. "Aber, mein Fraeulein," rief er ganz ratlos und erschrocken, "was ist denn geschehen? Ich verstehe Sie nicht, erklaeren Sie mir doch Ihre Aufregung! Habe ich Sie beleidigt? Ich bitte Sie, so sprechen Sie doch," draengte er, als Ilse ihm keine Antwort gab und noch immer mit den Traenen kaempfte. Sie antwortete nicht. "Habe ich Sie denn beleidigt?" fragte er nochmals mit verzweifelter Miene, ohne jede Ahnung, was er angestiftet hatte. Sie schuettelte schweigend den Kopf. "Kennen Sie denn das junge Maedchen, oder vielleicht meinen Freund Gontrau?" fragte er endlich, denn er hatte sich ueberlegt, dass zwischen ihr und einer dieser Personen doch irgend eine Beziehung sein muesste. Von seinem Platze aus hatte der Referendar das Gespraech der beiden belauscht, nichts war ihm davon entgangen, und er benutzte diesen Augenblick, um naeher zu treten. "Dachte ich es mir doch, als ich Sie mit dem gnaedigen Fraeulein so eifrig im Gespraeche sah, dass von Assessor Gontrau, dem gluecklichen Braeutigam des Fraeuleins, die Rede sein wuerde," sagte er scheinbar harmlos und unbefangen, aber ein haessliches Laecheln umspielte seinen Mund. Ilse war bei seinen Worten jaeh erblasst, und eine namenlose Verlegenheit bemaechtigte sich ihrer. Mit unverhohlener Verachtung sah sie Lueders an; als sie aber seinen triumphierenden Blicken begegnete, wandte sie sich erschrocken ab. Was wollte er von ihr? Sie kannte ihn ja kaum und er sie auch nicht. Warum sah er sie so sonderbar an? O Gott, wenn er ihre Unterhaltung mit dem Doktor gehoert hatte! Und was sollte sie jetzt zu diesem sagen, wie sich entschuldigen? In ihrer peinlichen Verlegenheit wagte sie nicht aufzublicken, denn sie fuehlte, dass ihr die Schamroete heiss in die Wangen gestiegen war. Sie betrachtete es als ein Glueck, dass Flora jetzt dazu kam und sie aus ihrer Pein erloeste. Die junge Frau suchte den Referendar. Die Saengerin schien jetzt kein Ende finden zu koennen, nachdem sie nach so langem Straeuben einmal den Anfang gemacht hatte. Fuer jedes Lied erntete sie viel Beifall und dieser begeisterte sie zu immer neuen Vortraegen. Nun wollte sie gern die Trompeterlieder von Riedel singen, welche sie sich aber nicht selbst begleiten konnte. Herr Lueders sollte deshalb die Begleitung uebernehmen. Er war damit durchaus nicht einverstanden, denn es war ihm viel interessanter zu erfahren, wie Ilse sich aus der Affaere ziehen, was sie zur Aufklaerung sagen wuerde. Dass zwischen ihr und ihrem Braeutigam etwas vorgefallen war, unterlag fuer ihn keinem Zweifel mehr, und zu gern haette er des Raetsels Loesung, die ihm jetzt sehr nahe zu sein schien, vernommen. Mit Ausreden und Ausfluechten suchte er daher Floras Aufforderung zu entkommen. Er koenne nicht begleiten, gab er vor, er spiele zu stuemperhaft und sei besonders heute nicht zum Spielen aufgelegt. Aber Flora liess sich nicht zurueckweisen. "Sie Heuchler!" rief sie und schlug ihm kokett auf die Schulter, "nur Schmeicheleien wollen Sie hoeren, warten Sie nur! Zur Strafe muessen Sie uns nachher noch etwas deklamieren, wissen Sie, das kleine Gedicht von mir, das so unverdiente Gnade vor Ihren Augen gefunden hat. Kommen Sie, Boesewicht!" Sie legte ihren Arm in den seinigen, und widerstrebend ging er mit, im Innern wuetend auf Floras Dazwischenkommen. Die beiden jungen Leute hatten wenig auf Floras Geschwaetz geachtet. Ilse stand noch immer stumm und wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Sie ueberlegte fortwaehrend, was sie Andres sagen solle; musste er sich denn nicht mit vollem Recht ueber ihr Schweigen wundern? Sollte sie ihm die Wahrheit gestehen? Nein, das ging nicht, sie muesste sich unsagbar vor ihm schaemen. Sie wusste keinen Rat und hatte nur den einen Wunsch, aus dieser so peinvollen Lage befreit zu werden. Wenn nur Nellie kaeme! Sass sie denn noch immer nebenan im Musikzimmer? Suchend schweiften ihre Blicke umher. "Suchen Sie jemand, gnaediges Fraeulein?" fragte Andres, "soll ich Ihre Freundin rufen?" Sie schuettelte den Kopf. "Nein, bitte bleiben Sie," bat sie fast flehend. Ihm war die Lage, in der er sich befand, gleichfalls hoechst unangenehm, und er haette derselben gern ein Ende gemacht. Aber durfte er fortgehen, da sie ihn so flehentlich bat, zu bleiben? Dass sein Freund Gontrau wirklich der Braeutigam der jungen Dame war, daran konnte er nach Ilses Erschrecken nicht zweifeln. Haette sie auch sonst dem Referendar nicht widersprochen, oder, wenn ein Irrtum vorlag, denselben aufgeklaert? Warum hatte sie ihm verschwiegen, dass sie die Braut Gontraus war, was sollte das bedeuten? Die ihm eigene wahre Herzensbildung sagte ihm aber, dass er sie nicht fragen duerfe, ohne sie peinlich, ja vielleicht schmerzlich zu beruehren. So standen denn die beiden wieder eine Weile schweigend nebeneinander. Ilse spielte mit dem Blatt einer Faecherpalme und Andres betrachtete eine Photographie, welche auf dem Tische stand. Im Nebenzimmer sang das junge Maedchen in den schmelzendsten Toenen und mit einer fast ans Weinen grenzenden Ruehrung die Klage Margarethas: "O Lieb', wie bist du bitter, o Lieb', wie bist du suess!" So wenig Ilse sonst zu sentimentalen Anwandlungen geneigt war, heute fanden diese Worte ein Echo in ihrem Herzen. Ja, suess war auch ihr die Liebe erschienen, aber musste sie nicht jetzt die Bitterkeit kosten? Wenn sie die Menschen fuer eine glueckliche Braut hielten, war es nicht eine Luege, dass sie es mit laechelndem Gesichte zu bestaetigen schien? Musste sie nicht sagen: "Ihr taeuscht euch, ich bin nicht gluecklich, ich bin ungluecklich, tief ungluecklich?" War denn wirklich der Grund ihres Zerwuerfnisses mit Leo wichtig genug, um solche Folgen zu haben, dass sie nun Komoedie spielen musste, was sie in die aergsten Verlegenheiten brachte, ihr die groesste Pein bereitete? "Ach, waere es doch nicht so weit gekommen, haette ich mich nicht zu der unglueckseligen Flucht hinreissen lassen!" So dachte sie jetzt in ihrem Innern und seufzte schmerzlich auf. Die schweigsame Nachbarin wurde dem Doktor auf die Dauer ungemuetlich, und als er ihren Seufzer vernahm, ergriff er die Gelegenheit und fragte, ob er sie vielleicht zu den andern Damen fuehren solle. Sie nickte zustimmend und legte ihre Hand in seinen Arm, doch nach dem ersten Schritt blieb sie schon wieder stehen. Was sollte er von ihr denken, wenn sie ihm nach ihrem vorausgegangenen Betragen kein erklaerendes Wort sagte? Er wuerde sie mindestens fuer recht albern halten. Sie fuehlte, dass seine Blicke fragend auf ihr ruhten. Ja, sie musste ihr raetselhaftes Benehmen entschuldigen. Sie sah zu ihm empor und blickte in seine Augen, die ernst und teilnahmvoll auf sie gerichtet waren und eine edle Seele, ein feines Zartgefuehl verrieten. Sie haette sehr bedauert, von dem ihr so sympathischen jungen Manne falsch beurteilt zu werden, was sie nach diesem Zwischenfall ja gar nicht anders erwarten konnte. Und darum wollte sie sprechen, so schwer es ihr auch fiel. "Bitte, Herr Doktor," sagte sie leise, "wir wollen uns noch einen Augenblick setzen, ich muss Ihnen etwas sagen." Er erfuellte ihre Bitte und sah sie voller Erwartung an. Eine kleine Pause entstand, denn Ilse konnte sich nicht entschliessen, Leos Namen ueber die Lippen zu bringen, den sie in der letzten Zeit gar nicht mehr ausgesprochen hatte, den sie wie ein Geheimnis tief verborgen im Herzen trug. "Sie halten mich gewiss fuer recht kindisch," begann sie endlich, "und wissen nicht, was Sie von mir denken sollen. Ja, es ist wahr, Assessor Gontrau ist mein Braeutigam. Es war nur ein Scherz von mir, wenn ich Ihnen das nicht gleich sagte. Ich wollte gern Ihre Ueberraschung sehen, wenn Sie es dann von mir erfuhren, und da - da aergerte ich mich so, dass Herr Lueders mir den Spass verdarb." Der Augenblick hatte Ilse diese Ausrede eingegeben, und sie wunderte sich jetzt selbst, wo sie den Mut hergenommen hatte, dieselbe auszusprechen. Hinterher schaemte sie sich ihrer Luege und blickte verlegen vor sich nieder. Sie hatte gegen ihre Natur gehandelt, denn Offenheit war eine grosse Tugend von ihr. Daher kam sie sich veraechtlich vor und schwankte, ob sie dem Doktor nicht die Wahrheit eingestehen solle, denn er hatte sie doch sicher ohnedies schon durchschaut. Aber als sie in sein Gesicht blickte, in dem sie keinerlei Zweifel ueber ihre Worte entdeckte, als sie in seine unbefangenen Augen sah, die jetzt mit einem freudigen Ausdruck auf sie gerichtet waren, da schwieg sie doch. Herzlich streckte er ihr die Hand entgegen und rief vergnuegt: "Wie freue ich mich, die Braut meines lieben Gontrau kennen gelernt zu haben! Von Herzen wuensche ich Ihnen zu solchem Manne alles Glueck. Aber bitte, Fraeulein, nun erzaehlen Sie mir von ihm. Wie geht es ihm, was tut und treibt er? Sobald ich Zeit habe, werde ich ihm schreiben." Andres glaubte wirklich an Ilses Erzaehlung, und dass ihre Aufregung nur aus dem Aerger ueber den verdorbenen Scherz entstanden war. Deshalb plauderte er mit aller Unbefangenheit weiter und merkte nicht wie peinlich die junge Braut die Fragen nach ihrem Verlobten beruehrten. Sie sass wie auf Kohlen und antwortete, so geschickt sie konnte. Aber auf die Dauer wurde es ihr aeusserst schwer, die Diplomatin zu spielen, zu der sie nicht geboren war. Sie wurde immer verwirrter, gab zerstreute Antworten, und als der Doktor sie fragte, ob sie und Leo sich taeglich schrieben, und bat, sie moechte ihn in ihrem naechsten Briefe von ihm gruessen, da brachte sie es nicht mehr ueber das Herz, sich noch weiter zu verstellen. "Ich - ich," stammelte sie, "schreibe meinem Braeutigam nicht und kann ihn deshalb auch nicht von Ihnen gruessen." Er glaubte, sie scherze und fragte lachend, ob sie ihm denn ueberhaupt niemals schriebe. Nun war es mit ihrer Fassung ganz zu Ende. "Nein," wiederholte sie erregt, "ueberhaupt nicht! Ach, ich bitte, schweigen Sie, ich kann Ihnen jetzt nicht erklaeren, jetzt nicht sagen -" Sie brach ab, denn zum ersten Male schaemte sie sich ihres Zerwuerfnisses mit Leo aus tiefstem Herzensgrunde; es kam ihr unwuerdig vor, und in dieser Stimmung wusste sie nichts andres zu tun, als ihr Taschentuch herauszunehmen und wie ein Kind zu weinen. Erschrocken und erstaunt ueber dieses neue Raetsel, das ihm seine Nachbarin aufgab, war Andres aufgesprungen, und er empfand es wie eine Erleichterung, als in diesem Augenblick Nellie hereintrat, welche die Freundin holen wollte, da ein allgemeiner Aufbruch stattfand. Sie war nicht wenig ueberrascht, Ilse in dieser Verfassung vorzufinden. Fragend blickte sie auf den jungen Arzt, der ihr mit einem Achselzucken antwortete, als wollte er sagen: "ich weiss auch nicht, was dieses bedeuten soll." Er entfernte sich hierauf rasch und die beiden Freundinnen waren allein. "Um Gottes willen, Ilschen," fluesterte Nellie, "fasse dich, die Leute duerfen dir so nicht sehen. Was hast du, was ist geschehen?" "Ach Nellie, ich habe mich furchtbar blamiert," schluchzte Ilse, "lass mich jetzt, ich erzaehle dir alles, wenn wir zu Hause sind." "Tu der dumme Tuch ins Tasch; die andern kommen, was sollen sie von dich denken? Sieh nur, wie der Referendar dir prueft." "Der unverschaemte Mensch," fuhr Ilse auf, "was faellt ihm ein? Er fixiert mich fortwaehrend, schon bei Tische hat er kein Auge von mir verwandt, der freche Bursche!" "Still, Ilschen, nicht so laut," mahnte Nellie die Aufgeregte, "er hoert ja, was du sagst." "Und wenn er es hoert," sagte Ilse absichtlich laut, mit einem drohenden Blick auf Lueders, "er soll es hoeren, ich wuerde es ihm auch ins Gesicht sagen." Nellie hielt ihr den Mund zu. Sie war ueber Ilses Heftigkeit nicht sehr verwundert, kannte sie dieselbe doch hinlaenglich und wusste, dass sie ebenso entschieden in ihren Abneigungen, wie in ihren Zuneigungen war. Die uebrige Gesellschaft umstand im Kreis die Wirte und nahm mit vielen Komplimenten Abschied. "Nimm dir zusammen, wir muessen gehen," sagte Nellie leise zu Ilse. "Na, was habt ihr beide denn wieder zu tuscheln?" fragte Althoff, der jetzt zu ihnen trat. "Kommt, Kinder, alle machen einen schoenen Knix, jetzt ist die Reihe an uns. Ilse, Sie sehen ja so elegisch aus, was ist Ihnen denn? Hat Florchen Ihnen etwa ihre Gedichte zu lesen gegeben und sind Sie davon so geruehrt geworden?" Ilse lachte gezwungen zu diesem Scherz, denn ihr war nichts weniger als laecherlich zu Mute, fuehlte sie sich doch beschaemt und unzufrieden, dass sie sich soweit hatte hinreissen lassen, kurz und gut, sie wurde von den selbstquaelerischsten Gedanken heimgesucht und dadurch in hoechst unbehagliche Laune versetzt. Auf dem Heimweg, den man gemeinschaftlich antrat, haette sie zu gern den jungen Arzt noch gesprochen, denn ihr Benehmen ihm gegenueber lag ihr bleischwer auf der Seele. Einer nach dem andern trennte sich von der Gesellschaft. Zuletzt hatten Althoffs nur noch Andres und den Ilse so verhassten Referendar, welche beide in ihrer Naehe wohnten, zu Begleitern. "Wenn dieser Mensch doch nicht mitginge," dachte Ilse; er machte es ihr unmoeglich, mit Andres noch ein Wort zu sprechen, denn er wich nicht von dessen Seite. Als sie vorm Hause angelangt waren, kam ihr noch eine guenstige Gelegenheit zu Hilfe, ihr Herz zu erleichtern. Althoff richtete eine eingehende juristische Frage an Lueders, und Nellie, am Arm ihres Mannes, hoerte dem Gespraeche zu. Diesen Augenblick benutzte Ilse, sich dem jungen Arzt zu naehern und ihm hastig zuzufluestern: "Verzeihen Sie mir mein dummes Betragen von heute abend. Nicht wahr, Sie halten mich fuer recht kindisch?" "Aber mein Fraeulein!" rief er etwas verlegen ueber dieses offene Bekenntnis. "Warum sollte ich Ihnen boese sein? Ich -" "Still!" unterbrach sie ihn, und ihre Augen blickten scheu zur Seite, denn die Unterhaltung zwischen den beiden Herren war beendet. "Gute Nacht!" sagte Ilse und reichte Andres freundlich die Hand, waehrend sie Lueders eine foermliche Verbeugung machte, ohne seine ihr entgegengestreckte Hand zu beachten; sie haette sich nicht entschliessen koennen, sie zu beruehren, einen solchen Widerwillen floesste ihr dieser Mensch ein. Noch lange sass sie in ihrem Stuebchen und dachte nicht daran, sich auszuziehen. Die Vorgaenge des Abends erregten sie noch zu sehr, als dass sie haette schlafen koennen, wenn sie sich auch zur Ruhe gelegt haben wuerde. Von Nellie hatte sie sich schnell getrennt, ohne ihr eine weitere Aufklaerung zu geben. Heute konnte und wollte sie nicht mehr von der Geschichte sprechen. Desto mehr beschaeftigte dieselbe ihre Gedanken. Sie konnte sich nicht beruhigen, dass sie sich so dumm benommen hatte. Wenn der Doktor nur nicht von den Liebesgeschichten angefangen haette, die ihr doch unmoeglich gleichgueltig sein konnten. Sie hatte niemals darueber nachgedacht, ob Leo wohl schon eine andere Neigung gehabt haben mochte, bevor er sich in sie verliebte. Und nun erfuhr sie zufaellig, dass er ein flotter Kurmacher gewesen war und dass ihn die jungen Maedchen sehr umschwaermt hatten. Zum zweiten Male ertappte sie sich heute abend auf einem eifersuechtigen Gefuehle, das ihr bis dahin voellig unbekannt gewesen; auf der andern Seite aber beruehrte sie es doch nicht unangenehm, dass Leo so begehrenswert erschien. Nur die schoene Amerikanerin wollte ihr nicht aus dem Sinn. Wieder stieg die Frage in ihr auf: warum hat er dir nie etwas davon erzaehlt? Warum hat er diese Bekanntschaft verschwiegen? Gewiss ist ihm die Erinnerung an das schoene Maedchen schmerzlich, die wohl so viel schoener und klueger war, als du. Unwillkuerlich trat Ilse vor den Spiegel und betrachtete sich eingehend. Es war ihr nie eingefallen, daran zu denken, ob sie wohl fuer Leo huebsch genug waere; nie hatte sie Wert darauf gelegt, sich fuer ihn besonders zu schmuecken, wie das andre Braeute fuer den Braeutigam tun. Aber heute pruefte sie ihr Gesicht Zug fuer Zug, und verglich sich im geheimen mit der reizenden Amerikanerin, deren Bild ihre Phantasie ihr so lebhaft vorfuehrte, als haette sie dieselbe schon in Wirklichkeit gesehen. Sie fand sich grundhaesslich gegen ihre Phantasiegebilde, welches sie mit einem ueberlegenen Laecheln anzublicken schien. Sicher hatte Leo eine Photographie seiner Angebeteten, die er immer bei sich trug, womoeglich auf dem Herzen. Die Augen, so hatte Doktor Andres gesagt, waeren geradezu 'phaenomenal' gewesen. Wieder verglich sie im Spiegel die ihrigen damit, und wieder fiel der Vergleich zur groessten Unzufriedenheit aus. Ein leises Klopfen an der Tuer hatte Ilse in der eifrigen Betrachtung ihres Spiegelbildes ganz ueberhoert. Nellies Stimme liess sie zusammenfahren. [Illustration] "Warum siehst du dich denn so in den Spiegel, _darling_, mit so boese Augen, dass ich mir fuerchten muss?" Ilse war betroffen zurueckgetreten in groesster Verlegenheit, die aber von Nellie nicht bemerkt wurde, weil sie an ganz etwas anderes dachte. "Es ist gut, dass du nicht schon schlaefst und ich dein suesses Schlummer stoeren muss," sagte sie, "denn Ilschen, ich habe eine grosse Neuigkeit, die ich nicht bis morgen frueh bei mich behalten konnte, ohne dass du ihr weisst. Lies hier dieses Brief!" Ilse zitterte. "Eine grosse Neuigkeit," so sagte Nellie und brachte einen Brief. Von wem war er, was fuer eine Neuigkeit mochte er enthalten? Dann schalt sie sich toericht, dass sie bei der geringsten Gelegenheit an Leo dachte, als ob jede Neuigkeit von ihm handeln, jeder Brief von ihm kommen muesste. Er dachte gewiss nicht daran, ihr zu schreiben, ja vielleicht hatte er sie schon vergessen. Bei diesem tragischen Gedanken fuehlte sich Ilse so weich werden, dass sie sich abwandte, damit Nellie ihr Gesicht nicht saehe. Diese hatte inzwischen den Brief aus dem Kuvert genommen und entfaltet. "Du ratst nicht, von wem er kommt, _darling_. Denke dich nur, er ist von unsre Orla!" "Von Orla?" fragte Ilse erstaunt. "Ja, von ihr. Aber hier lies." Sie reichte ihr mit diesen Worten die eng beschriebenen Blaetter mit den energischen, fast maennlichen Schriftzuegen. "Lies laut vor," bat Nellie, "ich habe ihn so in der Flucht gelesen, weil neugieriges Fred ihn haben wollte." Ilse las wie folgt: Liebste Nellie! Ich sehe im Geiste dein erstauntes Gesicht beim Empfang dieser Epistel, denn leider ist unser brieflicher Verkehr seit deiner Verheiratung gaenzlich eingeschlafen. Mein langer Brief, welcher dir meine Glueckwuensche dazu brachte, blieb unbeantwortet. Aber du kennst mich wohl hinreichend, um zu wissen, dass ich ganz und gar kein Talent zur Empfindlichkeit besitze und trotz deiner Schweigsamkeit nicht einen Augenblick an deiner Freundschaft gezweifelt habe, von der ich heute den ausgiebigsten Gebrauch machen moechte. Doch davon spaeter! Vor allen Dingen, liebe Nellie, wie geht es dir und deinem Gatten? Ich hoffe, dass euch diese Zeilen im besten Wohlsein antreffen. Ich denke viel an euch beide gluecklichen Menschen und goenne euch von Herzen alles Gute dieser Erde, mit dem Wunsche, das Schicksal moechte euch immer so gnaedig gesinnt bleiben. Du wunderst dich, wie ich in diese bei mir so ungewoehnliche Stimmung geraten bin? Du sollst eine Erklaerung haben. Warum fiel ich auch nicht sofort mit der Tuere ins Haus und hielt mich erst bei grossen Umschreibungen auf! Doch der Mensch ist nun einmal so wunderlich und haelt sich das unangenehme gern so lange wie moeglich fern. Mit wenigen Worten will ich dir erzaehlen, wie uebel mir das Geschick mitgespielt hat. Du weisst ja, liebe Nellie, mein Grossvater war reich, im Wohlstand bin ich aufgewachsen und erzogen. Mein Grossvater glaubte dem einzigen Kinde seiner Tochter, das nur zu frueh elternlos geworden, nichts versagen zu duerfen, er hat mich in jeder Beziehung verwoehnt. Ich dachte, obwohl sonst, wie du ja weisst, eine skeptische Natur, das muesste so sein und koenne niemals anders werden. Aber, dass aus einer reichen Erbin mit einem Schlage ein armes Maedchen werden kann, muss ich an mir selbst nun bitter genug erfahren. Ich will dir brieflich nicht auseinandersetzen, auf welche Weise wir unser ganzes Vermoegen verloren haben. Mein armer Grossvater ist vollstaendig fassungslos, und das mit anzusehen, ist mein groesster Kummer. Der Mann, der noch so lebensfrisch war, ist gebrochen; er bildet sich ein, mein ganzes Glueck zerstoert zu haben und quaelt sich mit den groessten Vorwuerfen, trotzdem ich ihm immer wiederhole, dass ich, jung und kraeftig wie ich bin, es wage, mit dem Leben aufzunehmen. Das sage ich uebrigens auch nicht nur ihm zum Trost, es ist meine wahre Meinung, die ich damit ausspreche. Ich zage nicht, und Sorge macht mir nur die Zukunft meines alten Grossvaters, dem es ein schwerer Gedanke ist, nun von seinem Sohne abhaengig zu sein, obgleich mein Onkel und dessen Frau ihn in der liebevollsten Weise aufnehmen werden. Mein Onkel hat glaenzende Einnahmen; er hat aber vier Kinder und fuehrt ein grosses Haus, denn mit der Aussicht auf die erhebliche Erbschaft seines Vaters brauchte er ja nicht ans Sparen zu denken. Auch mir haben meine Verwandten in liebenswuerdigster Weise ihr Haus geoeffnet und mir ein Heim darin angeboten. Doch ich habe ihnen erklaert, dass ich mich auf meine eigenen Fuesse stellen wollte, und mein Onkel hat mir eine ansehnliche Summe zu meiner Ausbildung zur Verfuegung gestellt. Mit meinen sogenannten 'noblen Passionen' ist es nun natuerlich vorbei; ich ritt und fuhr mit grosser Leidenschaft, war ueberhaupt dem Sport sehr ergeben. Tempi passati! Mein Reitpferd, ein Goldfuchs, ist bereits fuer einen hohen Preis verkauft, und auch fuer mein Pony-Dreigespann habe ich schon einen Kaeufer gefunden. Die schoenen Tiere kommen zum Glueck in gute Haende, das macht mir die Trennung von ihnen leichter! Aber wohin gerate ich? Ich glaube wahrhaftig, ich fange an zu klagen und doch liegt mir nichts ferner als das! Gute Freunde haben mir geraten, eine Gouvernantenstelle anzunehmen, oder Gesellschafterin zu werden; dagegen straeubte ich mich mit aller Energie! Wenn ich mich auch vor den Verhaeltnissen beugen muss, so moechte ich mich doch nicht von den Stimmungen launenhafter Damen und den Unarten verzogener Kinder abhaengig machen. Und dann, du weisst ja, bin ich zu offen und sage, wenn man mich danach fragt, jedem die Wahrheit ins Gesicht. Diese Tugend oder Untugend, wie man will, passt aber nicht fuer eine Gouvernante oder Gesellschafterin. Nein, um keinen Preis ein solches Los! Meine guten Ratgeber haben sich auch schliesslich ueberzeugen lassen, dass ich fuer solche Stellen nicht passe, und billigen jetzt einen andern Plan, den du gleich erfahren sollst. Erschrick aber nicht zu sehr, wenn ich ihn dir mitteile. Ich will mich naemlich immatrikulieren lassen und zwar fuer die medizinische Wissenschaft, die mich von jeher sehr interessiert hat; vielleicht, weil mein Vater ein bedeutender Arzt war, erbte ich diese Neigung. Ich weiss, dass eine lange Zeit vergehen wird, bis meine Studien beendet sein koennen, aber ich schrecke davor nicht zurueck. Meine Verwandten sind mit meinem Vorhaben einverstanden, und ich beabsichtige in Zuerich mein erstes Semester anzutreten. Jetzt kann ich endlich meine Bitte anbringen, nach dieser langen Einleitung, die nun einmal unumgaenglich notwendig war. Die grosse Verehrung, die ich fuer deinen Mann, meinen frueheren Lehrer, empfinde, hat den lebhaften Wunsch in mir wachgerufen, wieder seine Schuelerin zu werden und die Zeit bis Ostern, wo ich nach Zuerich gehe, damit auszufuellen, dass ich unter seiner Leitung die Luecken in meinen Kenntnissen auszufuellen suche. Seitdem ich die Schule verlassen habe, bin ich nicht untaetig gewesen: aus Liebhaberei nahm ich noch regelmaessig Stunden in allen moeglichen Faechern der Wissenschaft und hoffe deshalb, dass ich deinem Manne nicht zu grosse Muehe machen werde. Ersuche ihn in meinem Namen, reiflich zu ueberlegen, ob er gesonnen ist, meine Bitte zu erfuellen, was mich sehr gluecklich machen wuerde, denn ich habe die groesste Hochachtung vor dem Wissen und paedagogischen Talente deines Gatten. Und ist er dann entschlossen, liebe Nellie, meinem Wunsche nachzukommen, dann verliere keine Zeit und benachrichtige mich sofort. Ich mache mich bereit, jeden Tag von hier abreisen zu koennen, und werde mich nach einer zusagenden Antwort von euch gleich auf die Eisenbahn setzen. Du bist wohl so gut und erkundigst dich nach einer passenden Pension fuer mich, bei netten Leuten. Du bist ja so praktisch, dass ich dir alles weitere ueberlasse. Meine Verwandten gruessen dich und deinen Mann unbekannterweise herzlich. Ich freue mich sehr, _notabene_, wenn etwas daraus wird, euch wiederzusehen und bleibe mit den freundschaftlichen Gruessen fuer euch beide, stets St. Petersburg 17/29. 10. 18 .. deine treue Orla Sassuwitsch. "Arme Orla," sagte Nellie bedauernd, als Ilse zu Ende gelesen hatte, "ich hatte ihr stets so gern." "O, ich auch!" rief Ilse. "Aber weisst du, Nellie, ich hatte immer ein bisschen Angst vor ihr; sie ist so klug und sieht einen so durchdringend und scharf an, als koennte sie die geheimsten Gedanken erraten. Zur Studentin passt sie famos! Ob sie wohl noch raucht? Was sagt denn dein Mann dazu, dass sie studieren will, ist er damit einverstanden?" "O, Fred will ihr gern das Unterricht geben, er meint nur, es waere ein grosser Schritt von einer Frau, zu studieren, und will ihr das auch vorstellen. Doch ich sage ihm, Orla hat eine feste Kopf; was sie will, das tut sie, du kannst ihr nicht abbringen. Morgen schreibe ich ihr gleich, sie soll kommen; wir nehmen ihr herzlich gern auf. Und nun, gute Nacht, _darling_, ich bin muede von die langweilige Flora-Gesellschaft und auch du hast schlafrige Augen." Die Freundin war schon laengst fort, und Ilse hatte sich gleichfalls zur Ruhe begeben, lag aber noch wachend im Bette; die Erinnerung an den ereignisreichen Abend raubte ihr den Schlaf. Orlas Schicksal beschaeftigte sie lebhaft. Orla, eine Studentin, das war doch zu interessant! Was wird Flora dazu sagen und die artige Rosi, welche die freidenkende und energische Russin niemals verstanden hatte, sie wird ueber diese Emanzipation gewiss ausser sich sein. Als Gott Morpheus unsre kleine Ilse endlich in seine Arme schloss, traeumte sie lauter wunderliches Zeug. Orla stand in Maennerkleidern vor ihr und hatte das Cereviskaeppchen flott auf das eine Ohr gesetzt. Mit einem kurzen Spazierstoeckchen schlug sie an ihre hohen Stulpenstiefeln und blies aus einer Zigarette zierliche blaue Ringeln in die Luft. Dann wieder erschien Leo in Ilses Traeumen. Er lag zu den Fuessen der schoenen Amerikanerin, die ihn mit ihren schwarzen Augen verfuehrerisch anblickte. Ilse wurde bei diesem Anblick von einer wilden Eifersucht ergriffen, sie wollte dazwischen fahren, war aber wie festgebannt und konnte sich nicht vom Flecke ruehren. - Den Brief an Orla hatte Nellie am andern Tage in aller Fruehe geschrieben; die Antwort war sofort in einem kurzen Telegramm erfolgt, das die Worte enthielt: "Ich werde Montag abend 81/2 Uhr dort eintreffen. Orla." Nach einer Wohnung fuer dieselbe hatte sich Nellie nicht umgesehen, denn selbstverstaendlich wuerde sie die Freundin nicht ausquartieren; sie sollte vielmehr das Fremdenstuebchen mit Ilse teilen. Die bevorstehende Ankunft Orlas war jetzt ein lebhafter Gespraechsgegenstand. Flora fand die Idee, dass Orla studieren wollte, 'einfach genial' und war so begeistert darueber, dass sie behauptete: wenn sie nicht 'Hymens Fesseln' baenden, wie sie sich, stets poetisch, ausdrueckte, wuerde sie ebenfalls studieren, wenn sie auch nicht gerade die medizinische Wissenschaft zu ihrem Studium waehlen moechte, die nach ihrer Meinung nun einmal alles Ideale in der menschlichen Brust ersticke. "Orla und ich verstanden uns von jeher gut, wir sind sozusagen 'geistig verwandt'," sagte sie zu Nellie und Ilse, "ich freue mich deshalb schrecklich, sie wiederzusehen." Im stillen dichtete sie an einem Sonett, welches sie in einem Blumenstrauss versteckt zum Empfange ueberreichen wollte und in dem sie in ueberschwenglichster Weise eine Heldin der Zukunft besang. "Wisst ihr noch, Kinder," fragte sie die Freundinnen, "wie Orla die wirklich grossartige Rede unter dem Lindenbaum hielt, und wie ich ihr damals schon prophezeite, dass einst etwas Grosses aus ihr wuerde? Ich habe mich nicht getaeuscht, ich ahnte, dass sie sich ueber das Niveau des alltaeglichen Lebens erheben wuerde. Ihre gross angelegte Natur strebt nach Hoeherem, mit kraeftiger Hand zerreisst sie die engen Fesseln der Weiblichkeit und stellt sich den Maennern an die Seite. Ich begreife sie, ich verstehe sie voll und ganz, denn wer so wie ich den Drang nach etwas andrem, besserem in sich fuehlt, der leidet bestaendig unter dem Druck der grauen Alltaeglichkeit, welche eine nuechterne, kalte Oede im innersten Gemuet hinterlaesst." Ihre wasserblauen Augen waren bei dieser schoenen Rede schwaermerisch gen Himmel gerichtet, und sie bemerkte deshalb nicht, dass Nellie unwillig den Kopf schuettelte. "O Flora," sagte diese ernst, "du versuendigst dir. Wie darfst du von einer kalte, graue Oede in dein Inneres sprechen und hast ein so guten Mann, ein herziges Baby -, o, wie suess ist das Kind! Waer es mein, wie wollte ich ihr hegen und pflegen. Warum hast du es so wenig um dir? Du musst mit die Kleine spielen, ihr schoene Geschichtens erzaehlen, wie wir es mit unsere kleine Lilli taten." "Verschone mich mit deinen weisen Reden," unterbrach sie Flora beleidigt, aber doch etwas verlegen. "Eine so alberne Mutter, wie du sie eben schilderst, bin ich Gott sei Dank nicht. Das Kind ist gut versorgt. Habe keine Angst, liebe Nellie, ich bin mir der heiligen Mutterpflichten wohl bewusst." Das war wieder echt, wie Flora gesprochen, theatralisch und ueberspannt. Es war ihr offenbar unangenehm, dass Nellie hiervon angefangen hatte, und sie gab deshalb dem Gespraech moeglichst schnell eine andre Wendung. In ihrem Innern dachte Nellie, dass sie es mit den 'heiligen Mutterpflichten' doch wohl nicht so genau naehme; das kleine verschuechterte, nachlaessig gekleidete Stiefkind war der sprechendste Beweis dafuer. Es war nicht froehlich und vergnuegt wie andere Kinder, ein wehmuetiger Ernst lag in seinen grossen Augen, und der kleine Mund war trotzig fest geschlossen. Nur wenn Kaethchen bei ihrem Vater war, dann strahlte sie und ein glueckliches Laecheln machte das Kindergesicht unendlich liebreizend. Um die Mittagszeit stand sie schon lange, bevor er kam, am Fenster und wartete auf ihn. Sah sie ihn kommen, so lief sie ihm entgegen und hing an seinem Halse. Ueber sein ernstes Gesicht flog es dann wie Sonnenschein, er kuesste und liebkoste die Kleine. "Du verwoehnst Kaethe einfach grenzenlos," warf ihm Flora einmal vor, "sie ist bereits furchtbar verzogen, ein schrecklich unartiges Kind, man hat seine liebe Not damit." "Flora, du vergisst, wie lange das Kind mutterlos gewesen ist," sagte er, und man sah ihm an, wie weh ihm ihr hartes Urteil ueber seinen Liebling tat, "ich konnte mich neben meiner Praxis wenig um dasselbe bekuemmern, es war fremden Haenden ueberlassen. Ist es da wunderbar, dass seine Erziehung vernachlaessigt ist? Habe doch Geduld mit ihm." Er wollte noch hinzusetzen: und bekuemmere dich mehr darum, aber er sagte nichts, denn er kannte Floras Empfindlichkeit. Im Anfang ihrer Ehe, als er seine Frau immer am Schreibtische sitzend vorfand, wenn er nach Hause kam, hatte er sie sanft aber instaendig gebeten, sich mehr um den Haushalt zu bekuemmern, denn nie war das Essen zur rechten Zeit fertig, und wenn es auf den Tisch kam, war es nur zu oft ungeniessbar. Da kam er aber schoen an, sie warf ihm vor, er sei doch gar zu materiell und das Essen spiele bei ihm die Hauptrolle. Er war mit Scherz ueber diese unangenehme Bemerkung hinweggegangen und hatte freundlich zu ihr gesagt: "In den Mussestunden, liebes Kind, kannst du so viel schreiben als du willst, aber nie darfst du darueber die Pflichten der Hausfrau und Mutter versaeumen." Das nahm Flora sehr uebel und tagelang sprach sie kein Wort mit ihm. Aber ihre Lebensweise aenderte sie in keiner Beziehung, ja seine Vorwuerfe regte sie nur zu neuen Taten an, in langen Gedichten klagte sie ihr Leid, dass sie eine missverstandene Frau sei. Sie dachte nur an sich; was lag auch daran, dass ihr Mann, wenn er hungrig und muede nach Hause kam, keine Behaglichkeit vorfand, und sich dann in sein Zimmer zurueckzog? Wie konnte man ueberhaupt so prosaisch sein und sich durch solche Dinge die Laune verderben lassen! Sein liebevolles Zureden, seine eindringlichen Vorwuerfe, nichts half, um Flora zu aendern. Da riss dem sonst so gutmuetigen Manne die Geduld, er bat nicht mehr, er verlangte, und es kam zu heftigen Szenen zwischen den beiden Eheleuten. Flora spielte dann die schwer Beleidigte. Doktor Gerber hatte nicht geahnt, als er noch verlobt war und Flora ihn mit ueberschwenglichen Gedichten ueberschuettete, die er nur fluechtig las, dass er einst unter dieser poetischen Ader zu leiden haben wuerde. Er sah es fuer eine Spielerei an, die ein Ende nehmen wuerde, wenn erst ernste Pflichten an die junge Frau herantraeten. Wie bitter wurde er enttaeuscht! Aus der sanften, hingebenden Braut, die ihn schwaermerisch anzubeten schien, in der er eine treue Lebensgefaehrtin, eine sorgende Mutter fuer sein Kind zu finden hoffte, wurde eine unfuegsame, selbstsuechtige Frau, welche Mann und Kind vernachlaessigte und sich obenein noch gekraenkt fuehlte, dass er ihrer dichterischen Beanlagung so wenig Interesse schenkte und so geringes Verstaendnis entgegenbrachte. "Sie mit ihrer idealen Natur passe nun einmal nicht in diese profane Welt," so troestete sie sich schliesslich. Ihr Mann ertrug jetzt alles mit ruhiger Ergebung, nachdem seine Liebe und Guete, dann seine Strenge, ja selbst sein Zorn nichts gefruchtet hatten. Er ging seinem anstrengenden Berufe nach und sagte nichts mehr; Flora war froh, dass sie keine Vorwuerfe mehr hoeren musste und Ruhe hatte. Einen Verehrer ihrer Muse hatte sie in dem Referendar gefunden, dem sie unter vielen Seufzern ihr Schicksal klagte und wie hart es sei, von dem eigenen Manne verkannt zu werden. "Ich habe mir meine besondere Welt geschaffen, in der ich lebe," sagte sie zu Lueders, "denn wer versteht mich? Ausser Ihnen niemand," fuegte sie mit einem gefuehlvollen Augenaufschlag hinzu. Auf Nellie blickte sie mit einer gewissen Geringschaetzung herab, sie ging ja, nach ihrer Meinung wenigstens, vollstaendig in ihrem Mann und den Haushaltungssorgen auf. Als sie ihr das einmal sagte, hatte Nellie erwidert: "Tut nix, von schoene Gedichte und Romans kann mein Mann nicht satt werden, ich bin nun mal ein prosaisches Frau, liebe Dichterin." "Orla wird mit ihren geistigen Interessen wenig Anklang bei Nellie finden," dachte Flora im stillen und meinte, es waere eigentlich besser, Orla wohne bei ihr. Sie beneidete Althoffs grenzenlos um ihren interessanten Besuch und nahm sich vor, mit Orla sehr viel zu verkehren. Ihrem Freunde, dem Referendar Lueders und ihren Bekannten erzaehlte sie mit grosser Wichtigkeit und Ausfuehrlichkeit von der bevorstehenden Ankunft der jungen Russin, die eine intime Freundin von ihr sei, da sie beide sozusagen 'geistesverwandt' waeren, dass sie zusammen in der Pension gewesen seien, und wie sich Orla schon damals durch ihre hervorragende Begabung ausgezeichnet haette. Sie umgab deren Persoenlichkeit mit einem Nimbus, der darauf berechnet war, seinen glaenzenden Schein vorteilhaft auf sie selbst zurueckzuwerfen. Da war es denn bald stadtkundig geworden, welchen Besuch Althoffs erwarteten, und man sah demselben mit Spannung und Neugierde entgegen, ja sogar die Maenner waren begierig, die junge Dame kennen zu lernen! * * * Nun war Orla schon einige Tage bei den Freunden, und da sie sich muede und abgespannt von der Reise fuehlte, ging sie nicht aus dem Hause, ahnungslos, wie sehnsuechtig man im Staedtchen auf ihr Erscheinen wartete und wie sehr sie die Geduld der Neugierigen auf die Folter spannte. Flora kam fast jeden Tag; sie war natuerlich auch auf dem Bahnhof gewesen, als Orla ankam, hatte diese ueberschwenglich umarmt und ihr den Strauss mit dem bewussten Gedicht in die Hand gedrueckt. Orla nahm diese Begruessung etwas kuehl und verwundert auf, war sie doch gerade mit Flora nie vertraut gewesen, deren Natur ihr vollkommen unverstaendlich und unsympathisch war. Dagegen freute sie sich aufrichtig, Ilse wiederzusehen. "Nellie," hatte Ilse vor Orlas Ankunft gesagt, "bitte, erzaehle Orla nur gleich alles -, du weisst schon, die Geschichte mit der Flucht. Wenn sie mich nach Leo fragte, das waere mir schrecklich, denn gerade ihr gegenueber schaeme ich mich doppelt, sie kann gewiss nicht begreifen, dass ich eines lumpigen Streites wegen fortlaufen konnte, sie denkt so erhaben ueber alles Kleinliche." Nellie hoerte mit heimlicher Genugtuung und Freude die Freundin an und sagte zu ihrem Manne: "Du Fred, Ilschen ist auf die Besserung, sie nennt den Streit mit ihre Schatz schon 'lumpig' und meint eine solche 'Kleinigkeit' koenne Orla nicht begreifen." Die drei Freundinnen hatten sich viel zu erzaehlen, und manche Stunde wurde mit alten Erinnerungen verplaudert. Waren diese im Grunde doch noch so frisch und neu; nur zwei Jahre lagen dazwischen und die hatten keine davon verwischen koennen. Die kurze Spanne Zeit hatte aber manche Veraenderungen hervorgebracht, namentlich wollten Orla die drei wuerdigen Hausfrauen unter den Pensionsschwestern nicht recht in den Sinn. "Ich komme mir gegen euch ehrbare Frauen - Ilse rechne ich mit - wie ein Wickelkind vor," sagte sie scherzend. "Na Orla," neckte Ilse, "wie lange wird es dauern, und du bist auch verlobt und verheiratet, du bist so huebsch und klug -" "Um Gottes willen, Ilse," fiel ihr Orla in die Rede, "du willst mir doch nicht etwa Schmeicheleien sagen, Kind! Du weisst doch, dass ich sie hasse." Aber Ilse lag es fern, der Freundin schmeicheln zu wollen. Aus ihren Worten sprach die aufrichtigste Bewunderung und sie war viel zu offen, jemand etwas Angenehmes zu sagen, wenn es nicht ihre wirkliche Meinung war. Die ganzen Tage her hatte sie Orla verstohlen angeblickt, denn sie fand sie jetzt noch viel huebscher, als in der Pension. Sie war groesser und voller geworden, dabei schlank und biegsam wie eine Tanne. Besonders gut gefiel Ilse Orlas 'interessante Blaesse', und in der Tat bot der matte, aber warme Teint im Verein mit den dunklen geistvollen Augen, dem kurzen, leichtgelockten Haar ein unendlich anziehendes und reizvolles Bild. Ihr Profil war scharf geschnitten, ein keckes Stumpfnaeschen verlieh ihrem Gesicht etwas Pikantes, und den kleinen vollen Mund mit den stolz geschwungenen Lippen hatte Flora schon in der Pension als 'vollendet klassisch' besungen. Trotz einer gewissen Schroffheit in Orlas Wesen konnte sie hinreissend liebenswuerdig sein und jedermann bezaubern. Am Tage nach ihrer Ankunft hatte sie den Freunden alles erzaehlt, was sie Trauriges betroffen hatte, und mit ihnen ihre Zukunftsplaene beraten. Doktor Althoff machte sie schonungslos auf alle Schwierigkeiten ihres Entschlusses aufmerksam, und Orla war ihm fuer seine Aufrichtigkeit sehr dankbar, aber - so sagte sie ihm nach einer langen Auseinandersetzung unter vier Augen, so wenig Lichtseiten er ihr auch an ihrem zukuenftigen Beruf gezeigt haette, sie waere trotzdem fest entschlossen, nicht wankend zu werden. "Ich bin, wenn auch keine Pessimistin, doch weit entfernt davon, eine Optimistin zu sein," sprach sie, "ich weiss ganz genau und habe mir das auch reiflich ueberlegt, dass ich einen langen, beschwerlichen Weg vor mir habe, bis ich mein Ziel erreiche, und dennoch schrecke ich nicht zurueck." Nun, an Energie und Begabung fehlte es ihr nicht, das wusste er, denn schon in der Schule hatte er seine Freude an ihr gehabt und war oft ueberrascht gewesen, wie sie bei einem schnellen Fassungsvermoegen fuer eine Frau auffallend klar und logisch dachte. Nie betrieb sie das Lernen oberflaechlich, sie nahm alles sehr genau und erforschte die Dinge bis auf den Grund. Dass es ihr aber heiliger Ernst mit dem Studium war, dass kein Gedanke der Eitelkeit, noch die Sucht nach Aussergewoehnlichem sie dazu bestimmt hatten, das konnte man alsbald merken, denn sie entwarf mit Althoff sofort einen genauen Stundenplan und er hatte sich in der Folge ueber seine eifrige und fleissige Schuelerin nicht zu beklagen. Mit dem Unterricht wurde gleich am uebernaechsten Tage ihres Eintreffens begonnen. "Willst du dir nicht erst ein wenig ruhen?" hatte Nellie gefragt, "du bist von die vielen Aufregungen in der letzte Zeit doch gewiss sehr angespannt?" "Nein, nein, Nellie," gab sie zur Antwort, "ich darf keine Minute Zeit verlieren, ausserdem ist gegen elegische Gedanken, wie sie jetzt manchmal in mir auftauchen wollen, Arbeit das beste Mittel." Sie hatte sich entschieden gestraeubt, bei Althoffs zu wohnen, indem sie behauptete, das ginge nicht, es waere ihr peinlich. Sie wuerde sich daher in den naechsten Tagen selbst nach einer passenden Wohnung umsehen; sie schalt Nellie, dass sie es nicht vorher schon getan haette. Vorlaeufig bewohnte sie mit Ilse das Fremdenstuebchen, und wenn diese abends schon laengst im Bette lag, sass Orla noch auf und arbeitete bis tief in die Nacht hinein. "Aber Orla," sagte Ilse oft, "du darfst nicht so lange aufbleiben, du wirst sonst krank; komm und lege dich schlafen." "Lass mich nur Kind," antwortete Orla, "schlafe ruhig weiter und habe keine Angst, ich werde nicht krank." "Kind, sagt sie immer zu mir," dachte Ilse, "gerade als wenn sie viel aelter waere als ich, und sie ist doch erst neunzehn Jahre alt." Aber dass Orla, trotz des geringen Altersunterschiedes viel reifer und verstaendiger war als sie, das empfand sie nur zu oft und sie kam sich dann ihr gegenueber noch recht kindisch und albern vor. "Gegen Orla bin ich doch furchtbar dumm," sagte sie einmal zu Nellie. "O Ilschen," lachte die junge Frau, "du nicht allein, ich auch. Aber wir wollen ja doch keine Studentens werden und fuer die taegliche Gebrauch sind wir klug genug." "Weisst du, Nellie, wenn Orla mich mit ihren grossen Augen so pruefend und scharf ansieht, dann denke ich immer, dass sie mich in ihrem Innern gewiss recht verspottet und verhoehnt, weil ich davongelaufen bin. Was sagte sie denn eigentlich dazu?" Nellie konnte sie darueber beruhigen, dass Orla sie weder verhoehnte noch verspottete. Sie haette Ilse stets gerne gehabt, weil sie 'Temperament' besaesse, und es taete ihr nur leid, dass sich der kleine Brausekopf selbst bittere Stunden bereitete. "Selbst bittere Stunden bereitete," wiederholte Ilse Orlas Wort, "als ob ich daran schuld waere." Noch glaubte sie nicht an ihr Unrecht, noch war sie im Gegenteil ueberzeugt, dass sie in der Sache selbst im vollsten Recht sei. Allerdings hatte, wenn sie sich die Szene an jenem verhaengnisvollen Mittag ins Gedaechtnis zurueckrief, wohl schon manchmal eine Stimme in ihrem Innern gefluestert: du haettest nachgeben muessen, du warst zu widerspenstig; aber dann hoerte sie im Geiste wieder deutlich Leos beschaemende Worte, und ihre besseren Regungen hielten davor nicht stand. - Als Orla zum ersten Male mit den Freundinnen ausging, flog ihr mancher bewundernde Blick zu, einige Voruebergehende blieben sogar stehen und sahen der neuen Erscheinung musternd nach. Auch Doktor Andres begegnete ihnen, der durch Flora von der 'interessanten russischen Freundin' schon viel gehoert hatte und diese nun mit kritischen Blicken betrachtete. Er hatte sich ein anderes Bild von ihr gemacht, denn von Floras ueberschwenglichen Beschreibungen glaubte er immer nur die Haelfte, weil er sie laengst durchschaut hatte. Er hatte sich unter der kuenftigen Berufsgenossin eine starkknochige, keineswegs anziehende Erscheinung vorgestellt und war nun angenehm ueberrascht, eine schoene junge Dame, deren Weiblichkeit schon aus ihrer anmutigen Erscheinung sprach, zu erblicken. Mit unverhohlenem Wohlgefallen sah er Orla an. "Wer war der grosse stattliche Mann, der uns eben gruesste?" fragte sie, nachdem er vorueber war. Nellie nannte seinen Namen. "Eine sympathische Erscheinung," bemerkte Orla noch. "Uebrigens, Nellie, werden alle Leute, die neu hierherkommen, so angestarrt wie ich? Sie staunen mich ja an wie ein Wundertier. Sieh nur da drueben die Dame, wie sie dir zuwinkt und durch Zeichen zu verstehen gibt, dass du stehen bleiben sollst; wahrhaftig, sie scheut den Schmutz nicht und kommt ueber die Strasse zu uns." [Illustration] Es war die Frau Direktor, die ihre Neugierde nicht bemeistern konnte und unbedingt den fremden Gast von Althoffs kennen lernen wollte. "Liebe Frau Doktor," redete sie Nellie an, "ich habe Sie ja so lange nicht gesehen, es geht Ihnen doch gut, kleine Frau? Und Sie, liebes Braeutchen," wandte sie sich an Ilse, "ist die Sehnsucht nach dem Schaetzchen nicht zu gross, halten Sie es so lange ohne ihn aus? Wie gefaellt es ihm denn in Paris? Gontrau ist doch sein Name, nicht wahr? Ja? Dann habe ich mich nicht geirrt, als ich neulich zufaellig durch einen Bekannten meines Sohnes, einen Referendar, erfuhr, dass Assessor Gontrau sich einen laengeren Urlaub zu einer Reise nach Paris genommen habe. Da wird er Ihnen jetzt gewiss viel Interessantes erzaehlen." Nellie hat Ilse bei diesen Worten erbleichen sehen und unterbrach die redsame Dame deshalb schnell. "Frau Direktor," sagte sie, "darf ich Ihnen unsere Freundin Fraeulein Orla Sassuwitsch vorstellen?" Und nun ergoss sich ueber diese ein gleicher Redestrom; Orla verstand es jedoch geschickt, mit kuehler, aber ausgesuchter Hoeflichkeit ihren Fragen auszuweichen, so dass die aufgeregte Fragerin wenig mehr erfuhr, als sie schon wusste. Die vornehme Zurueckhaltung der jungen Dame imponierte ihr gewaltig, und sie bat sie dringend um ihren baldigen Besuch. "Bitte, kommen Sie aber gleich des Nachmittags mit einer Handarbeit zu einer Tasse Kaffee," sagte sie, Orla die Hand schuettelnd, und verabschiedete sich. "Ich kann diese Frau Direktor nicht ausstehen," meinte Ilse offenherzig, "wie unverschaemt sie jeden ausfragt! Ich koennte ihr kein Wort erwidern, so furchtbar aergere ich mich ueber sie." "Aber, beste Ilse," lachte sie Orla aus, "wenn man sich ueber solche Lappalien im Leben schon 'furchtbar aergern' will, dann koennte man ja nie froh sein. Die gute Dame hat mich erheitert, das Fragen und Ausforschen scheint ihr Lebensbeduerfnis zu sein. Du lieber Gott, 'jedes Tierchen hat sein Plaesierchen', also: lassen wir ihr das Vergnuegen." "Nein," sagte Ilse erregt, "ich koennte mit dieser Frau nicht verkehren, und warum soll man denn auch jemand besuchen, den man nicht ausstehen kann? Nellie mag sie auch nicht leiden und ist doch so freundlich zu ihr." "Du bist doch ein recht weltunkundiges kleines Maedchen, Ilse, und hast noch sehr naive Ansichten, nimm mir das nicht uebel! Von der 'konventionellen Luege' hast du wohl noch nie etwas gehoert? Weisst nicht, dass man den Personen, die man nicht leiden mag, nicht ins Gesicht sagen kann: geh mir aus dem Wege, denn du bist mir unangenehm. Man koennte leider beinahe sagen: je besser man luegen kann, desto weiter kommt man in der Welt. Man nennt das 'weltklug' sein." "Siehst du, Ilschen," warf Nellie ein, "Orla spricht so, wie ich dich schon sagte. Ich mag ihr auch nicht, das neugierige Direktorsfrau, aber sie darf mich das nicht anmerken." Ilse erwiderte nichts, nachdenklich ging sie neben den Freundinnen her. Am Abend, als die beiden jungen Maedchen sich zur Ruhe begaben, fragte Ilse ploetzlich: "Orla, wuerdest du mit deinem Manne alle Besuche machen, die er wuenscht?" "Naerrchen, warum nicht? Natuerlich! Man braucht ja deshalb noch nicht mit denen, die einem missfallen, zu verkehren. Wie kommst du ueberhaupt zu dieser Frage?" "Ach, ich dachte eben nur so zufaellig daran," antwortete Ilse ausweichend und schwieg dann. Orla schlief schon laengst, als Ilse noch wachend in ihrem Bette lag. Leo in Paris, daran musste sie immer denken. Was wollte er dort, warum reiste er dahin? Um sich zu amuesieren, natuerlich nur deshalb. Sie hatte Nellie gefragt, ob es wahr sei, was die Frau Direktor ihr mitgeteilt hatte, und ob sie auch wuesste, dass Leo in Paris sei. Nellie bestaetigte es; sie wusste es ja schon laenger, hatte ihr aber diese Nachricht bisher absichtlich verschwiegen. Ilse fragte nichts weiter, sondern hatte das Gespraech schnell abgebrochen und von etwas andrem gesprochen, denn Nellie sollte nicht etwa denken, dass sie sich aergerte oder graemte. Aber ihre Gedanken beschaeftigten sich fortwaehrend mit dieser Reise und raubten ihr selbst den Schlaf. Sie warf sich unruhig von einer Seite zur andern. War es denn nicht der beste Beweis, dass er sie nicht mehr liebte, dass er keinen Kummer empfand, wenn er Lust hatte, zu seinem Vergnuegen nach Paris zu reisen? Paris - er hatte ihr schon so oft davon vorgeschwaermt und dabei gesagt, wenn wir erst verheiratet sind, dann reisen wir nach Paris. Und nun reiste er ohne sie, dachte wahrscheinlich garnicht mehr an sein damaliges Versprechen und unterhielt sich gewiss herrlich. Ihr Interesse fuer diese Stadt wurde ploetzlich wach, sie haette gar zu gern etwas naeheres ueber Paris gewusst. Ob Orla wohl schon dort gewesen war? Sie hatte mit ihrem Grossvater weite Reisen gemacht und schon so viel von der Welt gesehen; gewiss war sie auch in dieser Weltstadt gewesen und konnte ihr davon erzaehlen. Die Neugierde liess ihr keine Ruhe, und halb in Gedanken rief sie Orlas Namen. "Ja, was denn, was ist denn, hast du mich gerufen, Ilse?" fragte diese noch halb im Schlafe. Ilse war es nun doch peinlich, Orla zu fragen, denn was wuerde diese dazu sagen, wenn sie jetzt mitten in der Nacht eine Beschreibung von Paris haben wollte. "Was willst du denn?" fragte Orla und richtete sich im Bett auf, da sie keine Antwort erhalten hatte. "Warum hast du mich denn geweckt?" Endlich fasste sich Ilse ein Herz und erkundigte sich zaghaft, ob Orla wohl schon in Paris gewesen sei und wie es dort waere, sie moechte ihr doch davon erzaehlen. Sie war froh, dass es Nacht war und Orla sie nicht sehen konnte, denn sie fuehlte, wie rot sie bei dieser Frage wurde. "Mein Gott, Ilse, du phantasierst doch nicht, oder hast du etwa getraeumt?" rief Orla erstaunt. "Ach nein, ich habe ueberhaupt noch nicht geschlafen," gab Ilse kleinlaut zur Antwort, "und da dachte ich so zufaellig an Paris." "Ach ja," sagte Orla, "nun begreife ich, du beschaeftigst dich natuerlich deshalb in Gedanken lebhaft mit Paris, weil dein Braeutigam dort ist?" Ilse erschrak; sie hatte geglaubt, Orla habe es nicht gehoert, als die Frau Direktor ihr die Neuigkeit von Leos Reise mitteilte, da sie gerade in dem Schaufenster eines Kunstladens, vor welchem sie standen, die Bilder einiger Professoren betrachtete. Sie hatte dabei nicht gedacht, dass die neugierige Dame eine sehr helle und durchdringende Stimme besass, so dass Orla recht wohl hoeren konnte, was sie sagte. Uebrigens war dieser erst jetzt bei Ilses Frage die Angelegenheit wieder eingefallen, der sie zuerst keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ilse wusste nicht, was sie auf Orlas Frage antworten sollte, und schwieg deshalb still. Es waere ihr jetzt sogar lieb gewesen, wenn Orla das Gespraech abgebrochen haette, aber diese fuhr nach einer kleinen Pause fort: "Paris ist sehr schoen, Ilse, und ich bin ueberzeugt, dass es deinem Braeutigam dort vorzueglich gefallen wird." "Ja, das glaube ich auch," fiel ihr Ilse mit spoettischem Auflachen ins Wort, "er wird gewiss furchtbar vergnuegt und ausgelassen sein, natuerlich, warum sollte er denn auch nicht?" "Aber Ilse," sagte Orla, die jetzt erst merkte, wie ihre Freundin ueber diese Reise dachte und empfand, "ich bitte dich, warum soll sich denn dein Verlobter nicht amuesieren?" Die Gefragte schwieg, aber ein muehsam unterdruecktes Schluchzen klang zu Orla herueber. "Du kleines leidenschaftliches Maedchen," sprach Orla liebevoll und sanft zu ihr, "vor allen Dingen werde etwas ruhiger. Ich muss jetzt mal in einem weisen Tantenton mit dir reden. Sieh, liebe Ilse, das Leben bringt ohnedies Schweres genug, warum da noch unnuetz Grillen fangen und es sich durch Nichtigkeiten verbittern? Nellie hat mir auf deinen Wunsch alles erzaehlt, und ich sage dir aufrichtig, ich bedaure dich und deinen Braeutigam, dass es soweit zwischen euch gekommen ist. Ich weiss ja nicht, was vorgefallen ist, aber etwas Schlimmes kann es nicht sein, denn in deinen Augen habe ich gelesen, dass du ihn noch liebst, dass du mit allen Fasern deines Herzens noch an ihm haengst, mit allen deinen Gedanken noch bei ihm bist. Nicht wahr, du bist boese auf ihn, weil er fortgereist ist und nicht als echter Ritter Toggenburg hintrauert? Das wuerdest du lieber sehen, das wuerde dir besser gefallen, gestehe es, Ilse! Aber sei gerecht, nicht kleinlich, und denke mal ruhig nach. Die Sehnsucht nach dir, der Schmerz, dass du ihn verlassen hast, sie machen, dass er es nicht mehr daheim aushaelt, eine unbezwingliche Unruhe treibt ihn fort, weit fort; er muss andre Menschen, andre Dinge sehen und je groesser der Strudel der Vergnuegungen, die ihn sein Leid vergessen machen sollen, desto besser. Kannst du nicht mit ihm empfinden, siehst du nicht darin nur einen Beweis, wie tief und innig er dich liebt? Handelt nicht so ein rechter Mann voll Kraft und Stolz, welcher der Welt nicht zeigen mag, wie es in ihm aussieht? Glaubst du, dass er wirklich geniesst, was er sieht und hoert, dass ihn nicht ueberall sein Kummer, der Gedanke an dich begleitet? Ilse, du bist mit Blindheit geschlagen, glaube es mir. Sei nicht boese, dass ich offen spreche, aber ich meine es wahrhaftig nur gut mit dir." Ilse hatte bebend zugehoert. Orlas Worte machten einen tiefen Eindruck auf sie. War es nicht richtig, was sie sagte, verstand sie Leo nicht besser, als seine eigene Braut es tat? Ja, Orla hatte recht! Und nun kam sie sich auf einmal so kleinlich, so ungerecht vor, es ging ihr ploetzlich wie ein Licht auf. Ja, Leo war nur fortgereist, um seinen Schmerz durch neue Eindruecke zu betaeuben. Kannte sie ihn so wenig, vermochte sie so wenig in seiner Seele zu lesen? Keine Silbe von dem, was ihr Orla gesagt hatte, haette sie bestreiten moegen. So eindringlich und schonungslos hatte Nellie noch nie mit ihr gesprochen; die viel zu gutmuetige junge Frau konnte nicht sehen, wenn Ilse so traurig war, und hatte dann gleich tausend zaertliche Trostesworte fuer sie, aber um keinen Preis haette sie ihr das Herz durch Vorwuerfe noch schwerer gemacht. Orla sagte ihr erbarmungslos die Wahrheit, so war es recht! Es tat ihr wohl zu wissen, wie das kluge Maedchen ueber sie urteilte, und sie war ihr dankbar, dass sie so offen mit ihr gesprochen hatte. "Gute Nacht, liebe Orla!" rief Ilse innig. Keine Antwort. Schlief sie schon wieder, oder stellte sie sich schlafend? Ilse erhob sich leise und ging an Orlas Bett. Die gleichmaessigen Zuege verrieten, dass sie fest schlief. Ilse betrachtete mit Entzuecken das schoene Gesicht der Freundin, welches von den hereindringenden Mondesstrahlen matt beleuchtet wurde. Die dunklen Augenwimpern warfen ihren Schatten auf die blassen, im Mondeslicht fast marmorweissen Wangen. Ilse drueckte einen leisen Kuss auf die Stirn der Schlaeferin und schlich sich dann auf den Zehen zurueck nach ihrem Lager. * * * [Illustration] Nach den herbstlich rauhen Tagen stellte sich jetzt der Winter ein, der mit Schnee und Eis sein Recht behauptete. Seit einigen Tagen schneite es unaufhoerlich, leise und sacht fielen die weissen Flocken zur Erde nieder. Baum und Strauch mussten sich unter der Schneelast beugen. Flora, deren Poesie mit den Jahreszeiten Schritt hielt, besang jetzt den "gestrengen Winter", und das tanzende, wirbelnde Schneegestoeber wurde fuer sie ein unerschoepfliches Thema mit den verschiedensten Abwechslungen. Sie ward nicht muede, an ihrem Schreibtisch zu sitzen und in das flimmernde Flockengewirr zu sehen. Eines Tages aber lachte ihr der klare blaue Himmel entgegen und die freundliche Wintersonne schien ins Fenster herein. Gegen Mittag kam der Referendar, um zu fragen, ob man nicht das herrliche Winterwetter benutzen und mit mehreren Bekannten eine Schlittenpartie unternehmen wolle, es waere die schoenste Bahn. Voller Begeisterung begruesste Flora diesen Gedanken, sie fand ihn himmlisch und war sofort bereit, nach Althoffs zu gehen, um sie zu diesem Partie aufzufordern. "Ihrer reizenden kleinen Freundin, Fraeulein Ilse wird gewiss eine Schlittenfahrt auch Spass machen. Ich werde mir erlauben, das Fraeulein selbst zu fahren." Aerger und Enttaeuschung kamen bei diesen Worten in Floras Gesicht zum Ausdruck. "Finden Sie Ilse wirklich reizend? Ich begreife das nicht? Sie hat ein frisches, glattes Gesicht, aber Sie muessen doch gestehen, dass demselben jede Vergeistigung fehlt, die ein Antlitz doch erst anziehend und interessant macht. Ohne diesen Ausdruck kann ich kein Gesicht schoen finden und deshalb laesst mich auch das von Ilse kalt, es ist mir langweilig." Wie hart und schroff sie urteilte, wenn sie sich in ihrer Eitelkeit verletzt fuehlte! In Gedanken hatte sie an sich gedacht, als sie Lueders auseinandersetzte, wodurch ein Gesicht erst seine wahre Schoenheit bekaeme, und sie erwartete, dass auch er so denken und ihr das jetzt sagen werde. Aber er blieb stumm und ein ironisches Laecheln zuckte um seinen Mund. Erregt stand Flora auf. "Gehen Sie mit?" fragte sie. "Ich will zu Althoffs. Uebrigens - Sie wissen doch, Ilse ist Braut! Kuehlt das Ihre Begeisterung nicht etwas ab?" Auch er hatte sich erhoben und gab auf Floras spoettische Frage keine Antwort; er dachte nur daran, um jeden Preis mit dem jungen Maedchen zusammenzukommen. Er verabschiedete sich von Flora, indem er ihr sagte, dass er gegen Abend wiederkommen wuerde, um das naehere ueber die Partie zu erfahren. "Adieu," sagte Flora schnippisch und drehte ihm den Ruecken, ohne seine ausgestreckte Rechte zu beruehren. "Nun, bekomme ich keine Patschhand?" fragte er. "Nein, Sie sind zu unartig gewesen," sagte sie und sah ihn ueber die Schulter mit kokett schmollender Miene an. "Aber wenn ich verspreche, jetzt wieder artig zu sein, Frau Flora, auch dann nicht?" "Eigentlich haben Sie keine verdient, aber ich will gnaedig sein. Hier!" Sie reichte ihm ihre Hand. Er fuehrte sie mit einem scheinbar demuetig um Verzeihung flehenden Gesicht an seine Lippen und ging dann fort. Ein triumphierendes Laecheln umspielte ihren Mund; voller Selbstbewusstsein sah sie ihm nach. Sie hielt alles bei ihm fuer bare Muenze, die arme, blinde Flora, und keine noch so leise Ahnung sagte ihr, dass er in seinem Innern ganz anders ueber sie dachte, als er aeusserlich zeigte. - Puenktlich um zwei Uhr sollten sich die Teilnehmer an der verabredeten Schlittenpartie vor dem Althoff'schen Hause am andern Tage versammeln. Ausser Flora mit ihrem Manne, Referendar Lueders und Althoffs mit den beiden jungen Maedchen, hatte man noch den Assistenzarzt von Doktor Gerber zu der Partie aufgefordert. Es wurde beschlossen, nach dem Dorfe zu fahren, in welchem Rosis Mann Pastor war, weil dorthin die beste Bahn sei und man erwarten konnte, daselbst, was Essen und Trinken betraf, gut aufgehoben zu sein. Der Pastor und seine Frau waren natuerlich benachrichtigt und gebeten worden, zur angegebenen Zeit puenktlich in dem Gasthaus zu sein und dort fuer ein warmes Zimmer und guten Kaffee zu sorgen. "Orla, du wirst dir staunen, unsre artige Rosi wiederzusehen, nicht wahr, Ilschen?" sagte Nellie lustig, waehrend sie zur Schlittenpartie geruestet vor dem Spiegel stand und noch einen langen weissen Schleier um ihre Pelzmuetze legte, den sie unter dem Kinn zu einer grossen Schleife zusammenband, welche ihrem rosigen Gesicht reizend stand. Ilse lachte. "Ja wahrhaftig, Orla, du wirst dich wundern, wie die ihren Mann unter dem Pantoffel hat. Ich sage es ja immer, die Sanften haben es faustdick hinter den Ohren. Sieht Rosi nicht aus, als koennte sie kein Waesserchen trueben? Sie hat ein Gesicht wie eine Madonna mit dem Heiligenschein und dabei ist sie mindestens ebenso widerspenstig, wie meine Wenigkeit." "Selbstbekenntnis einer edlen Seele," deklamierte Orla feierlich, worauf alle drei in ein Gelaechter ausbrachen. "Still, Kinder," mahnte Nellie und lief ans Fenster, "die Schlittens kommen, ich hoere ihnen klingeln." Durch die Tuere rief sie: "Fred, bist du fertig?" "Ja, Kind," antwortete er und kam herein. "Hier bin ich." Vergnuegt eilten die jungen Menschen die Treppe hinunter. Vor der Tuere hielten vier maessig elegante, aber mit guten Pferden bespannte Schlitten. In dem ersten sassen Gerbers, in dem zweiten der Referendar und Andres. Flora, die mit verdrossener Miene neben ihrem Manne sass, hatte verweinte Augen und begruesste in klaeglichem Tone die Freundinnen. Erst als Nellie sie fragte, ob ihr etwas fehle, erwiderte sie mit weinerlicher Stimme: "Denkt nur, beinahe waere mir das ganze Vergnuegen verdorben worden. Mein Mann wollte nicht mit, er behauptete, sich nicht wohl zu fuehlen, er haette Kopfschmerzen, Fieber und wer weiss was alles noch. Aber man muss nur die Maenner kennen. Wenn ihnen der kleine Finger weh tut, stellen sie sich gleich furchtbar an. Nein, die Schlittenpartie, auf die ich mich so riesig gefreut habe, wollte ich mir deshalb nicht vereiteln lassen. Wahrhaftig, Maennchen, ich waere ohne dich mitgefahren." Sie sah ihren Mann mit trotziger Herausforderung an und zog die Oberlippe in die Hoehe, wie ein ungezogenes Kind. "Ich machte dir ja selbst diesen Vorschlag, Flora," entgegnete ihr Mann ruhig, "aber du sagtest, dann muesste eine Person allein fahren, weil nur zweisitzige Schlitten bestellt waeren. Das sah ich ein, und um dir das Vergnuegen nicht zu verderben, fahre ich mit. Nun ist die Sache wohl abgetan, ich bitte darum." Es war ihm offenbar unangenehm, dass Flora erzaehlte, was zwischen ihnen vorgefallen war, aber er bezwang seinen Unmut und nur die tiefe Falte zwischen seinen starken Brauen und der bestimmte Ton, mit welchem er sprach, verrieten, dass er sich aergerte. Flora bemerkte und empfand es nicht, sie hatte nur den einen Gedanken und der war - die Schlittenpartie! Sie stuerzte auf Orla zu und umarmte sie auf offener Strasse, denn sie wollte immer zeigen, wie 'intim' sie mit ihr war. "Die geistige Verwandtschaft zwischen meiner Freundin und mir," hatte sie zu Lueders gesagt, "schlingt ein festes unaufloesliches Band um uns." Orla, welche ueberhaupt keine Zaertlichkeiten liebte, wehrte unwillig ab und sagte mit Entschiedenheit: "Ich bitte dich, Flora, lass doch diese Liebesbeweise auf offener Strasse, du bereitest vielen Zuschauern nur ein Schauspiel. Sieh doch die Koepfe an den Fenstern." In diesem Augenblick trat Althoff mit dem jungen Arzt heran. "Fraeulein Orla, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Doktor Andres vorzustellen. Und hier, Doktor: Fraeulein Orla Sassuwitsch, eine liebenswuerdige Kollegin _in spe_." Ueber Orlas Gesicht flog bei diesen Worten eine leichte Roete, und ihre Augen senkten sich zu Boden. Sie ahnte nicht, wie schoen sie gerade in diesem Augenblick war, und dass die Blicke des jungen Mannes bewundernd auf ihr ruhten. Eigenartig und vornehm sah die Russin aus. Sie trug ein dunkelgruenes, eng anliegendes Tuchkleid, dessen Saum mit Otterpelz besetzt war. Von gleichem Pelz waren auch der kostbare Schulterkragen, der Muff und das Muetzchen, das tief in die Stirn gedrueckt war. "Um Gottes willen. Orla, willst du denn in diesem luftigen Aufzuge fahren?" fragte Flora, "du hast ja nicht einmal eine Jacke an, du erfrierst ja. Hu!" Zusammenschauernd wandte sie sich ab. "O nein, Flora, aengstige dich nicht, ich bin abgehaertet und zog mich in Russland bei viel strengerer Kaelte niemals waermer an." "Na," erwiderte Flora, "da bin ich doch zarter besaitet, als du, ich muss mich ordentlich einhuellen, sonst friert mich." Ordentlich eingehuellt, ganz vermummt vielmehr sah die junge Frau allerdings aus in ihren Maenteln, Tuechern und Schleiern. "Ich meine, wir fahren nun los. _Messieurs, engagez les dames_," rief Althoff scherzend. Ilse, welche sah, dass der Referendar auf sie zukam, trat schnell auf Nellies Mann zu. "Bitte, bitte, Herr Doktor," fluesterte sie hastig, "darf ich mit Ihnen fahren?" "Das wird mir nicht nur eine hohe Ehre, sondern auch ein grosses Vergnuegen sein," antwortete er mit einer drollig feierlichen Verbeugung. Lueders wurde von Ilse ziemlich ungnaedig und von oben herab abgewiesen und zog mit langem Gesicht ab. Was blieb ihm nun anders uebrig, als mit Flora zu fahren, denn Nellie sass mit Gerber im Schlitten und Orla mit Doktor Andres. Floras Augen waren ihm gefolgt, als er zu Ilse trat. Sie war voller Freude darueber, dass ihm diese einen Korb gab, und mit siegesgewisser Miene sah sie ihn jetzt auf sich zukommen. Seine Verdrossenheit ueber Ilses Abweisung malte sich deutlich in seinen Zuegen, aber Flora schien das nicht zu bemerken. Mit ihrem liebenswuerdigsten Laecheln nickte sie ihm zu und kletterte dann ungeschickt und steif in den Schlitten, wo sie fast ganz in ihren Umhuellungen verschwand, so dass nur die von der Kaelte blaeulich angehauchte Nase hervorschimmerte. "_All right?_" rief Althoff jetzt. "Ja, ja, _yes_, _oui_," antworteten die lachenden Stimmen durcheinander, die Pferde zogen an, und mit lustigem Schellengelaeut flogen die Schlitten ueber die glatte Bahn dahin. Bald hatte man die letzten Haeuser der Stadt im Ruecken, und grosse Schneeflaechen, von der Sonne beschienen und wie mit Diamanten uebersaet, breiteten sich zu beiden Seiten des Weges aus. "Ein weisses, grosses Leichentuch ist ueber die tote Natur ausgebreitet," trug Flora mit tragischem Augenaufschlag vor. Aber sie machte heute keinen Eindruck auf ihren Nachbar, der einsilbig neben ihr sass und ihr nur zerstreute Antworten gab. "Lueders, Sie sind heute langweilig," sagte sie schliesslich, "nun, ich brauche gluecklicherweise die Unterhaltung andrer nicht, um mich zu amuesieren. Meine Gedanken sind mir die liebsten Gesellschafter," fuegte sie spitz hinzu und wandte sich von ihm ab zur Seite. In demselben Augenblick traf ein Schneeball empfindlich ihre Nase und Nellies helles Lachen ueber den gut gelungenen Wurf verriet die Anstifterin. Flora verstand keinen Scherz, sie drehte sich deshalb entruestet um und schoss Nellie einen bitterboesen Blick zu, indem sie aergerlich den Schnee von ihrem Mantel abschuettelte. "Ich glaube, Ihre Frau zuernt mich ueber die kleine Spass," sagte Nellie zu Doktor Gerber. Er schuettelte mit mattem Laecheln den Kopf, denn er wollte der jungen Frau nicht recht geben, trotzdem er ueberzeugt war, dass Flora den harmlosen Scherz ernstlich uebel genommen hatte. Seine mueden Bewegungen fielen Nellie auf, er hatte sonst etwas Energisches und Kraftvolles in seinem Wesen. "Fuehlen Sie sich sehr unwohl?" fragte sie ihn teilnahmsvoll. "Ja," erwiderte er, "es geht mir heute nicht gut, ich weiss, dass ich Fieber habe, und fuehle heftige Stiche in der Brust beim Atemholen. Aber wir wollen nicht mehr davon sprechen, es wird schon wieder besser werden. Ein Arzt darf ja ueberhaupt nicht krank sein, er ueberlaesst das lieber seinen Patienten, selbst hat er keine Zeit dazu." Er sprach scherzend, aber die feinfuehlende Nellie empfand, dass er sich heute zu einem heiteren Ton zwingen und sich sehr elend fuehlen musste. "O wenn Ihnen nur der kalte Zugluft nicht schadet," sagte sie besorgt, "hier, bitte nehmen Sie dieser Tuch um Ihren Hals, bitte erlauben Sie mich." Er wollte ihr abwehren, aber sie hatte schon ein seidenes Tuch aus ihrer Tasche hervorgeholt und band es ihm eigenhaendig um. Fast geruehrt blickte er sie an. "Sie sind eine fuersorgliche kleine Frau, tausend Dank!" Er ergriff ihre Hand und fuehrte sie an seine Lippen. Nellie wurde rot und entzog ihm schnell ihre Hand. "O," sagte sie, "Sie muessen mir nicht fuer eine Kleinigkeit ein so grosser Dank geben. Ich bin es von mein Mann so gewohnt, ich muss fuer ihn an alles denken und sorgen. O, er ist so leichtsinnig, er sieht nie nach die Thermometer, ob es kalt oder warm draussen ist." Doktor Gerber dachte unwillkuerlich an den Unterschied zwischen seiner Frau und Nellie. Er schaetzte letztere hoch, ihr echt weiblicher Sinn, ihre haeuslichen Gaben hatten ihn oft entzueckt. Im stillen hatte er gehofft, Flora wuerde von ihr lernen, aber bald musste er einsehen, dass auch das beste Beispiel sie nicht aendern konnte. Sein Beruf liess ihm zum Glueck nicht viel Zeit zum Gruebeln uebrig, aber in den wenigen Erholungsstunden litt er schwer unter dem Druck der Ungemuetlichkeit in seinem Heim, und nur wenn er in die unschuldigen Augen seines Kindes sah, fiel es wie ein Lichtstrahl in die oede Leere seiner Brust. Nellie betrachtete voller Mitleid ihren stummen Nachbar, dessen Gedanken sich deutlich in seinen Zuegen verrieten. Sie hatte schon oft traurig empfunden, dass dieser Ehe die Weihe des wahren, echten Glueckes fehle, und fragte sich dann: liebt ihn Flora nicht und ist sie blind dagegen, dass er leidet? Nein, die wahre Liebe kannte sie nicht, - wuerde sie sonst stets nur an sich denken und ueber ihre elende Stuemperei Mann und Kind vergessen? Wusste sie nicht, wie schoen es ist, den Beruf des liebenden Weibes mit heiliger Pflichttreue zu erfuellen? Nellie war sich desselben tief bewusst, fuer sie gab es keinen andern Wunsch, als ihren Mann zu begluecken, seine Liebe war ihr das Hoechste, Herrlichste auf dieser Welt! Der einzige Fred! In dem liebe- und glueckerfuellten Gedanken an ihn wandte sie sich nach ihm um, sie musste ihn in diesem Augenblick sehen, einen Blick von ihm erhaschen. "Fred!" rief sie und nickte ihm innig zu. Er war im lebhaften Gespraech mit Ilse, die ihrer heiteren Laune die Zuegel schiessen liess, weil sie froh war, dem Schicksal entronnen zu sein, mit dem ihr so verhassten Referendar fahren zu muessen. Sie erzaehlte sich mit ihrem frueheren Lehrer lauter Witze und Scherze, und immer von neuem ertoente ihr froehliches Lachen. Ploetzlich jagte der letzte Schlitten, in welchem Orla mit ihrem Begleiter sass, in sturmesaehnlicher Geschwindigkeit an ihnen und den andern vorueber. Orla hatte die Zuegel in der Hand, sie sass kerzengerade aufgerichtet. Die scharfe Luft hatte ihre Wangen geroetet, Feuer und Lebenslust blitzten aus ihren Augen. Als ihr Schlitten an Flora vorbeisauste, fuhr diese mit einem Aufschrei zusammen und schloss wie ohnmaechtig die Augen. Lueders aber schien die Schwaeche seiner Nachbarin nicht zu bemerken, er war nicht im mindesten besorgt um sie, im Gegenteil, mit einem kalten hoehnischen Laecheln blickte er sie von der Seite an. Als Flora die Augen wieder aufschlug, sah sie, wie sich Orla umdrehte und ihr mit dem heitersten Gesicht zurief, ob sie sich von ihrem Schrecken erholt habe. Sie hatte die Zuegel straff angezogen und liess die Pferde in langsamem Tempo gehen. "Hoffentlich habe ich nicht auch Sie erschreckt," wandte sie sich an ihren Nachbar, "ich vermute es fast, weil Sie mir die Zuegel entreissen wollten. Sie dachten gewiss, die Pferde gingen durch?" "Natuerlich glaubte ich es, und ist mir das zu verdenken, da ich doch keine Ahnung haben konnte, welche kuehne Rosselenkerin Sie sind? Wie harmlos sagten Sie zu mir: bitte lassen Sie mich doch einmal die Zuegel nehmen, ich moechte auch mal versuchen zu fahren. Offen gesagt, das war recht hinterlistig von Ihnen." "Nein," lachte sie, "es war nicht hinterlistig von mir, denn ich wusste in der Tat nicht, ob ich das Fahren nicht verlernt hatte; ich habe so lange keinen Zuegel in der Hand gehabt. In dem Augenblick aber, als Sie mir dieselben gaben, da kam das Bewusstsein der Sicherheit wieder ueber mich, die alte Leidenschaft erwachte in mir, ich war wieder daheim in Petersburg, ich sass in unserm Schlitten, es waren unsre Ponys, die ihn zogen, kurz und gut, es war meine lebhafte Einbildungskraft, die mich fortriss und Ihnen diesen Streich spielte. Verzeihen Sie?" "O, von Verzeihen kann hier keine Rede sein, Sie haben mir ja einen riesigen Spass bereitet, gnaediges Fraeulein. Ich bleibe jetzt bequem in meiner Ecke sitzen und lasse mich von schoenen Haenden spazieren fahren, denn Sie verstehen es ja weit besser als ich. Sie reiten wohl auch?" "Und wie gern," versetzte sie mit blitzenden Augen. "An Unerschrockenheit fehlt es Ihnen nicht, dafuer habe ich Beweise. Fuer ihren kuenftigen Beruf ist das uebrigens viel wert, denn es gibt da vieles zu ueberwinden, selbst fuer einen Mann." "Ja, ja, ich weiss," gab sie kurz und halb verlegen zur Antwort. Wie merkwuerdig, es war ihr peinlich, wenn er davon anfing. Es kam ihr vor, als laege ein gewisser Spott in seinen Worten, als umspiele ein mitleidiges Laecheln seine Lippen, wie wenn er daechte, du eine schwache Frau willst dich an eine solche Aufgabe wagen? Schon verschiedene Male hatte er sie heute ueber ihre Zukunftsplaene befragt, die natuerlich ihn interessierten, da er selbst Arzt war, sie hatte ihm aber immer ausweichend geantwortet. Mit Althoff und Gerber besprach sie doch eingehend denselben Gegenstand und holte ausfuehrlich ihren Rat ein; warum hatte sie eigentuemliche Scheu, mit Andres darueber zu sprechen? Sie wusste sich das selbst nicht zu erklaeren. Das fuer mitleidig gehaltene Laecheln um seinen Mund deutete sie aber falsch. Er laechelte, weil er sich ueber das junge schoene Menschenkind freute, sowie ueber ihre klugen durchdachten Antworten, die sie ihm gab, und die so ganz anders lauteten, wie bei den hiesigen Damen seiner Bekanntschaft. Er war ueberzeugt, dass sie keine oberflaechliche Juengerin der Wissenschaft werden, dass sie leicht und gruendlich erfassen und lernen wuerde. Und dennoch, - er bedauerte sie, denn der jungfraeuliche Hauch, der sie trotz ihres maennlichen Geistes umgab, wuerde abgestreift werden. Voll Bewunderung folgte er ihren kraftvollen anmutigen Bewegungen und verglich sie auch hierin wieder im stillen mit den zimperlichen Kleinstaedterinnen, welche vor der Zeit schlaff und alt wurden, weil sie ohne Mark und Kraft waren, was ihre schlechte Haltung und der schleppende, aller Spannkraft entbehrende Gang auf den ersten Schritt bewiesen. In Orla vereinten sich jugendliche Kraft mit Anmut, und wie sie so dasass, wurde er nicht muede sie anzuschauen. Sie fuhren jetzt dicht am Walde hin, manchmal streiften sie mit dem Kopf einen unter der Schneelast tief gebeugten Zweig, und der kalte, prickelnde Schnee staeubte ihnen ins Gesicht. Die Daemmerung brach schon fruehzeitig herein, waehrend der Himmel noch von der untergehenden Sonne in ein zartrosa Violet getaucht war, und matt glaenzend stand der Mond am Himmel. Der zauberhafte Anblick der entzueckenden Winterlandschaft, das tiefe Schweigen ringsum, nur unterbrochen durch das Schellengeklingel, das aus der Ferne von den andern weit zurueckgebliebenen Schlitten wie ein Echo heruebertoente, hielt die beiden jungen Menschen wie in einem magischen Bann umfangen. Sie sassen schweigend nebeneinander, als fuerchteten sie den Zauber durch Worte zu zerstoeren. Erst als sie von weitem rote Ziegeldaecher schimmern sahen und fernes Hundegebell schon die Ankoemmlinge begruesste, erwachten beide wie aus einem Traum, und Orla wandte sich zu ihrem Nachbar mit den Worten: "Ich glaube, wir sind am Ziel. Wissen Sie Bescheid, wo sich das bewusste Gasthaus befindet, das uns aufnehmen soll?" Er bejahte, und schon nach wenigen Minuten hatten sie dasselbe erreicht. Mit einem festen Ruck zog Orla die Zuegel an, schnaubend und dampfend standen die Pferde still. Der Wirt eilte dienstfertig herbei, und auch seine wohlbeleibte Ehehaelfte begruesste die jungen Leute unter vielen unterwuerfigen Knixen. "Herr und Frau Pastor wuerden Herrn und Frau Doktor im Zimmer empfangen," sagte sie zu den beiden, die eben ins Haus treten wollten. "Nein, das ist zu komisch," rief Orla laut lachend, war aber rot geworden und konnte eine gewisse Verlegenheit nicht verbergen. "Wir sind nicht Herr und Frau Doktor, liebe Frau," erklaerte Andres ebenfalls lachend der Wirtin. "Sie verwechseln uns mit den Herrschaften, die auch gleich kommen werden." Die Frau entschuldigte sich vielmals und sagte dann mit einem vielsagenden Blick auf das junge Maedchen: "Na, was nicht ist, kann noch werden," denn sie war nun einmal der Meinung, dass das schoene Paar zusammengehoeren muesste. Orla wurden die Reden der geschwaetzigen Alten ungemuetlich, sie wollte deshalb ins Haus gehen, um ihre Freundin zu begruessen. Andres ging mit ihr hinein. Rosi und ihr Mann kamen ihnen schon auf dem Flur entgegen. Rosi umarmte Orla mit steifer Wuerde und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Ich war ganz ueberrascht, wie ich von Nellie erfuhr, dass du hier bist," sagte sie, als sie im Zimmer waren, "aber ich freue mich sehr, dich wiederzusehen. Kamst du nur nach Deutschland, um Althoffs zu besuchen, liebe Orla oder fuehrt dich noch ein andrer Zweck hierher?" "Du erlaubst wohl," unterbrach sie Orla, "dass ich dir Herrn Doktor Andres vorstelle und dich bitte, mich mit deinem Manne bekannt zu machen." Rosi war innerlich empoert ueber die Zurechtweisung, wie sie Orlas Bitte nannte. Mit einer kaum merklichen Neigung ihres Kopfes erwiderte sie die Verbeugung des jungen Arztes und stellte dann ihren Mann vor, dessen Augen unablaessig auf Orlas Gestalt geruht hatten. Rosi hat mir ja niemals erzaehlt, wie schoen diese Freundin von ihr ist, dachte er, und es waere doch wahrhaftig der Muehe wert gewesen. Lautes Sprechen und Lachen draussen kuendigte jetzt die Ankunft der Zurueckgebliebenen an. Orla lief ans Fenster und die andern folgten ihr dahin nach. Sie klopfte an die Scheiben und nickte den Freunden gruessend zu. Leicht, wie ein Vogel vom Zweig, war Ilse aus dem Schlitten gehuepft, und Flora, welche das mit neidischen Blicken beobachtet hatte, nahm jetzt einen Anlauf, ebenso grazioes, wie Ilse, herunterzuspringen. Aber, verwickelte sie sich in ihre vielen Huellen und Tuecher, oder war ihre Ungelenkigkeit daran schuld, kurz und gut, sie stolperte und fiel, so lang sie war, in den Schnee. Man lachte ueber diesen kleinen Unfall und kam ihr unter Scherzen diensteifrig zu Hilfe. Flora machte denn auch gute Miene zum boesen Spiel. "Ich begreife nicht, wie man ueber solches Missgeschick auch noch lachen kann," sagte Rosi kopfschuettelnd und ging Althoffs und Gerbers entgegen, welche soeben eintraten. Ilse eilte auf Orla zu. "Himmlisch, kannst du aber fahren," rief sie voller Begeisterung, "so gut wie du kann ich es allerdings nicht." "Auch ich mache Ihnen mein Kompliment, Fraeulein Orla," sagte Althoff hinzutretend. "Jetzt lasst eure schoenen Komplimente bis nachher," unterbrach ihn Nellie, "und kommt zum Kaffeetrinken." "Du bist wohl eifersuechtig, Nellie, dass dein Mann zu tief in Orlas schoene Augen sieht?" neckte sie Flora. "O nein," lachte Nellie, leicht erroetend, aber sie fuehlte sich doch etwas getroffen, denn sie besass wirklich eine kleine Anlage zur Eifersucht. Lebhaft plaudernd setzte man sich an den Kaffeetisch, und Nellie uebernahm die Rolle der Wirtin. Die maechtige weisse Kaffeekanne, welche mitten auf dem Tische prangte, erregte allgemeine Heiterkeit. Althoff meinte, sie saehe nicht vertrauenerweckend aus, und als ihr der erste Strahl so durchsichtig und hell entstroemte, sank er mit einem komisch geseufzten "Ach, du lieber Gott" in seinen Stuhl zurueck. "O, du leckres Mann," verwies ihn Nellie, die sich innerlich selbst ueber diesen Trank entsetzte, "du darfst nicht unbescheiden sein, der Kaffee ist ganz schoen." "Ich glaube auch, dass der Kaffee gut ist," ergriff der Pastor ernsthaft das Wort, "wir trinken ihn nie staerker. Meine Frau meint, starker Kaffee waere ungesund, nicht wahr Rosi?" Sie schien seine Frage zu ueberhoeren. "Ich haette euch so gern gebeten, in unserem bescheidenen Hause fuerlieb zu nehmen," wandte sie sich an Nellie, "aber die Raeume sind so eng, wir wohnen so beschraenkt, da dachte ich, das wuerde nicht gemuetlich fuer euch sein." Den wahren Grund, weshalb sie keine Gaeste haben wollte, verriet sie natuerlich nicht. Als die Nachricht von Nellie eintraf, dass sie kommen wuerden, hatte Adolf ihr gesagt, dass sie Althoffs und die andern doch eigentlich einladen muessten, da sie von ihnen schon so oft und so freundlich aufgenommen worden waren. Er dachte dabei an den vergnuegten Sonntag bei Althoffs, den er nicht vergessen konnte, denn er war wie ein Lichtstrahl in sein einfoermiges Leben gefallen. Mit diesem Vorschlag war er aber bei Rosi schlecht angekommen. Sie hatte soeben eine gruendliche Hausreinigung gluecklich vollendet, tagelang gescheuert; und nun sollten ihr die Fussboeden wieder schmutzig getreten, alles wieder in Unordnung gebracht werden! Nein, auf keinen Fall! Der Pastor wurde durch ihre Entschiedenheit so eingeschuechtert, dass er keine weiteren Einwendungen wagte, trotzdem er die Freunde sehr gern bei sich gesehen haette. Um ihr moeglichstes zu tun, hatte sie einen grossen Kuchen gebacken. Derselbe prangte jetzt, in dicke Streifen geschnitten, die quer uebereinandergelegt und hoch aufgeschichtet waren, auf dem Kaffeetisch. "O, dieses furchtbare Bauernkuchen," fluesterte Nellie Ilse heimlich ins Ohr und nahm aus einem Koerbchen feines Gebaeck heraus, das sie mitgebracht hatte. "Er sieht so trocken aus," erwiderte Ilse, "wir muessen aber davon essen, sonst wird Roeschen boese." Nach der langen Fahrt in der Kaelte schmeckte es allen herrlich, selbst Rosis Kuchenberg verschwand, und die grosse Kaffeekanne wanderte schon zum zweiten Male hinaus, um frisch gefuellt zu werden. Sogar Althoff liess sich zu einer zweiten Tasse herab, begleitete aber jeden Schluck mit einer drolligen Grimasse. Als die Wirtin die Tassen forttrug und den Tisch abraeumte, verschwand Flora mit geheimnisvoller Miene. Die Herren blieben sitzen und zuendeten sich eine Zigarre an, die Freundinnen aber gingen plaudernd Arm in Arm im Zimmer auf und ab. Das Gasthaus war schon einige Jahrhunderte alt, das Gebaeude gehoerte frueher zu einem Kloster, und erst die Grosseltern der alten Wirtsleute hatten eine Wirtschaft darin errichtet. Baulich war wenig veraendert, und gerade das Altertuemliche gab dem Ganzen etwas ungemein Gemuetliches. Der Saal, in welchem die Gesellschaft sich befand, mochte einst das Refektorium gewesen sein; es war ein grosser Raum, ringsum mit Eichenholz getaefelt, das die Zeit fast schwarzbraun gefaerbt hatte. Ebenso dunkel waren auch die massigen, dicken Balken in der Decke; ein alter Kronleuchter in Gestalt eines Reifes, welchen heute brennende Kerzen schmueckten, hing am mittelsten Balken. Die dicken Mauern bildeten an den Fenstern tiefe Nischen, mit molligen Plaetzchen, zu welchen man eine Stufe hinaufsteigen musste. Die niedrigen Fenster gingen nach dem Garten hinaus und lagen nicht hoch ueber der Erde, so dass man draussen bequem mit der Hand hineinreichen konnte. In einem der Erker war zu beiden Seiten Efeu in niedrige, lange Kasten gepflanzt. Die gruenen Ranken hatten sich fest an die alten Mauern angeklammert und waren so ueppig gewachsen, dass sie die ganzen Waende bedeckten und eine reizende Laube bildeten. Hohe korbgeflochtene Waende zu beiden Seiten, ebenfalls mit Efeu bewachsen, liessen nur einen schmalen Eingang frei. Dahinter sass man auf dem alten geschnitzten Eichenholzstuhl mit verblichenem Lederbezug vollstaendig verborgen. Man konnte sich kein lauschigeres Versteck denken. Die jungen Damen blieben bewundernd davor stehen und waren entzueckt ueber diese gruenende Laube mitten im Winter. Sie malten sich aus, wie schoen es sein muesste, hier so abgeschlossen und ungestoert ueber einem Buche zu sitzen. Da wurden sie ploetzlich durch erstaunte 'Ah's' und 'Oh's' der Herren aufgeschreckt. Sie sahen sich um und erblickten Flora im weissen Kleide, das ueberall mit glaesernen Eiszapfen behaengt war; einen weissen Schleier, mit kleinen Wattefloeckchen besetzt, hatte sie um den Kopf geschlungen, und das alles war mit glitzerndem Silberstaub bestreut. Man konnte keinen Augenblick im Zweifel sein, dass sie ein Sinnbild des Winters vorstellen wollte. In der Mitte des Saales blieb sie stehen und deklamierte mit vielem Pathos ein langes Gedicht, das natuerlich ihrer Feder entstammte. Es war darin viel vom kalten Winter, von Schnee und Eis die Rede. Als sie geendet hatte, blickte sie siegesgewiss umher und sah in lauter vergnuegt lachende Gesichter. Sie glaubte natuerlich, die Freude ueber ihr schoenes Gedicht waere es, welche die Zuhoerer so heiter gestimmt haette, und als man sogar in die Haende klatschte und ihr 'bravo' zurief, strahlte sie, und ein triumphierender Blick flog zu ihrem frueheren Lehrer hinueber; er sollte ihn daran erinnern, wie er damals in der Pension ihre Dichtung zu der Vorsteherin Geburtstag so schnoede abgewiesen hatte. Jetzt musste er doch einsehen, wie er ihr grosses Talent verkannt und wie tiefes Unrecht er ihr zugefuegt hatte. Auf eine Person aber hatte ihr Gedicht einen wirklichen Eindruck ausgeuebt, und das war die alte Wirtin. Sie hatte Traenen der aufrichtigsten Ruehrung in den Augen, ueber die sie oefter verstohlen mit dem Schuerzenzipfel fuhr. Flora weinte beinahe mit, als sie die Frau sah, und versprach, ihr das Gedicht zu schicken. "Es wohnt doch oft in einfachen Leuten der wahre Sinn fuer Poesie; der Geist, noch ungekuenstelt und natuerlich, begreift leichter das Edle, Schoene." "Unbescheiden bist du gar nicht, Flora," lachte Orla, "das muss ich gestehen." "Orla," versetzte Flora ernst, fast feierlich, "du, der die enge Welt des Weibes zu klein wurde, wie mir, du welche die Schranken durchbrachst, wie ich es tat, du, welche eine Juengerin auf dem Gebiete der Wissenschaft werden willst, du solltest nicht spotten, wo es sich um so wichtige Dinge handelt." "Was meint denn Flora mit der Juengerin der Wissenschaft?" fragte Rosi neugierig. "Nun, ganz einfach," versetzte Orla kurz, "ich will Medizin studieren." "Du willst" - Rosi prallte foermlich zurueck. "Du willst unter die Studenten gehen?" "Wie, Sie wollen studieren?" fragte jetzt auch der Pastor. "Das ist ja famos!" Ein verweisender Blick seiner Frau traf ihn als Strafe fuer seinen begeisterten Ausruf; er bemerkte ihn aber nicht, da er Orla anstaunte. Wahrscheinlich beneidete er im stillen die Studenten, die naechstens neben so viel Schoenheit und Geist sitzen durften. So etwas war ihm waehrend seiner Studienzeit leider niemals vorgekommen. Rosi konnte sich von ihrem Entsetzen ueber Orlas Entschluss noch nicht erholen, sie fragte Nellie, ob Orla nicht Spass gemacht haette, und wollte es nicht glauben, als diese ihr fest versicherte, dass Orla wirklich im Ernst gesprochen habe. "Unbegreiflich," murmelte Rosi vor sich hin, und laut sagte sie zu Orla: "Nun, Orla, dann wuensche ich dir viel Glueck bei den Studenten. Da musst du natuerlich auch das Kneipen und Raufen lernen, was doch wohl die Hauptsache im Studentenleben ist. Ich an deiner Stelle wuerde am liebsten gleich Maennerkleidung anlegen, denn als Frau unter den Studenten wirst du dir gewiss manches gefallen lassen, manches aushalten muessen." Man haette der sanftblickenden Rosi eine so spoettische Bemerkung kaum zugetraut. Orla hatte ihre beleidigenden Worte ruhig mit angehoert und wollte ihr eben darauf antworten, als ihr Andres zuvorkam. "Frau Pastorin," sagte er sehr bestimmt, "Sie trauen Ihrer Freundin" - er betonte das Wort - "ja ungeheuer wenig Taktgefuehl zu und scheinen das Studieren so aufzufassen, als ob es nur aus Kneipen und Raufen bestaende. Gewiss, der Student fuehrt ein lustiges Leben, wenn er nicht ein geborener Philister ist, er kneipt und rauft mitunter. Ihr Herr Gemahl, der gewiss auch eine froehliche Studienzeit verlebt hat, wird Ihnen davon am besten erzaehlen koennen." Hier raeusperte sich der Pastor vernehmlich. Mein Gott, woher wusste denn dieser Mensch etwas von seiner Studentenzeit? Sollte Althoff geplaudert haben? Er wuerde sich wohl hueten, seiner Rosi etwas davon zu erzaehlen. "Ich versichere Sie, Frau Pastorin," fuhr der junge Mann fort, "es sind nicht die schlechtesten Menschen, welche Sie als Raufbolde verachten, und ebensowenig sind diejenigen die besten, welche tun, als koennten sie kein Waesserchen trueben. Die Jugend muss austoben und kann auch mal ueber den Strang schlagen. Wer inneren Gehalt und Charakter besitzt, dem wird die ernste Pflicht zu arbeiten schon zur rechten Zeit einfallen, der wird trotzdem ein brauchbares Mitglied der Menschheit werden. Doch, was ich vor allen Dingen sagen wollte, Frau Pastorin: der Student mag raufen, oder auf den Baenken der Hoersaele sitzen, niemals wird er die Ritterlichkeit gegen eine Dame vergessen. Und deshalb braucht Ihre Freundin keine Maennerkleidung anzulegen, sie braucht die Weiblichkeit nicht abzustreifen, wenn sie auch das hergebrachte Gebiet der Frau verlaesst. In dieser Beziehung wird Fraeulein Sassuwitsch nichts zu befuerchten haben, denn keiner ihrer kuenftigen Studiengenossen wird ihr jemals zu nahe treten. Wehe dem, der das wagte!" Bei den letzten Worten hatten seine Augen fast drohend gefunkelt und alle waren erstaunt ueber diese warme Verteidigung. Flora aber eilte stuermisch auf ihn zu und drueckte ihm unter ueberschwenglichen Dankesworten die Hand, weil er so lebhaft fuer das Weib eingetreten sei, welches sich aus den alltaeglichen Verhaeltnissen befreit habe, um einem hoeheren Triebe zu folgen. Sie geriet foermlich in Verzueckung und klagte ihm immer wieder vor, wie bitter und schwer sie oft darunter zu leiden haette, dass sie sich noch mit andern Dingen beschaeftige, als mit Kochen und Struempfestopfen. Es haette ihr so wohl getan, ein solches Urteil aus seinem Munde zu hoeren. Sie sprach und geberdete sich dabei so lebhaft, dass die Eiszapfen an ihrem Kleid bestaendig aneinander klirrten. Er hoerte aber nur halb auf die schwatzende unruhige Gestalt vor ihm und nickte nur mechanisch einige Male mit dem Kopfe, indem er sich willenlos von ihr die Hand druecken liess. Seine Augen suchten Orla, welche an den Efeu-Erker getreten war und die Blaetter und Ranken spielend durch die Finger gleiten liess. Warum ertappte sie sich gerade diesem Mann gegenueber auf einer Befangenheit, die ihr sonst fremd war, warum scheute sie sich aufzusehen und seinem Blicke zu begegnen? Es war ihr unbehaglich, dieses Gefuehl, und doch, wie ein Echo toenten seine Worte in ihrem Herzen fort. "Orla, du bist ja so in Gedanken versunken," sagte da Ilse neben ihr. "Komm, ich glaube Rosi ist aergerlich auf den Doktor, sieh nur, was sie fuer ein boeses Gesicht macht!" Sie hing sich an Orlas Arm und fuehrte sie mit sich fort. Sie selbst war voller Begeisterung ueber Andres, weil er die Freundin so warm verteidigt hatte, und wunderte sich nur, dass diese so wenig darauf einging, ja nicht einmal damit einverstanden zu sein schien, dass der junge Mann so lebhaft ihre Partei ergriffen hatte. Ilse verglich ihn im stillen mit Leo; ganz so wuerde auch er gesprochen und gleich offenmuetig eine gute Sache verteidigt haben. Sie goennte Rosi die Abfertigung, denn sie hatte sich ueber deren schroffes Urteil sehr geaergert. Die Frau Pastorin sass neben ihrem Mann und machte in der Tat ein sehr boeses Gesicht. Leise und aufgeregt sprach sie auf ihn ein, und versuchte in ihrer Empoerung, dass ihr so etwas gesagt worden war, ihn zum Fortgehen mit ihr zu bereden. "Aber Kind, es war doch nicht so boese gemeint," suchte er sie zu beruhigen, "was sollen sie denken, wenn wir jetzt fortgehen!" "Du haettest fuer mich eintreten muessen," sagte sie erregt, "aber natuerlich, deine Frau kann beleidigen wer will, dir ist es gleichgueltig." "Aber Rosi," verteidigte er sich, "wie kannst du nur so etwas sagen! Ich fand, der Doktor hatte ganz recht." "Natuerlich, nun gibst du ihm auch noch recht, da hoert doch alles auf." Wuetend drehte sie ihm den Ruecken zu. Eine rechte Stimmung wollte nach diesem Zwischenfall in der Gesellschaft nicht wieder aufkommen. Nun wurde auch noch Floras Mann, dessen Anwesenheit im Dorfe bekannt geworden war, zu einem schwer Kranken geholt. Er zoegerte selbstverstaendlich keinen Augenblick und sah sich suchend nach Flora um, die abermals verschwunden war, diesmal mit dem Referendar. Er bat daher Nellie, sie moechte Flora mitteilen, dass er in kurzer Zeit wieder zurueck sein wuerde. Kaum war er fortgegangen, als sich die Tuere oeffnete, und aus einem Nebengemach die Klaenge eines Strauss'schen Walzers ertoenten. Flora erschien auf der Schwelle, waehrend man Lueders vor einem alten Klavier sitzen sah. "O, das ist schoen!" rief Nellie vergnuegt ueber diesen Einfall. "Florchen, du bist eine Engel mit deine Ueberraschungen heute. O, das herrliche Walzer!" Sie wippte mit dem Fusse den Takt und summte halblaut die Melodie dazu. [Illustration] Mit den Klaengen der 'schoenen blauen Donau' war wieder Leben in den kleinen Kreis gekommen. Die Herren sprangen auf und holten sich die Damen zum Tanze. Eben wirbelten Althoff und Ilse an Nellie vorbei, ihnen folgten Andres mit Orla, und als sich die beiden Maedchen endlich mit heissen Wangen niederliessen, tanzte Nellie mit ihrem Mann und der junge Arzt forderte Rosi zum Tanze auf. Sie nahm bei seiner Bitte eine unnahbare und beleidigte Miene an und lehnte dankend ab, aber er bat so liebenswuerdig, dass sie sich schliesslich von dem Zauber seiner Persoenlichkeit hinreissen liess und einwilligte, mit ihm zu tanzen. Ganz versoehnt und sogar heiter laechelnd kehrte sie auf ihren Platz zurueck. Welche Frau bliebe auch unempfindlich gegen die kleinste, ihr dargebrachte Huldigung eines schoenen Mannes! Der Pastor hatte sich schleunigst Ilse zum Tanze geholt, als ihm seine Frau entfuehrt wurde, er tanzte aber so ungeschickt, dass Ilse seinen kuehnen Spruengen kaum folgen konnte und verschiedene Male mit ihm stolperte. Als er sich ganz bestuerzt entschuldigte, sagte sie freundlich, er tanze ja sehr gut, denn sie wollte ihm das Vergnuegen nicht verderben. Dem flotten Walzer folgte eine Polka, dann ein Galopp und so weiter; man wurde nicht muede, alles plauderte, scherzte und lachte, die lustigste Laune war wieder eingekehrt. Nellie loeste jetzt den Referendar ab, der sofort zu Ilse eilte, um sie zum naechsten Tanz aufzufordern. Sie schuetzte aber Muedigkeit vor, und wieder musste er mit einem Korbe abziehen. Eine zornige Roete stieg ihm ins Gesicht und er biss sich wuetend auf seine schmalen Lippen. "Nun ist's genug," entschied Althoff, als eben ein neuer Tanz beginnen sollte. "Wir muessen an das Abendessen denken. Herr Pastor, wollen wir zusammen den Punsch brauen? Und du, Nellie, hast ja noch allerhand Delikatessen mitgebracht und solltest dich mit der Wirtin verstaendigen!" "_O yes, darling_, ich werd schon machen. Die Herren brauen den Punsch, wir Damens decken den Tisch, - o, es wird fein. Kommt Kinder!" Die Wirtin war schon dabei, im Nebenzimmer den Tisch zu decken, als Nellie sie aufsuchte. Die jungen Damen halfen der alten Frau unter Lachen und Scherzen, so dass diese meinte, eine so lustige Gesellschaft sei lange nicht bei ihnen eingekehrt. Nur Rosi bewahrte ihre steife Wuerde, ihr pedantischer Sinn verstand keine harmlose Heiterkeit. Floras Mann hatte durch einen Boten bestellen lassen, dass man mit dem Abendessen nicht auf ihn warten solle, da er noch laengere Zeit fortbleiben muesse. "Habe ich nun nicht recht?" seufzte Flora. "Wird mir nicht jedes Vergnuegen vergaellt? Wahrhaftig, wer die Frau eines Arztes wird, uebernimmt damit die Rolle einer Entsagenden." Heute abend jedoch fiel Florchen gaenzlich aus dieser Rolle, sie vergass die Abwesenheit ihres Gatten sehr bald und stimmte in die Ausgelassenheit der andern mit ein. Mitten auf dem Tisch prangte die dampfende Terrine, und Doktor Althoff forderte Flora scherzend auf, in ihrem weissen Gewande heut abend die Hebe zu spielen. Sie liess sich das nicht zweimal sagen, stellte sich aber bei diesem Amt so ungeschickt an, dass sie jedesmal vorbeigoss und der Punsch am Glase herunterlief, bis schliesslich Nellie sagte: "Lass mir nur machen, Flora," wobei sie ihr den Loeffel aus der Hand nahm. Vergnuegt laechelnd sass der Pastor hinter seinem Glase. Rosi hat ihn zu Anfang beiseite gezogen und sich fest von ihm versprechen lassen, dass er nicht, wie damals bei Althoffs, zu viel trinken wuerde. Sie selbst nippte kaum am Glase, indem sie behauptete, keinen Wein vertragen zu koennen, da er ihr zu Kopf stiege. Ilse war merkwuerdig still geworden. Sie wusste selbst nicht, wie es kam, dass ihre Gedanken diesen Abend immer in die Ferne schweiften und an einem Wesen haften blieben, welches Leos Zuege trug. Erinnerten sie die leuchtenden Augen des jungen Arztes, der neben Orla sass und in eifriger Unterhaltung keinen Blick von dieser wandte, an die Augen ihres Leo, die mit so viel Glueck und Innigkeit auf ihr zu ruhen pflegten? Oder war es das silberne Mondeslicht, das Erinnerungen in ihr wachrief? Liebten sie doch beide im Mondenschein zu schwaermen. Oft war sie mit ihm Hand in Hand weit hinaus ueber die Felder und Wiesen gegangen und sie hatte sich ganz dem Zauber eines Mondscheinabends hingegeben. Oder sie lehnten zusammen am Fenster und sahen zu, wie die Strahlen des Mondes durch das Blaetterwerk im Garten brachen. Ob er jetzt wohl auch an sie dachte, ob er, wie sie, solche Bilder an seinem Geiste vorueberziehen liess? Das Lachen und Stimmengewirr rief sie in die Wirklichkeit zurueck, und doch haette sie gern so noch weiter getraeumt. Sie blickte durch die offene Tuer in den Saal, wo die Kerzen erloschen waren und statt dessen das Mondlicht voll hereinflutete. Wie magnetisch davon angezogen, stand sie auf und ging hinein. Sie hatte den dringendsten Wunsch, jetzt allein zu sein, um sich ungestoert in die Vergangenheit senken zu koennen. In dem efeubewachsenen Erker auf dem alten Stuhl liess sie sich nieder und schmiegte den Kopf an die hohe Lehne. Hier uebergoss der Mond alles mit einem blaeulichen Lichte, welches auf den dunklen Blaettern glaenzte. Nun war es fast wie daheim, wenn sie und Leo auf der von wildem Wein umlaubten Veranda sassen und er ihr unter dem gruenen Blaettergewirr tausend suesse Liebesworte zufluesterte. Es kam ihr vor, als waere sie ploetzlich alt und diese Zeit laege weit, weit hinter ihr. Wuerde sie denn noch einmal wiederkehren, oder war Liebe und Glueck fuer immer vorbei? Dann allein durch ihre Schuld, raunte ihr eine innere Stimme zu. Sie musste sich die Hand auf das unruhig klopfende Herz pressen. Flora hatte dem Verschwinden Ilses mit den hochtrabendsten Worten eine Erklaerung gegeben. "Die Sehnsucht nach dem Ferngeliebten," sprach sie theatralisch, "zaubert ihr sein Bild hierher. Sie ist nun mit ihm vereint, und wir duerfen das glueckliche Paar nicht stoeren." Sie erhob die Arme und streckte sie aus, wie wenn sie als Schutzengel ueber die beiden zu wachen haette. "Hu, hu, du siehst ja wie ein Geist aus, ich fuerchte mir," rief Nellie und brachte damit Flora, die wie geistesabwesend vor sich hinstarrte, in die Wirklichkeit zurueck. Der Referendar, welcher sich Ilse beim Abendessen nicht mehr genaehert hatte, nachdem er heute wiederholt von ihr abgewiesen worden, war ihr mit seinen stechenden Augen in den Saal gefolgt, und so sah er auch, wie sie in dem Erker verschwand. Sofort nahm er sich vor, ihr dahin nachzugehen, und als nach einer Weile Althoff nach der Uhr sah und zum Aufbruch mahnte, ergriff er schnell die Gelegenheit und erbot sich, das Anspannen besorgen zu lassen. Beim Hinausgehen lehnte er wie zufaellig die offene Tuere, die zum Saal fuehrte, an. Als er dann zurueckkehrte, klinkte er leise die andre Tuer auf, die vom Hausflur in den Saal fuehrte, und schlich sich auf den Zehen nach dem Platze, wo Ilse sass. Sie hatte ihn nicht kommen hoeren und erschrak nun um so mehr, als sie ploetzlich seine Stimme vernahm und ihn zwischen den Efeuwaenden stehen sah. Sie sprang auf und wollte forteilen, aber er liess sie nicht vorbei und drueckte sie mit sanfter Gewalt auf ihren Platz zurueck. "Was wollen Sie hier?" fragte sie in einem nicht misszuverstehenden Tone, der deutlich bewies, wie fatal ihr seine Gegenwart war. "Wie Sie, mein teures Fraeulein, moechte ich den herrlichen Mondenschein geniessen und dabei in Ihre schoenen Augen sehen." "Was faellt Ihnen ein!" rief sie empoert und schnellte wieder empor. "So bleiben Sie doch, ich tue Ihnen ja nichts," sagte er mit einschmeichelnder Stimme, indem er ihr den Ausgang versperrte. "Gestatten Sie mir nur eine Frage: Sind Sie gluecklich?" Sie gab keine Antwort, weil ihr eine namenlose Angst die Kehle zuschnuerte, und sie nur den einen Gedanken hatte, wie sie ihm entfliehen koennte. Er aber deutete ihr Schweigen anders. War es nicht auch eine Antwort auf seine Frage? "Ich wusste es ja," hub er wieder an, "ich las es in Ihren Augen, dass Sie nicht gluecklich sind. Sie finden in mir eine mitfuehlende Seele, welche Sie leider nur zu gut begreift. Auch ich bin an ein Wesen gekettet, das mich zu dem Ungluecklichsten der Ungluecklichen macht. Meine Braut, - o Himmel, dass ich ihr diesen suessen Namen geben muss -, nun, sie ist reich und sie wissen ja, 'nach Golde draengt, am Golde haengt doch alles.' Auch meine Existenz haengt von dem leidigen Mammon ab, denn ich bin ehrgeizig und strebe nach hohen Zielen, aber ich bin arm und habe mich deshalb mit dem reichen Maedchen verlobt. Das arme Ding, sie ist so in mich verschossen!" Ilse hatte schon einige Male versucht, ihn zu unterbrechen und sich durchzudraengen, - vergebens! Ekel und Abscheu erfasste sie. "Lassen Sie mich fort," sagte sie bebend vor Zorn. "Wenn Sie mich angehoert haben und den Kummer meines Herzens kennen, dann sollen Sie den Weg frei haben, aber erst muessen Sie mich hoeren und vielleicht goennen mir Ihre Lippen ein Wort des Trostes." "Ich will Sie nicht hoeren," stiess Ilse in hoechster Aufregung hervor; "lassen Sie mich gehen, oder ich rufe laut um Hilfe." "Sie werden doch keine Szene machen, den andern kein Schauspiel goennen," sagte er hoehnisch lachend. "O mein Gott!" stammelte Ilse und fiel in den Stuhl zurueck, indem sie ihre Augen mit beiden Haenden bedeckte. "So, nun bleiben Sie ruhig sitzen, bis ich Ihnen zu Ende erzaehlt habe. Wie gesagt, meine Verlobte ist naerrisch in mich verliebt, mir ist sie aber gleichgueltig. Ich ertrug diese Fessel mit Geduld und Fassung, bis ich Sie sah, Ihre suesse Stimme hoerte, in Ihre himmlischen Augen schaute, die mir verrieten, dass auch Sie ein Band umschlingt, das Sie zerreissen moechten. Sah ich es nicht oft und deutlich aus Ihrem Erroeten, aus ihrem gesenkten Blick bei der Nennung desjenigen, dem Sie ohne Liebe ihre Hand reichen wollen? Wie fuehlte ich mich schon in dem Gedanken gehoben, in Ihnen eine gleichgestimmte Seele gefunden zu haben. Ilse, sagen Sie mir ein Wort des Trostes, der Hoffnung!" Er naeherte sich ihr. Sie hatte sich ganz in die Ecke gedrueckt, unfaehig, ein Wort hervorzubringen. Ihre Augen hatten einen starren Blick, ihr Atem stockte und ihr Puls flog wie im Fieber. Nun ergriff er ihre Hand, die sie, wie von einer Viper gestochen, zurueckschleuderte. "Sie kleine Sproede!" sagte er mit aeusserster Ruhe und beugte sich zu ihr herab, dass sein Atem sie streifte. In qualvoller Angst sprang sie auf und stiess ihn mit kraeftiger Hand zurueck, dass er taumelte. Dann schob sie die Efeuwand zur Seite. In dem Augenblick aber, als sie an ihm vorueber wollte, versuchte er seinen Arm um ihre Taille zu legen. "Unverschaemter!" keuchte Ilse mit blitzenden Augen. In ihrer Todesangst wusste Ilse nicht, was sie tun sollte, sah nur sein Gesicht, das ihr wie das eines Teufels erschien, sie fuehlte seine Beruehrung. Schon wollte sie um Hilfe schreien, da fiel ihr Blick auf das Fenster. Sie riss es auf, und ehe er es hindern konnte, war sie auf den Stuhl gesprungen, von da auf das Fensterbrett, und im naechsten Moment war sie draussen. Bis ueber die Knie versank sie in dem weichen Schnee. Sie raffte sich aber auf und lief, als folge er ihr auf den Fersen, so schnell als moeglich weiter. Fort, nur fort aus seiner Naehe! Furcht und Scham trieben sie unaufhaltsam vorwaerts. Sie kletterte ueber die niedrige Gartenhecke und rannte noch eine Strecke auf der Strasse weiter, die ins Dorf fuehrte. Endlich blieb sie erschoepft stehen, die Hand auf das pochende Herz gedrueckt. "O mein Gott," rief sie laut, "es ist zu schrecklich! O Leo," schluchzte sie in den stillen Winterabend hinein, "warum bist du so fern? Ach, waerst du doch jetzt hier, koennte ich bei dir sein!" Und sie dachte, wie er doch so gut und edel sei. So haette er nie gehandelt, wie der Erbaermliche, nie, niemals! Und wuerde er sie jetzt noch lieben, nachdem sie ihm so tiefes Leid zugefuegt hatte, wuerde er vergessen koennen, was sie ihm getan? Und wenn er sich von ihr wandte, wenn sie fuer immer seine Liebe verloren hatte, mit der sie ein frevles Spiel getrieben, wie sie sich jetzt selbst in qualvoller Pein gestand! Sie bedeckte ihr brennendes Antlitz mit den kalten Haenden. So trostlos musste es einer Verstossenen und Verlassenen zu Mute sein, wie ihr in diesem Augenblick. Ploetzlich hoerte sie Schritte in ihrer Naehe, und in ihrer Angst, es koennte ihr der Schreckliche gefolgt sein, wagte sie kaum aufzublicken. Gott sei Dank, er war es nicht, es war Doktor Gerber, der von seinem Krankenbesuch zurueckkam. Sie schluepfte hinter den naechsten Baum, denn sie wollte in dieser Verfassung nicht entdeckt werden. Der Stamm des Obstbaumes konnte sie aber nicht ganz verdecken, auch hatte Gerber bemerkt, dass bei seinem Nahen eine Gestalt sich scheu zu verbergen gesucht hatte, er blieb stehen und sah forschend hinueber. Ilse ruehrte sich nicht. "Wer ist da?" fragte er. Keine Antwort. Da stapfte er durch den hohen Schnee, als er aber dicht vor ihr stand und sie erkannte, prallte er foermlich zurueck. "Fraeulein Ilse, wie kommen Sie hierher, was wollen Sie hier?" fragte er erstaunt. Und als er ihr bleiches, entstelltes Gesicht sah, fragte er nochmals. "Was ist Ihnen denn, ist Ihnen etwas begegnet? Und ohne Mantel, ohne Hut! Sie werden sich erkaelten." Sie blickte ihn flehend an, als wollte sie sagen: o, dringen sie nicht weiter in mich. Er verstand ihre stumme Bitte. "Kommen Sie," sagte er und ergriff ihre zitternde Hand. Schweigend gingen sie die mondhelle Dorfstrasse hinunter. Kaum konnte Ilse ihre Aufregung bemeistern, so tobte und kaempfte es in ihrem Innern; ihre Gedanken konnten sich von dem schrecklichen Erlebnis nicht losreissen. Einige Male versuchte sie mit ihrem Begleiter ein gleichgueltiges Gespraech anzufangen, aber die Worte wollten nicht ueber ihre Lippen. Sie beherrschte sich krampfhaft, denn bevor sie das Gasthaus erreichten, wollte sie ganz ruhig sein, damit die andern nichts merken sollen. Sie durften um Gottes willen nicht erfahren, was sie Beschaemendes erlebt hatte. Zu welchen Auseinandersetzungen wuerde es sonst zwischen Doktor Althoff und dem Verhassten kommen? Nein, nur das nicht, schon der Gedanke allein regte sie auf. Ilses kuehner Sprung aus dem Fenster hatte dem Referendar keinen geringen Schrecken eingejagt. "Donnerwetter, das tolle Ding!" hatte er bestuerzt und aergerlich zwischen den Zaehnen gemurmelt. Aber seine Geistesgegenwart verliess ihn darum nicht. Schaden konnte Ilse nicht genommen haben, beruhigte er sich, das Fenster war ja nur wenige Fuss ueber der Erde, und ausserdem lag tiefer Schnee. Er beugte sich hinaus und sah sie in grossen Spruengen ueber die weisse Flaeche hineilen. Leise schloss er hierauf das Fenster wieder. "Temperament hat die Kleine," sagte er halblaut vor sich hin mit einem unangenehmen Laecheln. Unbedingt musste er jetzt in die Gesellschaft zurueckkehren, wenn sein Ausbleiben nicht auffallen sollte. Trotz der Ruhe, die er nach diesem amuesanten Abenteuer, wie er es innerlich nannte, empfand, konnte er doch ein gewisses unbehagliches Gefuehl nicht unterdruecken, denn sicher wuerde Ilse plaudern, - wie fatal! Da galt es vorher ueberlegen, wie er ihre Anschuldigungen geschickt parieren sollte. Nun, an jesuitischer Spitzfindigkeit fehlte es ihm nicht, er wollte sich schon aus der Angelegenheit ziehen. Ebenso leise, wie er den Saal betreten, schlich er sich jetzt wieder hinaus und erschien dann vergnuegt laechelnd in der Tuere, durch welche er vorhin die Gesellschaft verlassen hatte. Er setzte sich zu den andern und nahm dankend das dampfende Glas Punsch entgegen, welches ihm Flora mit verfuehrerischem Laecheln reichte. Er berichtete, dass er alles gut besorgt habe, und dass die Kutscher, die er sehr gemuetlich bei Bier und Grog angetroffen habe, jetzt dabei waeren anzuspannen. "Nun muessen wir auch Ilse in ihrer Einsamkeit stoeren," sagte Nellie und war im Begriff, in den Saal zu gehen, als sich die Tuere, die nach dem Flur fuehrte, oeffnete und Ilse leichenblass eintrat, gefolgt von Floras Mann, der sich ebenfalls blass und erschoepft niederliess. Erschrocken eilte Nellie ihr entgegen. "Was hast du, _darling_, ist dich nicht wohl?" fragte sie leise und blickte verwundert in das starre Gesicht des jungen Maedchens. "Mir fehlt gar nichts, Nellie, ich bin ganz wohl," erwiderte Ilse ruhig und setzte sich neben Orla. Aus Lueders' Antlitz war bei Ilses Eintreten doch die Farbe gewichen. Er laechelte krampfhaft und stand wie ein Fuchs auf der Lauer, indem er gespannt auf jedes ihrer Worte horchte. Gott sei Dank, dachte er nach einer Weile erleichtert, sie scheint vernuenftig zu sein und schweigt. Nellie fuehlte sich durch die Antwort der Freundin nichts weniger als beruhigt, sondern sah dieselbe besorgt an. Jetzt fiel ihr Blick auf Ilses durchnaesste Kleider, und als sie nach ihrer Hand fasste, bemerkte sie, wie kalt diese war. "Ilse, du bist ja ganz feucht und kalt, wo bist du gewesen?" fragte sie aengstlich. "Gewiss hast du draussen im Mondenschein vom Herzallerliebsten geschwaermt," sagte Flora neckend, "gestehe es nur, Ilse." "Du hast ganz recht, Flora," gab sie zur Antwort, "ich sehnte mich nach frischer Luft und bin eine Strecke in das Dorf gegangen, wo ich deinen Mann traf." Sie wunderte sich selbst ueber die Ruhe, mit welcher sie diese Worte sprechen und auch die Fragen und Neckereien der andern ertragen konnte. Als aber der Referendar versuchte, mit ihr zu scherzen, traf ihn ein so veraechtlicher, drohender Blick aus ihren Augen, dass er verlegen fortsah und schwieg. Abgespannt und teilnahmlos sass Doktor Gerber da; auf die Frage, ob ihm etwas fehle, gab er zur Antwort, dass er sich ganz wohl fuehle und nur etwas muede waere. Sogar seiner Frau, welche sich umgezogen hatte und jetzt zurueckkam, fiel seine Blaesse und Mattigkeit auf; sie fragte ihn besorgt, ob es mit seinem Befinden schlimmer geworden sei. Seine verneinende Antwort beruhigte sie indessen schon wieder, und sie meinte, sein schlechtes Aussehen ruehre gewiss nur von dem Aufenthalt in der dumpfen Krankenstube her. Man war allgemein froh, als die Schlitten angespannt vor der Tuer standen, denn wie ein Alp lag es auf der vorher so lustigen Gesellschaft, seitdem Ilse und Gerber so bleich und still unter ihnen sassen und sichtbar ungeduldig auf den Aufbruch warteten. Ilse war die erste, welche aufsprang, als gemeldet wurde, dass alles zu der Abfahrt bereit sei. Waehrend die andern sich von Pastors verabschiedeten und die waermenden Huellen umlegten, war Ilse zu Nellie getreten und fragte sie leise, ob sie mit ihr zusammen fahren duerfe. "Ich muss dich sprechen," fluesterte sie hastig, "dringend muss ich dich sprechen." "_Darling_, wie kommst du mich vor diesen Abend, so zerstoert, was hast du?" "Nachher erzaehle ich dir alles, jetzt frage mich nicht," gab Ilse zur Antwort. Mit Entsetzen vernahm Nellie unterwegs, was der Freundin begegnet war. Gluecklicherweise war der Kutscher, der die beiden fuhr, etwas schwerhoerig und hatte sich obenein den Pelzkragen ganz ueber die Ohren gezogen, so dass er nicht verstehen konnte, was die Damen sprachen. Er haette sonst eine spannende Geschichte zu hoeren bekommen, denn Ilse sprach in ihrer Aufregung so laut, dass Nellie sie oefter ermahnte, vorsichtiger zu sein. Das Blut stockte ihr fast in den Adern bei Ilses Erzaehlung, und sie unterbrach diese oft mit dem ihr eigenen Ausruf 'o, o'! "Du armes, armes Kind," sagte sie, als Ilse zu Ende war, "was hast du durchgemacht, schrecklich! Das infame Mann, - was wird Fred sagen, wenn ich ihm das erzaehle? Es bleibt ihm weiter nichts uebrig, als ihm ein Ohrfeig zu geben auf der Strasse, wenn alle Leute es sehen." "Um Gottes willen," fuhr Ilse auf, "so etwas darf dein Mann nicht tun, es wuerde einen oeffentlichen Skandal geben, die Stadt wuerde davon sprechen, - bitte, bitte nicht Nellie! Aber Flora werde ich sagen, dass ich ihr Haus nicht wieder betrete, wenn ich diesen Menschen noch einmal bei ihr treffe. Oder - nein, es ist besser, auch sie erfaehrt nichts von dieser Geschichte. Sie setzt sich sonst womoeglich hin, dichtet eine Schauer-Ballade und liest sie dem Menschen noch obenein vor. Aber warnen will ich sie, warnen vor diesem Teufel!" Die dunklen Augen in dem bleichen Gesicht funkelten und spiegelten einen leidenschaftlichen Hass wieder, der dem jungen Antlitz etwas Duesteres verlieh. Schweigend blickte sie in die sternenklare Winternacht, ohne zu bemerken, dass Nellie sich noch warmer einhuellte und ihre Fuesse fester in die Decke wickelte. Die beiden sprachen wenig waehrend der uebrigen Fahrt, und auch aus den andern Schlitten toente kein froehliches Lachen, wie bei der Hinfahrt. Lueders, der wieder neben Flora sass, meinte, es waere zu kalt zum Sprechen und zog seinen Rockkragen in die Hoehe, so dass sein Gesicht fast ganz verschwand. Flora vergass seine Schweigsamkeit, denn der Mondesglanz, die Sterne, die klare Winternacht gaben ihr unzaehlige poetische Gedanken ein, die sie am andern Tage auf das Papier bringen wollte. Althoff bekam von seinem Nachbar, Doktor Gerber, auch nur kurze Antworten, man merkte, dass ihm das Sprechen schwer wurde. Nur in dem Schlitten, in welchem Andres und Orla sassen, schien die schoenste Harmonie zu walten. Orla hielt wieder die Zuegel in ihren Haenden, denn der Kutscher hatte zu tief in das Glas gesehen und war in eine Art Halbschlummer verfallen, aus welchem ihn Andres von Zeit zu Zeit aufschreckte, damit der muede hin und her Taumelnde nicht unversehens vom Sitze fiele und ihnen verloren ginge. Scherzend hatte er zu dem jungen Maedchen gesagt, dass es eigentlich nicht in der Ordnung waere, sich von einer Dame nach Hause fahren zu lassen, worauf sie lachend erwiderte, dass sie nach der Meinung ihrer Freundin Rosi gar nicht mehr unter die Frauen gehoere und er sich deshalb getrost ihre Leitung gefallen lassen moege. Den beiden verging unter lebhaftem Geplauder die Zeit so schnell, dass sie ganz erstaunt waren, schon in die heimatlichen Strassen einzufahren und bald darauf vor der Althoffschen Wohnung zu halten. - Als sich die beiden jungen Maedchen zur Ruhe begaben, fielen Ilse die seltsam glaenzenden Augen der Freundin auf und ein heimliches Laecheln um ihren Mund, das ihr Antlitz wunderbar verklaerte. Sie gab auch einige Male zerstreute Antworten auf Ilses Fragen, ganz gegen ihre sonstige Art. "Gute Nacht, Ilse," sagte sie schon im Bette liegend und bemerkte erst jetzt, dass diese noch nicht angefangen hatte sich auszuziehen. "Willst du noch nicht zu Bette gehen?" fragte sie. "Nein, Orla, ich bleibe noch etwas auf, ich bin noch nicht muede." [Illustration] Sie wartete noch eine Weile bis Orla fest eingeschlafen war, und holte dann ihre Schreibmappe hervor. Hierauf stellte sie die Lampe auf den Tisch am Fenster, an welchem Orla oft bis tief in die Nacht arbeitete, nahm einen Briefbogen, tauchte die Feder langsam in das Tintenfass und schrieb nach langem Besinnen die Worte: 'Lieber Leo!' auf das Papier, dann stuetzte sie wieder den Kopf in die Hand und starrte gedankenvoll auf das weisse Blatt vor ihr. Wie schwer wurde ihr der Anfang, und doch war das Herz ihr zum Zerspringen voll. Es lastete wie ein Verbrechen auf ihr, sie kam sich erniedrigt und nach dem heutigen Erlebnis wie treulos gegen ihren Braeutigam vor, weil sie das schaendliche Bekenntnis des ihr fremden Mannes mit angehoert hatte. Welche Worte hat er zu ihr gesprochen, - noch toenten sie in ihren Ohren fort -, wie konnte er das wagen, wie durfte er ihr so etwas bieten und sie ungluecklich nennen! - Und doch, konnte sie das alles so wunderbar finden, hatte sie den Leuten nicht genuegend Veranlassung gegeben, sie fuer eine unglueckliche Braut zu halten? Ihr 'gesenkter Blick', ihr 'Erroeten', wie der Abscheuliche gesagt, und dann die Szene mit Andres, die er, - jetzt wusste sie es, - belauscht hatte, alles dieses waren fuer ihn Beweise gewesen, dass sie nicht gluecklich sei. Und hatte er denn unrecht? Hatte sie sich nicht selbst fuer ungluecklich gehalten, fuer tief ungluecklich? Warum empoerte sich denn ihr Inneres darueber, dass ein anderer ihre geheimsten Gedanken erraten hatte, war sie denn vielleicht nicht mehr ungluecklich? Nein, tausendmal nein, rief es in ihr! Seit sie draussen in der kalten Winternacht die brennendste Sehnsucht nach ihm, nach seinem Schutz empfunden, fuehlte sie, dass sie allein an diesem Unglueck die Schuld trug, dass es in ihrer Hand lag, ihn und sich wieder gluecklich zu machen. Und sie hatte sich vorgenommen, ihn noch heute abend zu bitten: vergiss, was ich dir getan, - und ihm alles erzaehlen, was sie hatte erleben muessen, dann wuerde ihr leichter, sie wuerde dann ruhiger werden. Unterwegs hatte sie sich den Inhalt des Briefes im Geiste ueberlegt und immer wiederholt, aber jetzt, da sie ihre Gedanken in Worte kleiden und diese niederschreiben sollte, konnte sie nicht damit fertig werden. Endlich nach langem Zaudern ueberwand sie den schwierigen Anfang und schrieb fliessend weiter, ohne nur einmal innezuhalten. Sie hoerte nicht auf, bis sie einen heftigen Schuettelfrost bekam und nun erst daran dachte, dass sie die feuchten Kleider und Schuhe noch nicht ausgezogen hatte. Sie verschloss nun die Mappe mit dem Briefe in ihrem Koffer und begab sich zur Ruhe. Aber auch im warmen Bett noch ueberlief sie ein Froesteln, Haende und Fuesse waren eiskalt, und nur ihr Kopf brannte wie Feuer; sie legte ihre Hand auf Stirn und Wangen, was ihr wohl tat. Den brennenden Durst, der sie quaelte, konnte sie kaum loeschen, immer von neuem schenkte sie sich Wasser ein und trank das Glas auf einen Zug leer. Endlich, nachdem sie lange wachend gelegen, nahm sie der erloesende Schlaf in seine Arme, und sie wachte erst auf, als Orla bereits fertig angezogen vor ihrem Bette stand. "Guten Morgen, du Langschlaeferin!" rief sie ihr entgegen. "Endlich ausgeschlafen? Aber Kind, was hast du in dieser Nacht fuer einen Spektakel gemacht, du hast fortwaehrend geredet, bald fuhrst du in die Hoehe, und warfst dich dann wieder hin, nicht fuenf Minuten lang hast du ruhig gelegen. Ich war einige Male an deinem Bett und wollte dich wecken, aber du schliefst so fest. Uebrigens hattest du entschieden Fieber, dein Puls ging schnell und die Haut war heiss und trocken. Gib mir mal deine Hand, wie sie sich heute morgen anfuehlt? - Immer noch fiebrig, dein Puls schlaegt nicht normal." "Die kuenftige Doktorin," neckte Ilse. "Na, um das zu erkennen, braucht man kein Arzt zu sein. Ich an deiner Stelle bliebe im Bett liegen, du siehst so elend und angegriffen aus, - hast du auch Schmerzen?" "Ich habe Kopfweh, Orla. Aber bitte, gehe du nur zum Kaffeetrinken und entschuldige mich, wenn ich heute erst spaet erscheine." Dass sie auch heftige Schmerzen im Hals hatte, verschwieg sie. "Also du willst wirklich aufstehen?" fragte Orla. "Natuerlich, so schlimm ist es ja gar nicht." Aber sie war doch matter, als sie dachte, das empfand sie erst, als sie das Bett verlassen wollte. Erschoepft sank sie einige Male wieder zurueck, sie fuehlte Schwindel, der Kopf war ihr schwer und die Schmerzen im Halse quaelten sie. Sie zog sich nur ihren Morgenrock ueber und ging dann in das Esszimmer. Doktor Althoff war schon fortgegangen, Nellie und Orla sassen noch am Kaffeetisch. Die junge Frau erschrak ueber Ilses Aussehen. "O _darling_, wie schaust du aus, so weiss wie diese Tischtuch und ganz blau unter der Auge, du musst dir sehr krank fuehlen." Laechelnd versuchte Ilse die Besorgnis der Freundin abzuwehren, aber sie konnte dieselbe nicht taeuschen. Nellie wollte durchaus, dass sie sich wieder zu Bette legen solle, wozu sie sich indessen nicht bewegen liess. Als aber Nellie den bequemen Diwan aus ihres Mannes Zimmer in das ihrige bringen liess, da bedurfte es keines langen Noetigens, dass sich Ilse darauf legte, da sie sich immer schlechter fuehlte. Sie liess es auch geschehen, dass Nellie eine wollene Decke ueber ihre Fuesse breitete, und fuegte sich bald ganz ihren Anordnungen, trank kuehle Limonade und legte ihren Kopf auf das weiche Kissen, das ihr Orla brachte. Es war ihr jetzt ganz recht, dass sie still liegen konnte, denn sie hatte nur das eine Beduerfnis nach unbedingter Ruhe. Ja, sie straeubte sich sogar nicht dagegen, als Nellie ihr Maedchen nach Doktor Gerber schickte, weil sie selbst fuerchtete, ernstlich krank zu werden. Muede schloss sie die Augen, und der gestrige Tag zog noch einmal beaengstigend an ihrem Geist vorueber. Was hatte sie gelitten, welche Qualen ausgestanden, als sie die leidenschaftlichen Augen des Referendars dicht vor den ihrigen sah, seinen heissen Atem fuehlte und festgebannt wie eine Gefangene ihm nicht entrinnen konnte. Sie dachte sich in der Braut des Verhassten ein stilles, sanftes Maedchen, das mit zuversichtlicher Liebe und in vollem Vertrauen zu ihm aufblickte. Wenn sie wuesste, wie sie hintergangen, auf die erbaermlichste, niedrigste Weise getaeuscht wurde! Sie haette nicht gedacht, dass ein Mensch so schlecht sein koennte, denn das Leben hatte ihr bis jetzt nur seine lichten Seiten gezeigt; die dunklen hatte sie noch nicht kennen gelernt, sie wusste noch so viel wie nichts von Schlechtigkeit und gemeiner Gesinnung. Treu sorgende Eltern hatten von ihr alles fernzuhalten gewusst, was ihr kindlich reines Gemuet haette trueben koennen. Wie umstrahlt von hellem Licht erschien ihr jetzt Leo, zum ersten Male kamen ihr seine guten und edlen Eigenschaften so recht zum Bewusstsein. Ob er wohl je so von ihr sprechen wuerde, wie dieser Lueders ueber seine Braut sprach? Nein, nie, das wusste sie. Kein bitteres Wort ueber sie wuerde aus seinem Munde kommen, trotzdem sie im Zorn und Groll von ihm geschieden war. Wann sehe ich ihn wohl wieder? dachte sie, und die bange Sorge um ihn erweckte ihr die Vorstellung, dass er krank sein koennte, ja vielleicht sterben muesste, ohne dass sie ihn jemals wiedergesehen und erfahren haette, ob er ihr noch gezuernt habe. Ihre krankhafte Phantasie malte dieses Ereignis in den grellsten Farben aus, es entlockte ihr heisse Traenen, Tropfen auf Tropfen stahl sich durch ihre geschlossenen Augenlider und fiel auf ihre Wangen herab. - Im Nebenzimmer wurden jetzt Schritte hoerbar und sie hoerte Nellie sagen: "Bitte, Herr Doktor, treten Sie hier herein." Schnell fuhr Ilse in die Hoehe und wischte sich mit dem Tuch ueber ihre Augen. Orla, die am Fenster sass, sah von ihrem Buche auf, als sich jetzt die Tuer oeffnete. Als aber statt des erwarteten Doktor Gerber sein junger Assistenzarzt erschien, entglitt das Buch ihren Haenden und sie bueckte sich schnell, um es aufzuheben. Wieder konnte sie eine Verlegenheit nicht verbergen, als er jetzt vor ihr stand und ihr die Hand reichte. Sie war aergerlich auf sich selbst, und als er sie freundlich fragte, wie ihr die Schlittenpartie bekommen sei, gab sie ihm nur eine kurze Antwort und lenkte dann schnell die Aufmerksamkeit von sich auf Ilse ab. "Hier sehen Sie nur, Herr Doktor, unsre arme Ilse, welche Folgen die Schlittenpartie fuer sie gehabt hat; da liegt sie nun, ein Bild des Jammers und der Leiden. Uebrigens," sie hatte jetzt ihre volle Fassung wiedergewonnen, "wie kommt es, dass Sie uns besuchen, da doch nach Doktor Gerber geschickt worden war?" "O ja, Orla, hoere nur," fiel Nellie ein, "lauter Patienten! Das arme Mann liegt krank im Bette und hat der ganze Nacht phantasiert. Als unsre Botschaft kam, war gerade Herr Doktor Andres bei ihm und kam gleich hierher, arm Ilschen zu kurieren." "Er ist doch nicht gefaehrlich erkrankt?" fragte Orla, als sie bemerkte, dass sein Gesicht bei Nellies Bericht merkwuerdig ernst geworden war. "Ich fuerchte fast; noch laesst sich keine bestimmte Diagnose stellen, aber alle Anzeichen sind vorhanden, dass eine Lungenentzuendung im Anzuge ist." Er hatte Ilses Handgelenk umfasst, zog die Uhr heraus und zaehlte die Pulsschlaege. Dann untersuchte er ihren Hals und erklaerte, dass eine leichte Halsentzuendung vorhanden waere. Sie sollte sich einige Tage schonen und wuerde dann bald wieder gesund sein. Er traf noch einige Anordnungen, verschrieb ihr was zum Gurgeln und sagte scherzend zu Orla, dass sie jetzt sein Assistent sein und ihm morgen genauen Bericht ueber seine Patientin erstatten moege. Jeden Tag erschien Andres puenktlich zu derselben Stunde, und stets fand sich auch Orla ein, wenn er kam. Ilse musste noch immer auf dem Sofa liegen, obgleich sie behauptete, sich wieder ganz wohl zu fuehlen. Aber da es der Doktor so anordnete, wagte sie nicht, sich zu widersetzen, und liess es sich schliesslich ganz gern gefallen, dass sie auf das liebevollste gepflegt und verhaetschelt wurde. Einige Male hatte sie Orla dabei ertappt, dass sie zu der Zeit, wenn Andres zu kommen pflegte, erwartungsvoll durchs Fenster blickte. Sie teilte ihre Beobachtungen Nellie mit und auch diese hatte schon bemerkt, dass der junge Mann Orla nicht gleichgueltig geblieben war, und dass auch seine Augen strahlten, wenn er mit der Russin sprach. Und als Ilse wieder gesund war und seine aerztlichen Besuche aufhoerten, da war er ein Freund des Hauses geworden, ein haeufiger, gern gesehener Gast bei Althoffs. * * * Leider ging es Floras Mann nicht so gut, wie Ilse, sein Zustand hatte sich von Tag zu Tag verschlimmert, er war schwer an einer Lungenentzuendung erkrankt. Andres hatte noch einen zweiten Arzt hinzugezogen und beide blickten mit grosser Besorgnis in die naechste Zukunft. Die Freundinnen standen Flora in dieser schweren Zeit treu zur Seite, taeglich kam eine, um zu helfen und zu raten; denn Flora war in der Krankenpflege ganz unerfahren und ungeschickt. Sie hatte im Anfang die Krankheit ihres Mannes mit grosser Sorglosigkeit angesehen; als aber das hohe Fieber nicht weichen wollte, die Kraefte ersichtlich abnahmen und sie die besorgten Gesichter der beiden Aerzte sah, da fiel es ihr ploetzlich wie Schuppen von den Augen, und eines Tages war sie Nellie weinend um den Hals gefallen und hatte ihrem geaengstigten Herzen Luft gemacht. Nellie hatte sie auf das liebevollste getroestet und ihr Mut eingesprochen. Als sie dann aber den einst so kraeftigen Mann abgemagert und teilnahmlos in den Kissen liegen sah, da vermochte sie selbst die Traenen nicht zurueckzuhalten, und auch nachher konnte ihr Gatte sie kaum beruhigen, als sie nach Hause kam und ihm erzaehlte, wie Gerber veraendert und kaum wieder zu erkennen sei. Wieder vergingen Tage, ohne die so heiss ersehnte Besserung zu bringen, und Flora, welche jeden Halt verloren hatte, weinte nur und klagte, selbst im Krankenzimmer konnte sie sich nicht beherrschen. Nellie hatte sich erboten, Kaethchen mitzunehmen, da sie es nicht mehr mit anzusehen vermochte, wie das Kind am Bett seines Vaters kauerte, die grossen Augen angstvoll auf sein eingefallenes Gesicht gerichtet, und leise seine Haende streichelte. "Lass das Kind mit mich gehen," hatte Nellie gebeten, "es ist hier keine Ort fuer ihr." Und auch Andres, der zugegen war, meinte, es waere besser fuer die Kleine, wenn sie in andre Umgebung kaeme, der fortwaehrende Aufenthalt in der Krankenstube koenne ihr nur schaden. Flora nahm Nellies Anerbieten gern an, und die junge Frau war sofort daran gegangen, Kaethchens Sachen zusammenzupacken und alles Noetige zu besorgen. Aber so leicht, wie sie dachte, liess sich das Kind nicht mitnehmen; es straeubte sich und wollte durchaus bei seinem lieben Papa bleiben. Nach unendlicher Muehe und vielen Liebkosungen Nellies gelang es ihr schliesslich, Kaethchen gegen das Versprechen, dass sie ihren Papa bald wiedersehen wuerde, und auf die Versicherung hin, dass dieser selbst wuenschte, sie moege ein artiges Kind sein, zum Mitgehen zu bewegen. Alles war zum Empfang der Kleinen auf das reizendste vorgerichtet. Nellie hatte huebsche Spielsachen eingekauft, und die beiden jungen Maedchen versuchten, mit ihr zu spielen und zu scherzen. Es glueckte ihnen aber nicht, ein Laecheln auf dem ernsten Kindergesicht hervorzurufen. Die Spielsachen blieben unberuehrt, und Kaethchen fragte nur immer, ob ihr lieber Papa bald wieder gesund wuerde. Die weichherzige Ilse musste sich abwenden, um ihre Ruehrung zu verbergen, sie konnte den traurig fragenden Blick in Kaethchens Augen nicht ertragen. Als Nellie sie am Abend in das Bettchen brachte, das sie dicht neben das ihrige gestellt hatte, und die Kleine mit gefalteten Haenden ihr Abendgebet hersagte, das mit der ruehrenden Bitte schloss: "Lieber Gott, mache meinen Papa recht bald wieder gesund," da ahnte das unschuldige Kindergemuet nicht, dass bereits der Todesengel unheilschwer ueber dem Haupte des Vaters schwebte. [Illustration] "Nicht wahr, liebe Tante, der liebe Gott hat mich gehoert?" fragte sie Nellie, und als diese unter Traenen laechelnd nickte, legte sie das Koepfchen voll Vertrauen in die Kissen. Nellie blieb so lange am Bettchen sitzen, bis Kaethchen fest eingeschlafen war. Die blassen Baeckchen hatten sich zart geroetet, und der kleine Mund laechelte im Schlafe. Fast andaechtig blickte die junge Frau auf das schlummernde Kind, - konnte es etwas Suesseres, etwas Lieblicheres geben? Sie streichelte die kleinen Haende und lauschte den ruhigen, gleichmaessigen Atemzuegen. Wie eine Mutter strich sie mit der Hand ueber die Kissen, dass auch kein Faeltchen den Schlummer des kleinen Geschoepfchens stoeren sollte. Dann erhob sie sich, drueckte einen leisen Kuss auf die reine Kinderstirn und schlich sich aus dem Zimmer. "O, es liegt wie eine Engel, das kleine Maedchen," sagte sie zu Orla und Ilse. Spaet am Abend kam Doktor Andres, bleich, mit verstoerter Miene. Es hatte ihn gedraengt, den Freunden noch mitzuteilen, dass man sich auf das Schlimmste gefasst machen muesste. Das Fieber blieb trotz aller angewandten Mittel auf gleicher Hoehe und die Kraefte verfielen zusehends. Alle waren ueber diese Botschaft toetlich erschrocken, und Nellie zeigte sich sofort bereit, zu Flora zu eilen. "O nein, ich darf ihr nicht verlassen!" rief sie, als man sie zurueckhalten wollte. "O, Fred, lass mich! Ich rege mir viel mehr auf, wenn ich hier bleibe, waehrend meine Gedanken doch bei ihr sind." "Dann gehe ich mit dir," entschied Althoff, der es schliesslich auch ganz natuerlich fand, dass seine Frau Flora in den schweren Stunden, vielleicht den schwersten ihres Lebens, nicht verlassen wollte. Der junge Arzt verabschiedete sich, er musste wieder zu dem Kranken eilen. Orlas Hand behielt er laenger als gewoehnlich in der seinen, und sein tiefer, ernster Blick ruhte mit Innigkeit auf ihrem Antlitz. "Auf Wiedersehen!" sagte er leise und ging fort. Ilse hatte Nellies Sachen hereingeholt und half der Freundin mit zitternden Haenden beim Anziehen. Wie ein Alp lastete es auf allen, und nur das Noetigste wurde gesprochen. Das junge Ehepaar war fortgegangen, und es herrschte jetzt eine fast unheimliche Stille in dem Zimmer, in welchem sonst heiteres Lachen und Plaudern ertoente. Orla sass am Tisch, tief ueber ein Buch gebeugt. Ilse lehnte in der Sofaecke, die gefalteten Haende lagen in ihrem Schoss. Sie fuerchtete sich grenzenlos, aber sie wagte nicht, Orla dies einzugestehen. Die kleine niedrige Lampe mit dem breiten Schirm beleuchtete hell den runden Tisch. Aber die uebrigen Gegenstaende im Zimmer ausserhalb dieses Lichtkreises verschwanden in einem matten Halbdunkel. Nichts stoerte die naechtliche Ruhe, als das gleichmaessige Ticken der Uhr. Orla sass unbeweglich, scheinbar in ihre Lektuere vertieft, kaum dass sie mit der Wimper zuckte. Aber ihre Gedanken weilten heute nicht bei dem Inhalt des Buches, den sie mechanisch ablas. Sie hafteten an einer hohen, schoenen Gestalt, von der sie sich nicht losreissen konnte, deren Bild sie im Wachen nicht verliess und bis in ihre Traeume verfolgte. Mit doppeltem Eifer, als wollte sie es gewaltsam zurueckdraengen, hatte sie gelesen und studiert. Sie war fast unzugaenglich und sehr schweigsam gewesen, hatte immer hinter ihren Buechern gesessen, so dass ihr Lehrer, so sehr er sich ueber ihre Fortschritte freute, sie doch ernstlich ermahnte, ihre Kraefte zu schonen. Nur wenn Andres kam, dann sprudelte sie ueber von Geist und Witz. Er erkundigte sich nach ihren Studien, sie fragte nach den Erlebnissen in seiner Praxis. Beide schienen dann nur fuer einander da zu sein, sie vergassen voellig ihre Umgebung, und die sonst so kluge, ueberlegene Orla dachte nicht daran, dass die Freunde merken mussten, was sie als tiefstes Geheimnis in ihrem Herzen verschlossen zu halten glaubte. Kleine harmlose Neckereien liess sie sich laechelnd gefallen, aber jede ernste Anspielung wies sie entschieden zurueck. Sie meinte, wenn zwei Menschen zusammen uebereinstimmten und gemeinsame Interessen hatten, muessten sie nach der Ansicht der anderen natuerlich gleich ineinander verliebt sein. Sie waere ueberhaupt keine Natur zum Lieben geschaffen. Nellie und Ilse als Erfahrenere in dieser Beziehung laechelten sich bei diesen Worten ueberlegen an und schwiegen. Orla glaubte sich wirklich gefeit gegen die Liebe. Die kleinen Taendeleien und Liebschaften, welche andern so viel Freude und auch wohl kindliche Schmerzen bereiten, waren ihr fremd geblieben. Ausser Doktor Althoff, fuer den in der Pension alle Maedchen schwaermten, hatte sie nie eine sogenannte "Flamme", wie es die andern nannten, gehabt. "Kalt wie eine Hundeschnauze", diesen sehr drastischen Vergleich hatte Annemie einmal gebraucht, worueber die aesthetische Flora ganz entsetzt gewesen war. An die Aermste dachte Orla jetzt voller Mitleid! Die Lust zum Dichten wuerde ihr wohl jetzt, da ihr das Leben zum ersten Male seine ernsten Seiten zeigte, vergehen. Wie es wohl um diese Zeit bei Gerbers aussah? Orla sah Andres im Geist neben dem Bette des Kranken sitzen, ruhig und sicher seine Anordnungen treffend. Diese Ruhe und Sicherheit, sein ruecksichtsvolles Wesen, wo es galt, Ruecksicht zu nehmen, - stempelten ihn diese Eigenschaften nicht zum echten, menschlich fuehlenden und denkenden Arzte, zu welchem die Kranken mit unbedingtem Vertrauen aufblicken konnten? Vielleicht waren jetzt gerade Floras um Hoffnung flehende Augen auf ihn gerichtet, und, - o Gott, wie schwer musste das sein, - vielleicht konnte er ihr keine mehr geben, vielleicht war schon alles vorbei! Wenn sie nur wuesste, wie es ging, die Stunden schlichen so langsam dahin, eben schlug es draussen von den Tuermen in langsamen Schlaegen zwoelf Uhr. Die Geisterstunde, wie Ilse schaudernd dachte. Ihre lebhafte Phantasie war von den schaurigen Bildern erfuellt. Bald starrte ihr aus einer Ecke das totenblasse, verzerrte Gesicht des Doktor Gerber entgegen, oder Leo erschien ihr, und seine Augen schauten sie traurig und vorwurfsvoll an. Aus allen Winkeln grinsten sie Fratzen und Gestalten an; die weissen Gardinen erschienen ihr wie wallende Gewaender von Gespenstern, wo sie hinblickte, sah sie etwas Graessliches. Nein, so hielt sie es nicht laenger aus! sie erhob sich aus ihrer dunklen Ecke und trat an den Tisch. Orla blickte auf. "Es ist spaet geworden, wollen wir zu Bett gehen, Ilse?" "Ach Orla, ich kann doch nicht schlafen, ich bin zu aufgeregt." "Ich bleibe gern mit dir auf," erwiderte Orla und erhob sich. "Komm, wir wollen nach der Kleinen sehen, ob sie ruhig schlaeft." Ilse schmiegte sich dicht an die Freundin, als sie ueber den Vorplatz gingen, und sah sich fortwaehrend furchtsam um. Als Orla beim Vorbeigehen den Schirmstaender streifte, schreckte Ilse bei dem Geraeusch jaeh zusammen und umklammerte die Russin mit beiden Haenden. "Kind, ich glaube wahrhaftig, du fuerchtest dich," sagte Orla erstaunt, da ihr Furcht etwas ganz unbekanntes war. "Ach nein, nur heute abend," stotterte Ilse verlegen, die sich gerade von Orla nicht gern dabei ertappen liess, dass sie ein Hasenfuss war. Das Zimmer, in welchem Kaethchen schlief, war nur schwach durch eine Nachtlampe erleuchtet, deren matter Schein auf dem weissen Bettchen lag. Die jungen Maedchen beugten sich darueber und betrachteten das sanft schlummernde Kind. "Wie entzueckend!" fluesterte Ilse. "Armes, kleines Ding!" sagte Orla und kuesste es auf das weiche Baeckchen. "Wie es nur bei Gerbers aussehen mag," meinte Ilse und liess sich auf einen Schemel zu Fuessen Orlas, die sich neben das Bettchen gesetzt hatte, nieder. Die Freundin konnte nur mit einem Achselzucken antworten; auch sie beschaeftigte sich innerlich fortwaehrend mit dieser Frage. "Ich kann mir gar nicht denken, dass er nicht wieder gesund wird," fuhr Ilse fort. "Es waere doch schrecklich, so jung sterben zu muessen." "Danach fragt der Tod nicht," sprach Orla leise wie in Gedanken versunken vor sich hin. "Meine Eltern waren auch noch jung, als sie starben und mich als Waise zurueckliessen." Ilse blickte zu der Freundin empor und sah es feucht in deren Augen schimmern, die heute einen seltsam weichen Ausdruck hatten. Schmeichelnd legte sie ihren Kopf in Orlas Schoss. "Liebe, liebe Orla," fluesterte sie leidenschaftlich und haette sich ihr in der Stimmung, in welcher sie sich befand, am liebsten um den Hals geworfen, um sich dort auszuweinen. Aber sie wusste, dass Orla eine Feindin solcher Szenen war, und deshalb begnuegte sie sich damit, ihr die Haende zu streicheln und ihre Wange darauf zu legen. So sass sie ganz still mit geschlossenen Augen und als Orla ihr liebkosend ueber das braune, lockige Haar fuhr, da war es ihr, als ruhte sie an Leos Brust und dieser liesse ihre Locken durch seine Finger gleiten, was er so gerne tat. Die zaertlichen, rosigen Stunden ihrer Brautzeit draengten sich in ihre Erinnerung, und sie empfand im Geiste wieder das wohlige Gefuehl, von den Armen eines geliebten Mannes umschlossen zu sein. Hatte ihr Herz in solchen Momenten nicht hoeher geschlagen vor Freude und Seligkeit? Und warum war es denn anders geworden, warum sollten diese gluecklichen Zeiten vorbei sein? Wie ein Nebel zerfloss vor ihren Augen die kleinliche Ursache ihres Streites, und sie wollte es sich gar nicht mehr eingestehen, dass sie deshalb ihr Glueck auf das Spiel gesetzt hatte. Wie viele Stunden und Tage hatte sie sich und ihm verbittert, welch lange Trennung herbeigefuehrt! Wann wird diese ein Ende nehmen? Auf einmal empfand sie, wie bitter unrecht das alles war, da doch das Leben nur kurze Dauer hat und die schweren Zeiten ohnedies nicht ausbleiben. Konnte sie nicht ein gleiches Schicksal treffen wie Flora, welche auch achtlos in den Tag hinein lebte und nun vielleicht zu spaet erkannte, welche Pflichten sie haette erfuellen muessen? Wenn jetzt deren Mann stuerbe, wuerde dann nicht die Reue sie ewig peinigen und ihr mitleidlos zurufen: du hast deinen Mann vernachlaessigt, du hast sein Dasein nicht erhellt. Mit diesem schrecklichen Vorwurf im Herzen leben zu muessen, dachte Ilse, nein, das koennte sie nicht, da wuerde sie eher vergehen. Aber hatte sie nicht auch Liebe und Glueck besessen und beides mit leichtsinniger Hand beiseite geworfen? Wuerde sie wohl wieder aufrichten koennen, was sie zerstoert hatte, oder war es schon zu spaet dazu? Nein, das durfte, das konnte nicht sein! Es packte sie mit wahnsinniger Angst, und der Gedanke, dass Leo jetzt sterben koennte, stand drohend vor ihrer Seele und verfolgte sie wie eine fixe Idee. Um Gottes willen, nur das nicht, nur das nicht, dachte sie bebend, und sie gelobte sich in diesem Augenblick feierlich, anders werden, ihm nie wieder solches Leid zufuegen zu wollen. Und nun dachte sie auch daran, wie sie ihre Eltern gekraenkt hatte, wie die darunter leiden und mit welcher Sorge sie wohl in ihre Zukunft blicken mochten. Dennoch aber hatte sie nie ein Tadel oder Vorwurf getroffen, ihre Briefe waren stets liebevoll und zaertlich gewesen, aus zarter Ruecksicht hatten sie niemals ihr Zerwuerfnis mit Leo beruehrt. Und wie vergalt sie solche Liebe und Guete, war sie dankbar dafuer? Beschaemt hielt sie Einkehr in ihrem Innern, sie fuehlte, wie unrecht sie gehandelt hatte und noch handelte; immer klarer wurde es in ihr, ihre bessere Natur gewann wieder die Oberhand in ihrem Herzen, von welchem sich Trotz und Eigensinn wie rauhe Schalen von einem guten Kern loesten. Vor ihren Augen zogen Bilder aus der Vergangenheit vorueber, die Rueckkehr aus der Pension in das Elternhaus, ihre Verlobung. Sie sah die Eltern, das kleine Bruederchen, sie hoerte dieses jauchzen, war mit Leo zusammen und fuehlte sich glueckselig und froh, wie sie es lange nicht gewesen. Die lieblichsten Erinnerungen wiegten sie endlich sanft in Schlummer und begleiteten sie in ihren Traeumen, aus denen sie erst erwachte, als sie ploetzlich ihren Namen rufen hoerte. Schlaftrunken fuhr sie empor und sah Doktor Althoff, der eifrig mit Orla sprach. Sie wurde sich bewusst, dass sie sehr lange geschlafen haben musste, denn die Morgendaemmerung stahl sich schon durch die Fenster herein und ueberzog alles mit einem grauen, fahlen Schein. "Komm Ilse, steh auf," sagte Orla und half ihr sich erheben. Mit einem traurigen Blick auf das schlafende Kind neigte sie sich dicht zu ihrem Ohr und sagte mit leiser Stimme: "Der arme Doktor Gerber ist tot." "O, mein Gott!" rief Ilse so laut, dass Orla sie aus dem Zimmer zog, weil das Kind nicht aufwachen sollte. "Ist es denn wahr?" fragte sie Althoff mit traenenerstickter Stimme; "das ist ja fuerchterlich." Er nickte und liess sich in einen Stuhl fallen, indem er den Kopf muede in die Hand stuetzte. "Die arme, arme Flora, das suesse kleine Kaethchen," jammerte Ilse, waehrend sie aufgeregt hin und her ging. Orla war inzwischen hinausgegangen und hatte dafuer gesorgt, dass Althoff Kaffee bekaeme. Sie brachte ihm jetzt selbst eine Tasse herein und setzte sie vor ihn hin. "Bitte, trinken Sie, Herr Doktor, ich habe den Kaffee recht stark gemacht, er wird Sie erfrischen." Er dankte ihr herzlich und trank. Dann zog er seine Uhr heraus. "Schon bald acht Uhr, da ist es Zeit, dass ich gehe." Er erhob sich. "Die arme Nellie, sie ist so erregt, es ergreift sie tief," sagte er. "Sie muss entschieden jetzt Ruhe haben," versetzte Orla, "ich werde zu Flora gehen und sie abloesen." "Ich gehe mit," rief Ilse und hing sich an Orlas Arm. Die beiden gingen mit Althoff zusammen fort. Dieser war froh, dass Nellie nun nach Hause gehen konnte, denn er fuerchtete, dass die entbehrte Nachtruhe und die Aufregung ihr schaden koennten. Als die Freundinnen das Trauerhaus betraten, zoegerte Ilses Fuss auf der Schwelle; sie musste die Hand auf das klopfende Herz legen. Schon hier beschlich sie das unheimliche Gefuehl, welches der Ort, an dem ein Toter liegt, hervorruft, und sie waere am liebsten wieder umgekehrt, wenn nicht Orla, welche die Treppe schon hinaufgegangen war, sie leise gerufen haette. Oben an der Tuer kam ihnen Nellie mit verweinten Augen entgegen und die drei jungen Wesen umarmten sich stumm, keine vermochte zu sprechen. Sie traten in Floras Zimmer ein. Heute lagen keine bunt verstreuten Blaetter auf dem Schreibtisch herum, wie bei Ilses erstem Besuche, auch glich die schweigsame Nellie am Fenster nicht im geringsten der Nellie von damals, deren uebermuetiger Spott so belustigend gewesen war. Der duestere Wintermorgen passte so recht zu der Stimmung in dem stillen Gemach. Froestelnd, kalt und unbehaglich war es heute, der einfoermig graue Himmel sah nicht aus, als ob er auch im klarsten Blau strahlen und heiter laechelnde Sonnenblicke schicken koennte. "Wo liegt er?" fragte Orla endlich nach langem Schweigen. Nellie bezeichnete ihr das Zimmer. "Ist Flora dort?" "Sie ruht sich ein wenig," gab Nellie zur Antwort. Orla ging hinaus. Sachte klinkte sie die Tuere zum Sterbegemach auf und trat ein. Durch die weit geoeffneten Fensterfluegel stroemte ihr die kalte Luft erfrischend entgegen, und sie atmete tief auf, denn die dumpfe Luft in Floras Zimmer war beaengstigend gewesen und hatte sie beklommen gemacht. Noch erinnerte in dem Raum nichts daran, dass hier ein Toter lag, noch hatte keine ordnende Hand den Eindruck des Krankenzimmers verwischt. Auf dem Tischchen vor dem Bett stand noch das halbgeleerte Glas, aus welchem er zuletzt getrunken, daneben lag das Thermometer, das mit grausamer Genauigkeit die hohe Temperatur des Kranken gezeigt hatte. Alles war noch unberuehrt geblieben, und man konnte glauben, dass der stille Mann dort im Bett ein Schlafender waere. Orla war naeher getreten und sah mit wehmuetigen Blicken auf ihn nieder. Ruhig und friedlich war der Ausdruck seines Gesichtes, das wachsbleiche Profil hob sich scharf von dem dunklen Grund der Wand ab, die Haende lagen ueber der Brust zusammengefaltet. Sie liess sich auf einem Stuhle nieder, der dicht am Bett stand, und betrachtete lange das Antlitz des Verblichenen. So im besten Mannesalter zu sterben, das musste schrecklich sein, - und doch, konnte man ihn beklagen, der das Leben verliess, dem Unglueck und Leid nun nichts mehr anzuhaben vermochten? Nein, zu beklagen waren die, die ihn beweinten, die trauernde Witwe, das verwaiste Kind. Ihnen hatte der erbarmungslose Tod den Gatten, den Vater geraubt. [Illustration] Ein leiser Schritt hinter Orla liess sie aufblicken; es war Andres, der ihr ernst die Hand entgegenstreckte und dessen Blaesse verriet, dass er am Totenbette seines Freundes und Vorgesetzten viel gelitten hatte. Schweigend sah er auf den Toten, indem er Orlas Hand in der seinen behielt. Dann wandte er sich ihr zu, und seine Augen versenkten sich in die ihrigen. "Ihr kuenftiger Beruf wird Sie an manches Totenbett fuehren und oft werden Sie bitter empfinden, wie schwach die Hilfe des Arztes ist, wenn er verzweifelt nach Mitteln sucht, und wie armselig ihm seine Wissenschaft vorkommt, wenn er in brechende Augen sieht, ohne Rettung bringen zu koennen. Werden Sie das ertragen, Orla, wird das nicht zu viel sein fuer ein zartes Weib?" Es war zum ersten Male, dass er sie beim Vornamen nannte. Fluesternd und schnell hatte er gesprochen und fast flehend hatte seine letzte Frage geklungen. Sie antwortete ihm nicht darauf, - hatte er nicht recht und war es nicht gewagt fuer ein Weib, von Natur die Schwaechere, von ihrem Koerper abhaengig, dass sie glaubte, sich an die Seite ernster Maenner zu stellen, wie sie ringen und kaempfen zu koennen, um der leidenden Menschheit zu helfen? Zum ersten Male am Bett dieses Toten war ihr der Gedanke gekommen, dass es schwer sein muesste und dass das Gemuet einer Frau sich wohl nie daran gewoehnen wuerde, dem unerbittlichen Tod so oft ins starre Antlitz zu blicken. Es waren also ihre eigenen Gedanken gewesen, welchen der junge Arzt Worte verliehen hatte. Wie deutlich verstand er in ihrer Seele zu lesen! Die Tuere wurde jetzt geraeuschlos geoeffnet, und ein Luftzug drang durch das Fenster, der die Gardinen bewegt, und das junge Paar streifte. Flora mit Ilse und Nellie traten ein, letztere im Hut und Mantel, da sie im Begriff war fortzugehen. Die junge Witwe schien um Jahre gealtert, ihre Augen waren tief eingesunken und ihr Gesicht aschgrau. Unheimlich starren Blickes sah sie auf ihren Mann, wie gebrochen sank sie auf dem Stuhl am Bette nieder und legte den Kopf auf ihre Arme, welche krampfhaft die Stuhllehne umklammerten. Ilse unterdrueckte mit Muehe ein lautes Schluchzen, sie hatte noch nie eine Leiche gesehen und musste ihre zitternde Gestalt fest auf Nellies Arm stuetzen, als sie nun aengstlich in das regungslose Antlitz schaute, das vor ihr in den weissen Kissen lag. In heiliger Scheu und Andacht umstanden sie alle das Lager des Geschiedenen, nichts unterbrach die feierliche Stille des Sterbezimmers. Ploetzlich ertoente draussen eine weinende Kinderstimme, man hoerte trippelnde Fuesschen ueber den Vorplatz eilen; im naechsten Moment schnellte die Tuerklinke auf, und die kleine Kaethe kam ins Zimmer gelaufen. Einen Augenblick staunte sie die tiefernsten Gesichter an und sah verwundert von einem zum andern, dann erblickte sie ihren Papa in seinem Bett, und durch die hellen Traenen schimmerte in ihren Augen ein glueckseliges Laecheln. "Lieber, lieber Papa, nun bin ich wieder bei dir und gehe nicht mehr fort," sagte sie zaertlich. Orla trat zu der Kleinen und wollte sie fortfuehren, sie klammerte sich aber an das Bett und fing jaemmerlich an zu weinen. "Nein, ich will hier bleiben," rief sie und fragte dann: "Schlaefst du denn noch, lieber Papa? Bitte, bitte, wache doch auf, ich will dir ja guten Morgen sagen. Aber Papa, so hoere mich doch!" draengte sie endlich ungeduldig, und als sie keine Antwort erhielt, stellte sie sich auf die Fussspitzen und sah ihm ins Gesicht. Und wieder rief sie ihn schmeichelnd, und ihre kleinen Finger strichen liebkosend ueber seine erstarrten Haende. Aber schaudernd fuhr sie zurueck, und wie eine unbewusste Ahnung ueberflog es ihre kindlichen Zuege. "Papa, Papa!" schrie sie laut, "warum bist du denn so kalt, lieber Papa, warum wachst du nicht auf?" Furchtsam wich sie von ihm zurueck, ihre grossen angstvollen Augen fortwaehrend auf das bleiche Antlitz gerichtet. Nun trat Andres zu dem Kind und wollte es fortbringen; in demselben Augenblick sah Flora wie aus einem Traum erwachend um sich, und als sie das kleine, hilflose Geschoepf jammernd und klagend am Bette seines Vaters erblickte, da sprang sie auf und fiel mit einem lauten Schrei vor ihm nieder, drueckte es heftig an sich, und ein heisser Traenenstrom erleichterte die Qualen ihres Herzens. Mit einem Male schien die Liebe fuer die kleine Waise in ihr erwacht zu sein und sie bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Kuessen. Aber fuer Kaethchen waren Zaertlichkeiten ihrer Mutter etwas ganz Fremdes und sie entwand sich deshalb schnell ihrer Umarmung. "Lass mich, ich will zu meinem Papa!" rief sie und blickte Flora feindselig an. "Ich mag dich nicht, ich habe nur meinen Papa lieb," setzte sie noch hinzu, ohne das geringste Mitleid fuer die schluchzende Gestalt, die auf dem Boden kniete und die Haende rang. Erbarmungslos sprach der Kindermund sein Urteil aus. Die traurige Szene erschuetterte alle aufs tiefste, und um derselben ein Ende zu machen, nahm Andres jetzt das Kind auf den Arm und trug es aus dem Zimmer. Vertrauensvoll umschlang Kaethchen seinen Hals und legte das Koepfchen an seine Schulter, denn diesen Onkel hatte sie gern, er gab ihr stets so freundlich die Hand, wenn er ihr auf der Strasse begegnete, und hatte ihr oft Spielsachen mitgebracht, wenn er zum Papa gekommen war. Nellie war zu Flora getreten, die laut weinte. "Komm, liebe Flora, wir wollen in das andre Zimmer gehen." Willenlos liess sie sich fortfuehren, Orla und Ilse, deren weiches Gemuet unter diesen Vorgaengen entsetzlich litt, folgten ihnen. Nellie hatte Hut und Mantel wieder abgelegt, trotz Orlas instaendiger Bitte, nach Hause zu gehen. Sie konnte sich nicht entschliessen, Flora in ihrem Schmerz zu verlassen, besonders da diese sie flehentlich bat, bei ihr zu bleiben. Mitleidsvoll umstanden die Freundinnen die Aermste, die sich nicht fassen konnte und verzweifelt schluchzte. Sie haetten ihr so gern ein Wort des Trostes gesagt, aber keine vermochte es ueber die Lippen zu bringen. Gab es denn auch Trost fuer sie? "Liebe Flora, du darfst dir nicht aufregen," brachte Nellie endlich hervor, "denke an deine suesse Baby, das nur dich noch hat auf die grosse Welt." "Nellie," schrie die Unglueckliche auf, "ach es ist nicht zum ertragen! Das Kind wendet sich jaeh von mir, und hat es nicht recht? Bin ich ihm eine treue Mutter gewesen, dem Vater eine pflichttreue Frau? Jetzt erst fuehle ich, dass ich ihn geliebt habe, dass ich mich nur im Trotz von ihm wandte, weil ich glaubte, er wolle mich nicht verstehen. Ich bin schuld an seinem Tode, haette ich ihn nie zu dieser unglueckseligen Schlittenpartie gezwungen! Dort, dort hat er sich den Tod geholt. Liebe, einzige Nellie, nie kann ich wieder froh werden, mit dieser Qual, dieser Reue im Herzen, immer sehe ich sein brechendes Auge vorwurfsvoll auf mich gerichtet! Wenn er noch lebte, wollte ich anders werden, aber nun ist alles vorbei, er ist von mir gegangen, ohne mir verziehen zu haben!" "O nein, so darfst du nicht sprechen, so nicht," sagte Nellie mit traenenerstickter Stimme und versuchte die Weinende mit liebevollem Worten zu beruhigen. Ilse hatte bei Floras Selbstanklage ihr Herz in haemmernden Schlaegen gefuehlt, ihr Inneres bebte bei jedem ihrer Worte. Wie furchtbar war es doch, wenn die Reue zu spaet kam und Tag und Nacht keine Ruhe liess! Musste es nicht zum Verzweifeln sein? Mit einem Schlage war Flora zum Bewusstsein gekommen, jetzt jammerte und klagte sie, da es nichts mehr half, da der Mund ihres Mannes fuer immer geschlossen war und ihr kein verzeihendes Wort mehr sagen konnte. Ein Angstgefuehl schnuerte Ilses Brust zusammen, dass ihr der Atem stockte. Dort in dem Zimmer, am Bette des Toten war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, mit einem Male konnte sie klar sehen, und nun kam sie sich erbaermlich und klein vor und zitterte bei dem Gedanken, dass das Schicksal auch sie mit unbarmherziger Hand beruehren koennte, wie es hier getan. War es denn so schwer, vergab sie sich etwas, wenn sie dem Manne, den sie liebte, den sie durch ihren Widerstand doch erst zum Aeussersten gebracht hatte, zuerst die Hand zur Versoehnung reichte? Ja, war es nicht ihre Pflicht und Schuldigkeit, ihn um Verzeihung zu bitten, nach dem, was geschehen war? Musste er nicht an ihrer Liebe zweifeln, als sie ihm durch ihre Flucht solche Kraenkung zufuegte? Orla hatte recht, sie war mit Blindheit geschlagen gewesen, von der sie nun endlich sich befreit fuehlte. Die Erfahrungen, welche sie durch den Einblick in das eheliche Leben ihrer Freundinnen gesammelt, hatte sie aufgeklaert, sie war eine andre geworden. Erschien ihr nicht Nellie als das Muster einer Gattin, war sie etwa widerspenstig, quaelte sie ihren Mann mit kleinlichen Launen? Nein, sie war fuegsam und nachgiebig. Gerade diese Eigenschaften waren es aber, die ihr den Reiz der echten Weiblichkeit verliehen. Wie erschien ihr dagegen das Benehmen Rosis? Stiess nicht ihre Herrschsucht auf das unangenehmste ab? Sah Rosi denn nicht ein, dass sie ihren Gatten in den Augen andrer laecherlich machte, wenn sie den ihr gegenueber viel zu gutmuetigen Mann dazu zwang, sich ihrem Willen zu fuegen? Ilse verabscheute solches Wesen bei einer Frau, aber - so musste sie sich eingestehen - war sie nicht auf dem besten Wege gewesen, wie jene zu werden? Und wie unwuerdig erst war ihr Floras Ehe vorgekommen! Sie hatte stets Mitleid fuer den armen Mann und das kleine Maedchen empfunden und war ueber Flora empoert gewesen, die ueber ihre verschrobenen Ideen das Wichtigste vergass. Ja, Ilse vermochte gut zu unterscheiden, ob eine Frau ihren Mann gluecklich machte, sie haette auch Rosi und Flora sagen koennen: so und so duerft ihr nicht handeln, wenn ihr eure Maenner zufrieden sehen wollt. Warum gab sie diese guten Lehren nicht sich selbst, warum hatte sie sich nicht laengst eingestanden, dass auch sie ihren Braeutigam durch ihren Eigensinn und Trotz betrueben musste? Und verdiente er nicht volles ungestoertes Glueck, da er ihr doch die beste, reinste Liebe gab? Und musste er nicht in ihrer Achtung dadurch steigen, dass er sich einer kindlichen Laune von ihr nicht beugen wollte? Diese Gedanken, welche auf Ilse nach dem traurigen Ereignis einstuermten, verfolgten sie wie boese Geister mit den bittersten Vorwuerfen, den selbstquaelerischsten Anklagen, sie fand keine Ruhe mehr und ging wie im Traume umher. * * * Doktor Gerber war in die Erde gesenkt worden, und der jungen Witwe wurde die lebhafteste Teilnahme entgegengebracht. Der Tod des allgemein geachteten und beliebten Mannes hatte ueberall grossen Anteil erweckt, man beklagte Flora, bedauerte das vaterlose Kind. So jung und schon Witwe, das war ein harter Schlag fuer die arme Frau! Flora machte auch in den schwarzen Trauerkleidern, die das farblose Gesicht noch blasser erscheinen liessen, einen bedauernswerten Eindruck; muede und matt war ihre Haltung, die umraenderten Augen blickten truebe und glanzlos. Sofort nach Empfang der Ungluecksbotschaft waren ihre Eltern eingetroffen, und nun sollte sie mit dem Kinde wieder ins Elternhaus zurueckkehren. Sie liess alles ueber sich ergehen, fuegte sich allem, was bestimmt wurde, und war vollstaendig haltlos geworden. Kaethchen verlangte immer noch weinend nach ihrem Papa und fragte, ob er nicht bald wiederkaeme, ob sie nicht zu ihm duerfe. Als man ihr sagte, dass der Papa im Himmel bei den lieben Engeln sei und sie ihn nicht sehen koenne, beruhigte sich das glaeubige Kindergemuet dabei. Aber die traurigen Gesichter um sie her machten sie niedergeschlagen, ihre grossen Augen blickten sehnsuechtig und truebe, und um den kleinen Mund lagerte ein fast strenger Ernst. Flora wich sie noch immer aengstlich aus, nur der Grossmutter war es gelungen, sie zutraulicher zu machen. Unter heissen Traenen hatte die junge Frau von den Freundinnen Abschied genommen, ihr Schmerz brach dabei in seiner ganzen Heftigkeit wieder hervor. Die Unglueckliche war nicht wiederzuerkennen; es schien, als haette sie der furchtbare Schlag ganz umgewandelt. Ilse konnte das schmerzvolle Antlitz der Freundin nicht aus ihrem Gedaechtnis verscheuchen, es stand ihr wie eine drohende Mahnung vor Augen und schien ihr zuzurufen: "Kehre um, ehe es zu spaet ist!" Den Freunden fiel ihr seltsam nachdenkliches Wesen wohl auf, und Nellie erriet, was in ihr vorging, aber sie fragte nicht, sie wollte, dass Ilse von selbst sagen sollte, was ihr Herz bewegte. - Es war nur noch kurze Zeit bis zum Weihnachtsfest, als Ilse eines Abends in ihrem Stuebchen sass und in ihrer Schreibmappe blaetterte. Sie suchte den Brief, den sie in jener Nacht nach der Schlittenpartie an Leo geschrieben hatte. Er war nicht abgeschickt worden. Sie hatte ihn oft in den Haenden gehabt und ihn immer wieder beiseite gelegt, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Heute las sie ihn nochmals durch und zerriss ihn dann in kleine Stueckchen, die sie im Ofen verbrannte. Nein, was sie dem Geliebten sagen wollte, sagen musste, das konnte sie dem Papier nicht anvertrauen. Steif und gezwungen kamen ihr die Worte vor, die sie damals geschrieben hatte, ganz anders standen sie heute in ihrem Herzen geschrieben, das ihr Tag und Nacht keine Ruhe liess vor heisser Sehnsucht nach Leo. Er hatte sich - das wusste sie - bis Weihnachten Urlaub genommen, und Nellie erwaehnte heute wie zufaellig, dass er bereits zurueckgekehrt sei. Da hatten ihre Augen aufgeleuchtet, und sie hatte geheimnisvoll gelaechelt, als wuerde sie von etwas Freudigem bewegt. Und so war es auch! Als sie hoerte, er sei wieder daheim, stand es in ihr fest, dass sie Weihnachten nicht ohne ihn verleben wollte. Sie konnte es kaum erwarten, bis sie sich zurueckziehen durfte, denn heute abend wollte sie ihren Entschluss den Eltern mitteilen. Ein frohes Laecheln ueberflog ihre Zuege bei dem Gedanken, dass sie die Lieben nun bald wiedersehen sollte, und sie schrieb einen langen, ausfuehrlichen Brief an die Eltern. "In wenigen Tagen bin ich wieder bei euch," hiess es zum Schluss, "aber verratet niemand meine Rueckkehr, am wenigsten Leo." Die letzten Worte unterstrich sie zweimal. Am andern Morgen teilte sie Nellie mit, dass sie den Eltern geschrieben und ihre Heimkunft zum Weihnachtsfest angemeldet habe. Es kam zoegernd und zaghaft heraus, denn sie konnte ihre grosse Verlegenheit nicht bemeistern. Aber Nellies Gesicht strahlte foermlich bei dieser Botschaft und innig schloss sie die Freundin in ihre Arme. "O _darling_," sagte sie geruehrt, "ich wusste es ja, du wuerdest wieder zu dich kommen; o, nun ist alles wieder gut!" "Nellie," fragte Ilse darauf leise, indem sie das ergluehende Antlitz an der Freundin Schulter barg, "glaubst du dass er mir verzeihen wird?" "O wie kannst du nur fragen? Er hat sein kleines Braut so lieb, wie gluecklich wird er sein, wenn er dich wieder hat!" Die beiden Freundinnen sassen noch lange Hand in Hand beisammen. Ilse hatte so viele Fragen auf dem Herzen, und die junge Frau musste noch manchen Zweifel verscheuchen, noch manchen innern Streit schlichten, bis ihr schliesslich helles, ungetruebtes Glueck aus Ilses Augen entgegenlachte und diese ihre Freude auf das Wiedersehen mit Leo ganz unverhohlen zeigte. Die Eltern schrieben umgehend wieder, und Ilse standen die hellen Traenen in den Augen, als sie las, wie gross die Freude zu Hause ueber ihre baldige Heimkehr war. Es erfasste sie nun eine Unruhe, eine Ungeduld, dass sie, so schwer ihr auch der Abschied von den Freunden wurde, doch kaum den Tag ihrer Abreise erwarten konnte. So war der letzte Nachmittag, den sie bei den Freunden verbrachte, herangekommen. Sie war mit Nellie und Orla in die Stadt gegangen, um noch einige Einkaeufe zu besorgen und Abschiedsbesuche zu machen. Als die ersteren erledigt waren, trennte sich Orla von ihnen, da sie nach Hause gehen wollte, um fuer den folgenden Tag noch zu arbeiten. Sie waehlte aber diesmal nicht den Weg durch die Stadt, sondern zog es vor, ueber den alten Festungswall zurueckzukehren, der um diese Zeit meist menschenleer war. Die hohen, alten Linden, welche sich im Sommer zu einem gruenen, schattigen Dach woelbten, trugen jetzt schwere Schneemassen, und in ihren Wipfeln sassen Scharen von Kraehen. Durch den tiefen Schnee, der sich dicht an die maechtigen Staemme schmiegte, war nun ein schmaler Pfad gebahnt, auf dem Orla einherschritt. Links sah man in verschneite, zu Villen gehoerige Gaerten, rechts konnte das Auge weiter schweifen ueber die weissen Daecher der Stadt, ueber Felder und Wiesen bis zu den Umrissen einer fernen Huegelkette. Heute war nicht viel davon zu sehen, da die Ferne in einem grauen Nebel verschwand; auch das wirbelnde Schneegestoeber liess schwer etwas erkennen. Orla stand einen Augenblick still und sah in den lustigen Flockentanz vor ihren Augen. Sie bemerkte deshalb nicht, dass eine Gestalt ihr entgegenkam. Erst als diese neben ihr stehen blieb, erkannte sie Andres in derselben. "Das ist ein gluecklicher Zufall, dass ich Sie hier treffe," sagte er, indem er sie begruesste. "Eben war ich bei Althoffs, fand aber das Nest leer." "Ja," erwiderte Orla, "meine Freundinnen und ich gingen in die Stadt, und ich habe mich von ihnen getrennt, da sie vorhaben, Abschiedsbesuche zu machen, waehrend ich nach Hause gehen will, um noch zu arbeiten." "Darf ich sie begleiten?" fragte er, da sie langsam weiter ging. "Gerne, Herr Doktor," versetzte sie freundlich, und sie schritten auf dem engen Wege nebeneinander weiter. "Es tat mir leid," fing er wieder an, "dass ich gerade heute niemand bei Althoffs traf; ich wollte erzaehlen, welches Glueck mich betroffen hat." "So?" fragte sie und sah ihn neugierig dabei an, "bitte, erzaehlen Sie mir doch, was Ihnen so Schoenes begegnet ist?" "Denken Sie nur, mir ist heute die Stelle des verstorbenen Doktor Gerber angeboten worden. Was sagen Sie dazu, bin ich nicht ein Glueckspilz? Vom einfachen Assistenzarzt ruecke ich so schnell vor und bin nun, sozusagen, ein gemachter Mann." Die helle Freude ueber das frohe Ereignis lachte aus seinen Augen, die erwartungsvoll auf Orla ruhten. Sie reichte ihm aufrichtig die Hand. "Ich gratuliere Ihnen von Herzen, das ist wirklich eine gute Botschaft, die Sie uns bringen wollten, Herr Doktor." Er hatte ihre Hand festgehalten, die sie ihm jetzt entzog. "Wie werden sich Althoffs freuen," fuhr sie fort, "wenn ich ihnen die interessante Neuigkeit ueberbringe." "Sie sind die erste, welche sie erfahren hat, gnaediges Fraeulein; ich kann nicht beschreiben, wie froh ich darueber bin, wie dieses Glueck erst jetzt den rechten Wert fuer mich bekommt, da Sie es wissen und ich in Ihren Augen lese, dass Sie sich mit mir darueber freuen. Fraeulein Orla, soll ich Ihnen sagen, warum mich dieses Anerbieten jetzt noch viel mehr beglueckt, als es das zu andern Zeiten getan haette? Darf ich sprechen, wie mir um das Herz ist?" Er hatte eindringlich mit steigender Waerme geredet. Orla beschleunigte bei seinen Worten ihre Schritte, sie wagte nicht ihn anzublicken. Ihre angeborene Ruhe, ihre Sicherheit in allen Lebenslagen verliessen sie, und sie sann vergebens nach, welche Antwort sie ihm geben solle. Er hatte in einer andern Sprache zu ihr gesprochen, die sie noch nicht kannte, seine Stimme ging ihr in einer Weise zu Herzen, wie es ihr bis jetzt noch niemals vorgekommen war. Andres bemerkte ihre Erregung und drang nicht weiter in sie. Aber seine Augen blickten feurig und leidenschaftlich in ihr blasses Antlitz. Ihre feinen Nasenfluegel bebten, zwischen den kuehngeschwungenen, tiefschwarzen Augenbrauen lag eine Falte, und die schnellen Atemzuege verrieten ihre innere Unruhe. Schweigend gingen sie vorwaerts, in beiden wogten die Gedanken und keines vermochte zu sprechen. "Habe ich Sie beleidigt?" fragte er endlich, da Orla den Blick noch immer geradeaus richtete und ihm der Ausdruck ihrer Zuege jetzt fast streng erschien. "Nein, nein," gab sie schnell zur Antwort, "womit sollten Sie mich beleidigt haben? Ich war nur so schweigsam eben, - weil ich an etwas Wichtiges dachte -." Sie wollte eine Entschuldigung vorbringen, wurde aber bei dieser Ausrede verlegen und beendete den Satz deshalb nicht. "Wissen Sie schon," fuhr sie fort, indem sie schnell das Thema abbrach, "dass Ilse morgen abreist? Sie wollte erst naechste Woche fort, aber ihr Vater wuenscht dringend, dass sie jetzt kommt. Sie wird uns sehr fehlen." Er fuehlte sich von dieser Wendung des Gespraechs nicht angenehm beruehrt. Sie schien zu ahnen, was er ihr hatte sagen wollen, und suchte nun leicht darueber hinwegzugehen; begriff sie denn nicht, dass dies die schmerzlichsten Zweifel in ihm wachrufen musste? Und doch musste er sich wieder sagen, dass die Scheu vor seiner Frage echt maedchenhaft und nur zu begreiflich war, und dass sie vielleicht deshalb so handelte, um Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln. Er wusste ja genau, dass sie keine Kokette war, die nur mit ihm spielen wollte, und dass ihr auch in diesem Augenblick nichts ferner lag, als ihm die Aussprache dessen, was er ihr sagen wollte, zu erschweren. Scheinbar ruhig und unbefangen ging er auf ihr Gespraech ein. "Werden Sie denn Weihnachten zu Hause verleben?" fragte Orla wieder. "Ja, ich reise zu meiner Mutter und werde bei ihr die Ferien zubringen." "Wollen Sie die ganze Ferienzeit fort bleiben?" entgegnete sie wider Willen betroffen. "Die ganze Ferienzeit!" wiederholte er mit einem freudigen Aufblitzen in seinen Augen. "Wie schade," gestand sie offen, "dann sehe ich Sie also erst im neuen Jahre wieder. Das Fest wird gewiss fuer uns ein recht stilles sein, da Ilse fort ist und Sie auch fehlen. Ich werde die Ferienzeit benutzen, um fleissig mit Doktor Althoff zu arbeiten." Sie seufzte leise, wohl unbewusst. "Werden Sie zaghaft, wenn Sie an ihren kuenftigen Beruf denken, Fraeulein Orla?" "Nein," erwiderte sie rasch, "ich habe mir meinen Beruf ja selbst gewaehlt, wie koennte ich da zaghaft sein? Halten Sie mich fuer so wankelmuetig, Herr Doktor?" Er schuettelte den Kopf. "Nein, ich weiss, Sie sind anders wie die meisten ihres Geschlechts, und ich komme nur zu dieser Frage, weil Sie seufzten und ich annahm, dieser Seufzer gelte Ihrer Zukunft." "Ja, meiner Zukunft galt er allerdings, da haben Sie recht. Wenn ich auch nicht zittere und zage, so bin ich mir doch klar bewusst, dass ich keiner leichten Zeit entgegengehe. Was muss noch alles in meinen armen Kopf hinein! Und dann die Examina, - wenn ich daran denke, wird mir doch etwas baenglich zu Mute. Nicht wahr, die sind sehr schwer? Wenn meine Examinatoren nur nicht zu streng sind und etwas gnaedig mit mir verfahren." "Ich wuesste einen Ort," warf er fast schuechtern ein, "wo Sie ein leichtes Examen bestehen koennten. Ich kenne den einen Examinator, wie mich selbst, und weiss, dass er Ihnen keine Frage stellen wuerde, die Sie nicht beantworten koennten." "Wie heisst dieser Ort?" fragte sie ahnungslos und sah ihn voller Erwartung an. Das geheimnisvolle, schelmische Laecheln in seinem Gesicht, als er jetzt weiter sprach, ohne ihre Frage zu beantworten, bemerkte sie nicht. "Ja, ich weiss sogar, dass der bewusste Examinator, wenn Sie ihm seine erste - allerdings schwerwiegende - Frage richtig und zur vollsten Zufriedenheit beantwortet haben, ueberhaupt keine weiteren Fragen an Sie richten wird." Sie sah ihn mit ihren grossen Augen erstaunt an. "Sie sprechen in Raetseln, Herr Doktor, oder wollen Sie sich ueber mich lustig machen? Nicht wahr, Sie finden es so unerhoert, wenn eine Frau sich auf maennliches Gebiet wagt, dass Sie mich verhoehnen wollen? Aber warten Sie nur, wenn ich erst Doktorin bin, und Ihnen mein Diplom schicke, dann muessen Sie klein beigeben. Uebrigens - Ihre Zweifel sind ganz heilsam fuer mich, sie feuern mich an, Ihnen zu beweisen, dass auch das weibliche Geschlecht etwas zu leisten vermag." Sie hatte ohne die geringste Empfindlichkeit gesprochen, aber mit grossem Eifer, so dass ihre Wangen zart geroetet waren, und sie unbeschreiblich liebreizend in diesem Augenblick aussah. "Ich kann Ihnen auch behilflich sein, Doktorin zu werden," sagte er wieder mit derselben geheimnisvollen Miene, "oder vielmehr der Examinator, von welchem ich eben sprach, kann Sie zur Doktorin machen, wenn Sie nur wollen." Seine Stimme klang erregt, er atmete tief und schnell, und sein seltsames Wesen fiel Orla jetzt auf. Sie erwiderte nichts und hielt die Augen auf ihren kleinen Muff gesenkt, von welchem sie mechanisch die immer wiederkehrenden Schneeflocken fortstrich. "Orla," sagte er bittend, indem er stillstand und ihre Hand ergriff, "verstehen Sie mich nicht, oder wollen Sie mich nicht verstehen? Meine Worte sind ernst gemeint, ich scherze nicht. Der Examinator, von welchem wir sprachen, - darf ich es sein? Wollen Sie mir die einzige Frage beantworten? Nur mit einem kleinen Wort, das genuegen wuerde, mich zum gluecklichsten Menschen zu machen." Ihr Herz klopfte in raschen Schlaegen, und sie holte tief Atem. Aber sie konnte nicht sprechen, sie fuehlte wie seine Hand zitterte, wie qualvoll diese Ungewissheit fuer ihn sein musste, und doch vermochte sie es nicht, ihm eine Antwort zu geben. "Orla!" Er beugte sich ganz nahe zu ihr hin, und sagte in zaertlichem Ton: "Wollen Sie meine Doktorin werden?" Jetzt blickte sie zu ihm auf, und in ihren Augen las er ein stummes Ja. Im ueberschwaenglichen Gluecksgefuehl umfasste er ihre schlanke Gestalt und drueckte einen Kuss auf ihre Lippen. "Geliebte," fluesterte er innig, "bist du ebenso gluecklich wie ich? Sage es mir." "Ich kann nicht gluecklicher sein," gab sie leise zur Antwort, und ihr schoenes Antlitz strahlte in braeutlicher Seligkeit. Er hatte ihren Arm in den seinigen gelegt und hielt ihre Hand fest umschlossen. So gingen sie weiter auf dem schmalen Wege zwischen den beiden Schneewaenden. Wer koennte die ersten Stunden beschreiben, die auf das beseligende Gestaendnis der Liebe folgen? die scheue Zurueckhaltung der Braut schildern, die noch so schuechterne Leidenschaft des Braeutigams, die ernsten und doch so heiteren Gedanken, welche die Brust der Gluecklichen wie Fruehlingswehen durchziehen und sie still und schweigsam machen? Ein inniger Haendedruck, ein Blick in die geliebten Augen, sie sind beredter als tausend Worte. - Und so schritt auch unser Paar in stummer Glueckseligkeit dahin. Ueber ihnen heulte der Wind in den Baeumen, die alten ehrwuerdigen Wipfel mussten es sich gefallen lassen, dass er mit ihnen sein Spiel trieb, laut aechzend beugten sie sich seiner Macht und schuettelten unwillig den Schnee von ihren Haeuptern, den beiden gerade ins Gesicht. Aber sie achteten der winterlichen Schauer nicht, in ihren Herzen war es licht und sonnig, und das Blut wallte ungestuem durch die Adern, so dass Orla oft tief aufatmen musste und schliesslich ihr Jaeckchen oeffnete, weil es so erdrueckend heiss waere, wie sie sagte. - Die Dunkelheit war hereingebrochen, als sie in die erleuchteten Strassen einbogen. Orla draengte es nach Hause zu kommen. Sie ging durch eine kleine Seitengasse, welche den Weg bedeutend abkuerzte. Andres haette gern noch den weitesten Umweg durch die Stadt gemacht, aber sie meinte, Nellie und Ilse, die gewiss laengst zu Hause waeren, wuerden sich sehr wundern, dass sie noch nicht daheim sei. Er brachte sie bis vor Althoffs Haus. An der Gartenpforte blieb Orla stehen und streckte ihm die Hand entgegen. "Soll ich nicht mit hinaufgehen?" fragte er erstaunt, "wollen wir den Freunden nicht unser Glueck mitteilen?" "Jetzt nicht, noch nicht, Liebster, ich muss erst mit mir allein sein, und mich zu fassen suchen. Morgen, dann wollen wir es den Freunden sagen." Wie ein Schatten flog es ueber seine Zuege. Er sollte sich jetzt von ihr trennen, sie heute nicht mehr wiedersehen? Wie konnte er bis morgen Ruhe finden, Ungeduld und Sehnsucht wuerden ihn verzehren. Das war zu viel verlangt! "Du bist grausam," sagte er leise. Sie laechelte und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ja, es kam ihr jetzt selbst grausam vor, dass sie sich bis morgen nicht wiedersehen sollten. "Willst du heute abend nach dem Essen kommen? Du findest uns dann alle zusammen, und wir ueberraschen die Freunde mit der Nachricht, dass wir Brautleute sind. Ist es dir recht so?" Statt jeder Antwort presste er seine Lippen auf ihre Hand und schlang seinen Arm um ihre Taille. Sie entwand sich ihm aber schnell. "Wenn man uns saehe," sagte sie und blickte sich aengstlich um. "Ich will lieber gehen. Leb wohl, auf Wiedersehen bis nachher, komm nicht zu spaet." Sie eilte ins Haus. Wie ein Traeumender stand er vor der beschneiten Pforte und blickte ihr noch nach, obwohl sie schon laengst verschwunden war. Endlich ging er fort, aber er schlug nicht den Weg nach seiner Wohnung ein. Er wuerde es jetzt nicht in den engen vier Waenden aushalten, eine innere Unruhe trieb ihn immer weiter. Das Stuermen und Wogen in seiner Brust befluegelte seine Schritte, so dass er die Strassen in Sturmeseile durchlief und die Leute ihn verwundert ansahen. Seine Bekannten, die ihm begegneten und die er zerstreut gruesste, blieben stehen und schauten kopfschuettelnd hinter ihm her. Orla war unbemerkt in ihr Zimmer gelangt. Sie konnte jetzt niemand sehen und sprechen, den Freundinnen haette ja ihre Erregung auffallen muessen, auch wollte sie erst allein die Ruhe zu gewinnen suchen, mit welcher sie dieselben jetzt noch taeuschen musste. Sie hatte Hut und Jacke abgelegt und wusch ihr heisses Gesicht mit frischem Wasser. Was die Freunde wohl sagten, ob sie geahnt hatten, dass es so kommen wuerde? Sie laechelte vor sich hin und malte sich im Geiste die Ueberraschung auf den verschiedenen Gesichtern aus. Erregt schritt sie auf und ab und oeffnete schliesslich das Fenster, weil ihr die Luft in dem kleinen Stuebchen schwuel und drueckend erschien. Vorwitzig kamen die Schneeflocken hereingeflogen, sie wirbelten ihr ins Antlitz und setzten sich in ihren dunklen Haaren fest. In Gedanken verloren blickte sie hinaus in das Gestoeber draussen. Sie kam sich so anders, so fremd vor; dieses heftig klopfende Herz war es das ihre, diese unbeschreiblich schoenen Empfindungen, welche es durchstroemten, - war das alles Wirklichkeit, was sie empfand und dachte, oder traeumte sie nur? Sie zuckte zusammen, als sich jetzt die Tuere oeffnete und Ilse hereintrat. "Herrgott, Orla, bei diesem Wetter am offenen Fenster?" rief sie erstaunt. "Es war hier so heiss, Kind," gab Orla ausweichend zur Antwort und schloss das Fenster. "Heiss?" wiederholte Ilse, "aber das Feuer im Ofen ist ja schon lange aus." Orla ueberhoerte diese Einrede. "Bist du schon mit Packen fertig?" fragte sie und zeigte auf die Koffer. "Also morgen willst du wirklich reisen? Du wolltest mich wohl zum Abendessen holen?" Ilse sah sie verwundert an. Warum fragte Orla so zerstreut und vermied so auffaellig sie anzusehen, waehrend sie sonst jedem, mit dem sie sprach, scharf in die Augen sah? "Wir dachten, du waerst schon lange zu Hause, Orla, da du gesagt hattest, du wollest arbeiten." "Ja, ja, das wollte ich auch, aber - es war so himmlisch draussen, und da bin ich auf eigene Faust noch etwas spazieren gegangen. Komm Kind." Sie ging zur Tuere und Ilse folgte ihr. "Himmlisch draussen!" wiederholte sie lachend. "Aber Orla, es ist ja ein schreckliches Wetter, der eisige Wind und dazu das Schneegestoeber, - hast du denn das nicht bemerkt?" "O ja," antwortete die Russin, "aber ich liebe das gerade und nenne solches Wetter schoen." Sie hatte jetzt ihre Fassung wieder gewonnen und konnte mit unbefangenem Gesicht bei dem jungen Ehepaar eintreten. Bei Tische sprach sie lebhaft und viel; sie war lange nicht so redselig gewesen wie heute, und ihre Augen leuchteten in einem wunderbaren Glanze. Ilse sass ihr gegenueber und betrachtete sie mit heimlicher Bewunderung; sie glaubte, die Freundin nie so schoen gesehen zu haben. Die leicht geroeteten Wangen standen ihr zum Entzuecken. Sie erzaehlte lebendig und spannend von ihrer Heimat und wusste dadurch die Gedanken von der bevorstehenden Trennung, welche namentlich Nellie und Ilse naheging, abzulenken. Dann und wann flogen ihre Blicke verstohlen nach der Uhr, und so oft jemand ins Zimmer hereinkam, wandte sie schnell den Kopf nach der Tuere. Als Nellie erwaehnte, dass Andres waehrend ihrer Abwesenheit dagewesen sei, laechelte sie geheimnisvoll, so dass Ilse sie fragte, was denn ihre Heiterkeit erregt habe. Nach dem Abendessen begab sich die kleine Gesellschaft wie gewoehnlich in Nellies gemuetliches Zimmer, wo es heute besonders behaglich aussah. Ein helles Feuer knisterte in dem kaminartigen Ofen, und die Lampe mit dem Schirm von rosa Seide beleuchtete alles mit einem magischen Schimmer. Ein zarter Maiblumenduft, den die junge Frau besonders liebte, durchwehte den traulichen Raum. Orla stand am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Jetzt konnte er jeden Augenblick kommen, denn es war die Zeit, welche sie verabredet hatten. Sie spaehte die Strasse entlang, das Gestoeber hatte aufgehoert, blendend weiss leuchtete ihr aus der Dunkelheit der Schnee entgegen. Mit fieberhafter Ungeduld sehnte sie den Augenblick herbei, der ihr den Geliebten bringen sollte, und es duenkte ihr eine Ewigkeit, die er sie warten liess. Endlich sah sie eine hohe Gestalt aus der Dunkelheit auftauchen, die es sehr eilig zu haben schien, denn mit grossen Schritten naeherte sie sich dem Hause. Das war er! Die Gartenpforte klirrte, gleich darauf fiel die Haustuere ins Schloss und nun wurde kraeftig an der Klingel gezogen. Das Maedchen kam herein und meldete Doktor Andres, der ihr auch gleich auf dem Fusse folgte. Orla beugte sich tief ueber die Maiblumen im Fenster, um ihr Antlitz zu verbergen. "Sie strahlen ja foermlich, Doktor, was ist denn mit Ihnen geschehen, haben sie etwa das grosse Los gewonnen?" rief ihm Althoff scherzend entgegen. "Ja," gab er lachend zur Antwort, und dabei ueberflog es seine Zuege wie ein verklaerender Schimmer. Er schritt auf Orla zu und legte ihre kleine kalte Hand in die seinige. So trat er mit ihr zu den andern in den Lichtkreis der Lampe, deren Schein ihr jetzt bleiches Gesicht rosig ueberhauchte. "Ja," wiederholte er noch einmal, und seine Stimme zitterte leise. "Sie haben recht, Herr Doktor, ich habe das grosse Los gewonnen, - hier, hier ist meine Braut." Stuermisch zog er Orla an seine Brust. Die Freunde hatten einen Augenblick wie sprachlos gestanden, dann aber brach ein wahrer Jubel los. Die junge Braut wurde von Nellie und Ilse mit Fragen ueberschuettet, waehrend sich die beiden Maenner herzlich die Haende schuettelten. Orla laechelte selig, und in ihren Augen schimmerte es feucht. Dies versetzte die weichherzige Nellie in eine solche Ruehrung, dass ihr nun auch die Traenen ueber die Wangen rollten und sie Orla in langer Umarmung festhielt. Ilse, welche ihr unter vielen zaertlichen Kuessen die innigsten Wuensche zugefluestert hatte, bemerkte kaum die Traenen in den Augen der beiden festumschlungenen Freundinnen, als auch sie sich der Ruehrung nicht erwehren konnte und ihren Zaehren freien Lauf liess. Jetzt wurde es aber den beiden Maennern zu viel. "Das ist mir eine schoene Geschichte," rief Althoff, "da weint ihr alle drei statt zu jauchzen und froehlich zu sein! Lieber Freund," wandte er sich zu Andres, "an Ihrer Stelle liesse ich es mir nicht gefallen, dass eine solche Freudenbotschaft mit Traenen begossen wird. Lasst uns dieselbe mit etwas andrem begiessen, und auf das Wohl des jungen Paares anstossen. Halt! Ich habe eine Idee! Nellie, Weib, wo sind die Weinkellerschluessel? Daran werden Sie sich auch noch gewoehnen muessen, lieber Doktor, dass die Frauen alles unter Verschluss halten, sogar den Weinkellerschluessel, am sichersten aber den - Hausschluessel!" Dabei warf er einen neckisch herausfordernden Seitenblick auf seine Frau. "O du verleumderisches Mann," rief diese und nahm den Schluessel aus einem zierlichen Koerbchen. Er hob ihr Kinn in die Hoehe und sah ihr in die Augen. "Bist du mir boese, Schatz?" fragte er zaertlich. "Natuerlich, du schreckliches Mann," antwortete sie und gab ihm scherzend einen Schlag. "Au," rief er, "so wird man nun von seiner eigenen Frau behandelt! Erst sagt sie 'schreckliches Mann' und dann haut sie einen sogar. Doktor, heiraten Sie lieber nicht, ich rate es Ihnen!" Er lachte mit dem ganzen Gesicht in ausgelassener Laune, denn es machte ihm grossen Spass, seine Frau zu necken. Mit geheimnisvoller Miene verschwand er jetzt mit Nellie. Ilse folgte ihnen, weil sie sich hoechst ueberfluessig bei dem Brautpaar fuehlte. Im Esszimmer hoerte man bald darauf ein geschaeftiges Hinundherlaufen. Tueren klappten, Glaeser klangen, dazwischen toente froehliches Lachen und Sprechen. Nach einer Weile wurden die Fluegeltueren geoeffnet und das Brautpaar feierlich hereingefuehrt. Trotz der Kuerze der Zeit hatten es die Freunde verstanden, alles festlich herzurichten. Die grosse bronzene Haengelampe strahlte in hellem Glanze. In den Wandleuchtern brannten Kerzen, deren Licht sich in den Glaesern und Kruegen spiegelte, die ringsherum auf dem Wandgesims aufgestellt waren. Ueber den einladend besetzten Tisch war eine altdeutsche Spruchdecke gebreitet, und in der Mitte hatte Nellie ihre Blumen und Blattpflanzen malerisch aufgebaut. Daneben standen alte Meissner Schalen, mit Kuchen und Fruechten gefuellt, waehrend aus einem Champagner-Kuehler einige Silberhaelse hervorschauten. In dem Spitzglas, das auf Orlas Platze stand, duftete ihr ein Straeusschen aus Myrten und Maiblumen entgegen. Die sinnige Nellie hatte es aus den Blueten gebunden, in deren Anblick Orla sich so eifrig versenkt hatte, als Andres eintrat. "Nellie, Ilse, Herr Doktor, wie kann ich euch danken fuer soviel Liebe und Freundschaft!" rief Orla bewegt und auch Andres war voller Dankbarkeit fuer diese Ueberraschung. In heiterster Stimmung nahm die kleine Gesellschaft Platz. Helle Freude glaenzte auf allen Gesichtern. Die Champagnerpfropfen knallten, und als die Glaeser gefuellt waren, ergriff Doktor Althoff das seinige und liess mit herzlichen Worten das neuverlobte Paar leben. Unter Scherzen, Lachen und Necken flogen die Stunden dahin. Nur eine stimmte nicht aus vollem Herzen mit in den Jubel der uebrigen ein, das war unsre Ilse. Dem gluecklichen verlobten Paare gegenueber kam sie sich wie eine verlassene Braut vor. Eine unerklaerliche Bangigkeit rief immer neue Zweifel bei ihr hervor und machte sie beklommen. Fortwaehrend beaengstigten sie quaelende Fragen. Liebte er sie noch? Wuerde er ihr verzeihen? Ihr bangte vor den kommenden Tagen. O, koennte sie doch die Zeit verwischen, die ihm und ihr so viel Truebsal bereitet hatte, den Misston fortzaubern, der die Eintracht ihrer Seelen stoerte. Ja, was half nun alle Reue? Die verflossenen Wochen und Monate kamen nicht wieder, sie waren ihnen beiden fuer immer verloren. Um wieviel frohe, glueckliche Stunden hatte sie sich betrogen! - Spaet in der Nacht erst trennte man sich. Die Lichter erloschen, und die junge Braut, mit den verwelkten Maiblumen an der Brust, ging mit Ilse in das gemeinsame Schlafzimmer. Sie nahm die kleinen Gloeckchen, die traurig die Koepfe haengen liessen, und legte sie zwischen die Blaetter eines Buches. "Zur Erinnerung an diesen Tag," sagte sie zu Ilse, welche auf ihrem Koffer sass und der Freundin mit schwermuetigen Augen zusah. "Wie ich dich beneide, Orla," sagte sie leise, "du wirst deinem Rudolf niemals Gram bereiten, du wirst ihn gluecklich machen, denn du bist keine kleinliche Natur, wie ich es bin." "Aber Kind, was faellt dir ein, wie kannst du so mutlos sprechen? Du bist ein kleiner Tollkopf, dessen Trotz in der Pension gebaendigt wurde und nun durch die zu grosse Nachgiebigkeit deiner Eltern, deines Verlobten wieder zum Vorschein kam. Aber jetzt wirst du, wie ich bestimmt glaube, fuer immer geheilt sein. Nur nicht zaghaft, Ilse! Ich kann mir gar nicht denken, dass es so schwer faellt, dem liebsten Menschen auf der Welt ein gutes Wort zu geben, wenn man ihn gekraenkt hat." "Wirklich, Orla?" fragte Ilse, der eine solche Ansicht aus diesem Munde massgebend war, "wuerdest du deinen Braeutigam in einem aehnlichen Fall um Verzeihung bitten koennen? Und das wuerde dir nicht schwer werden?" "Gewiss nicht," antwortete die Freundin, "fuer den Mann, den ich liebe, wuerde ich alles tun." Ilse schwieg. Sie hatte geglaubt, die stolze Orla koennte sich nie soweit demuetigen. Aber nun diese erklaerte, dass sie ohne Scheu ihren Braeutigam um Verzeihung bitten wuerde, wenn sie ihn gekraenkt haette, schien es ihr, als ob sie durch dieses Gestaendnis von ihrem Stolz nichts einbuesste und deshalb noch lange keine unterwuerfige Natur zeigte. Orla war herangetreten und legte die Hand auf Ilses lockiges Haar. "Geh nur zu ihm, Kind, du vergibst dir dadurch nichts, sondern machst nur die Fehler wieder gut, zu denen dich dein leidenschaftlicher Sinn hingerissen hat." "Glaubst du das wirklich, Orla? Ach, ich kann dir nicht sagen, wie ich den Tag herbeisehne, der uns unser Glueck zurueckgibt. Ich war toericht, ich weiss es, ich habe unrecht gehandelt und bereue -" "Halt," unterbrach sie Orla, "ich darf deine Beichte nicht anhoeren, nur deinem Leo darfst und musst du dies alles sagen. - Aber nun wollen wir schlafen, sonst sind wir morgen frueh nicht zur rechten Zeit wach, und du versaeumst den Zug." "Orla, ich habe noch eine Bitte an dich." "Nun?" "Erzaehle deinem Braeutigam, was zwischen Leo und mir vorgefallen ist. Ich habe mich ihm gegenueber einmal recht kindisch benommen und ihm keine Aufklaerung gegeben. Ich wollte es immer tun und konnte mich doch nicht entschliessen, die Sache nochmals zu beruehren. Jetzt aber, da du mit ihm verlobt bist und er mir dadurch viel naeher gerueckt ist, soll er alles wissen." Orla drohte lachend mit dem Finger. "Das sind ja nette Geschichten, die ich da zu hoeren bekomme. Ihr beide habt Geheimnisse miteinander, da bin ich doch begierig, das naehere zu erfahren. Doch nun ernstlich, gute Nacht, ich bin so muede, dass mir die Augen zufallen." Ilse merkte wohl, dass Orla nur Muedigkeit vorschuetzte, um nicht mehr sprechen zu muessen, sondern ungestoert traeumen und denken zu koennen. Schweigend begaben sie sich zur Ruhe und lagen mit geschlossenen Augen da, aber noch lange wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Beide kaempften mit dem stuermisch bewegten Herzen. Orlas Seele erbebte noch von dem Nachhall des seligen Gluecks, das ihr der heutige Tag gebracht hatte, und Ilse liess die Sehnsucht nach dem Geliebten spaet erst Ruhe finden. Der daemmerige Wintermorgen war schon laengst angebrochen, als ein kraeftiges Klopfen an der Tuere die beiden Schlaeferinnen aus ihren Traeumen erweckte. Die Fraeulein muessten schnell aufstehen, rief das Maedchen, denn es sei schon sehr spaet. - Und nun war der Augenblick des Abschiednehmens gekommen, zur Abfahrt bereit stand Ilse auf dem Bahnhof. Die Freunde hatten sie natuerlich begleitet. Waehrend Althoff das Billet besorgte, schritt das Brautpaar selig plaudernd auf dem Perron hin und her. Ilse und Nellie aber standen Hand in Hand zusammen. Die Trennung wurde beiden sehr schwer, das sah man an ihren verweinten Augen; auf Ilses Wangen perlten noch immer die Traenen in hellen Tropfen. "Ach, Nellie, waere doch erst alles wieder gut, ich kann dir nicht beschreiben, wie es mir ums Herz ist." "O, du musst nicht so baenglich sein, liebe Ilse, du hast so gute Eltern, eine so liebe Schatz, sie werden dich mit geoeffneten Armen aufnehmen. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, du musst nur standhaft sein, willst du mir das versprechen?" Ilse nickte, aber ihre dunklen Kinderaugen hatten noch einen sorgenvollen Blick, und der tiefe Seufzer, der sich ihrer Brust entrang, bewies, dass die troestenden Worte der Freundin sie nicht vollstaendig zu beruhigen vermochten. Andres und Orla traten jetzt heran, und Ilse verbarg ihr Gesicht in den duftenden Blumen, welche ihr die Freunde zum Abschied geschenkt hatten, damit Orlas forschende Augen nicht entdecken sollten, dass sie abermals von Zweifeln gequaelt wurde, - vor ihr wollte sie sich stark zeigen. Jetzt kam auch Nellies Mann mit Fahrkarte und Gepaeckschein, und nach wenigen Minuten brauste der Schnellzug herein, der Ilse in die Heimat entfuehren sollte. Noch ein letztes Mal hielten sie Nellies Arme innig umschlossen, unter Schluchzen dankte Ilse der treuen Freundin fuer alle Liebe und Freundschaft, die sie ihr erwiesen hatte. Dann kuesste sie Orla und verabschiedete sich von den Herren. Nun stand sie am offenen Coupefenster, und langsam setzte sich der Zug in Bewegung. "Gruesse mich deine lieben Eltern recht schoen und das suesse Baby!" rief Nellie. "Und schreibe bald," mahnte Orla. "O ja, _darling_, du musst uns dein glueckliches Ankunft sofort auf eine Postkarte mitteilen, vergiss nicht." "Nein, nein, ich schreibe euch sofort," beteuerte Ilse. Bis zum Ende des Perrons hatten die Freunde den Zug begleitet, dann blieben sie stehen und sahen der scheidenden Ilse gruessend und winkend nach, bis der letzte Zipfel von ihrem Schleier verschwunden war. Auch sie schloss das Fenster erst, als nichts mehr von den Zurueckbleibenden zu erblicken war. Dann nahm sie ihren Platz ein und schaute wehmuetig durch die Scheiben. [Illustration] Bald war auch das letzte Haus der kleinen Stadt, die ihr waehrend ihres Aufenthaltes lieb und vertraut geworden war, ihren Blicken entschwunden. Ueber weite, oede Schneeflaechen schweifte ihr Auge, dann bemerkte sie eine Gruppe von kahlen Baeumen, auf denen sich Scharen von Kraehen niedergelassen hatten, die bei dem Geraeusch des herannahenden Zuges mit lautem Gekreisch von den duerren Zweigen aufflatterten und davonflogen. Ilse lehnte sich zurueck und schloss in Gedanken verloren die Augen. Als sie die Heimat verliess, war es Herbst gewesen, welke Blaetter wirbelten durch die Luft, Sturm und Regen waren ihre Reisebegleiter. So stuermisch wie draussen sah es damals in ihrer Seele aus, leidenschaftliche Gefuehle wogten in ihrer Brust, und ihre Gedanken wirbelten gleichfalls durcheinander, wie die duerren Blaetter. Heute begriff sie nicht und konnte nicht fassen, wie sie zu der abenteuerlichen Reise gekommen war. Sie verwuenschte ihr unbaendiges Wesen, das ihr schon so viele Stunden getruebt, so manchen heissen Kampf gekostet. Hatte sie denn nicht alle Ursache, froh und zufrieden zu sein, war sie nicht ein verzogenes Kind des Gluecks, vor tausenden bevorzugt? War man nicht immer bemueht, sie zu erfreuen, und wie hatte sie bisher alle diese Liebe vergolten? Um viele Erfahrungen reicher und durch Pruefungen gereifter, kehrte sie jetzt heim. Das Leben hatte ihr in buntem Wechsel gezeigt, dass Freud und Leid dicht zusammen wohnen, und dass der ein Tor ist, der die schoenen Stunden, welche es bietet, nicht dankbar geniesst, sondern in kindischem Uebermut zerstoert. Vernuenftig und fuegsam war sie wohl in der Pension geworden, aber auf wie lange? Durch die stete Nachgiebigkeit ihres Vaters und die blinde Liebe Leos war ihr alter Trotz bald wieder hervorgebrochen. Aber jetzt kehrte sie fuer immer geheilt zurueck, hatte sie doch das bestimmte Gefuehl, dass sie nicht wieder in ihren alten Fehler zurueckfallen wuerde. Orlas strahlendes Gesicht tauchte in diesem Augenblick vor ihr auf, und sie beneidete die Freundin fast um ihr Glueck, welches sie sich gewiss nie durch kleinliche Zweifel trueben wuerde. Der Mann, dem Orla ihr Herz geschenkt hatte, durfte sicher sein, dass sie ihm kein unverdientes Leid zufuegen werde. Aber konnte sie denn nicht dem guten Beispiel Orlas folgen und ebenso werden, wie diese? Lag das nicht einzig und allein in ihrer Hand? Die Stunden vergingen in schnellem Fluge, so lebhaft beschaeftigten sie ihre Gedanken, und je naeher sie der Heimat kam, desto ruhiger schlug ihr Herz, desto leichter wurde ihr Sinn. Die Freude, ihre Eltern und das Bruederchen nach so langer Trennung wiederzusehen, draengte alle andern Gefuehle, welche ihr die Heimkehr erschwerten, zurueck. Sie wurde jetzt ungeduldig, zaehlte die Stationen und hauchte an die Scheiben, welche mit glitzernden Eisblumen bedeckt waren, um einen Blick in die Gegend werfen zu koennen, die nun immer bekannter und heimatlicher wurde. Lebhaft draengte sich ihr die Erinnerung auf an ihre Ankunft im Vaterhause, als sie aus der Pension zurueckkehrte. Wessen Bild trug sie damals im Herzen, rein und klar mit den schuechternen Empfindungen der ersten, erwachenden Liebe? Und heute - welcher Unterschied! - dasselbe Bild stand auch jetzt deutlich vor ihrer Seele, aber nicht mit den schoenen strahlenden Augen, welche sich bei jenem ersten Abschied so tief in die ihren gesenkt hatten, sondern mit schmerzlichem und vorwurfsvollem Blick. Noch war es indessen nicht zu spaet. Sie bereute aufrichtig und war fest entschlossen, alles wieder gut zu machen, was sie verschuldet hatte. Lucies Bild, welches ihr oft mit drohendem und beaengstigendem Ausdruck erschienen war, sah sie jetzt mit einem versoehnenden Blick an, und schien ihr sagen zu wollen: nur Mut und Vertrauen! Du kannst doch noch gluecklich werden, auch mir ist ja nach langer Pruefungszeit noch Verzeihung und hoechstes Erdenglueck zu teil geworden. Die letzte Station war vorueber, Ilses Herz bebte, denn noch wenige Minuten und sie war daheim. Sie suchte ihr Reisegepaeck zusammen, legte die Blumen darauf, strich sich das Haar zurecht und stand dann erwartungsvoll am Fenster. Der schrille Pfiff der Lokomotive erschien ihr jetzt wie eine Erloesung aus ihrer Ungeduld und Sehnsucht. Sie beugte sich weit zum Fenster hinaus, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Da standen die geliebten Eltern, und jetzt wurde auch sie von ihnen bemerkt. Die Freude, welche bei ihrem Anblick auf deren Gesicht zu lesen war, ruehrte sie fast zu Traenen, und als sie dann in ihren Armen lag, stieg ein heisses Gefuehl der Dankbarkeit fuer solche Liebe, solches Glueck in ihr auf, so dass sie Vater und Mutter immer wieder und wieder kuessen musste. Die Eltern waren mit dem Schlitten gekommen; Herr Macket fuhr selbst, und mit Windeseile trugen sie die geliebten Braunen dem heimatlichen Dorfe zu. Jeder Weg und Steg, jeder Baum und Strauch kam ihr wie ein lieber Bekannter vor. Als sie durch die Dorfstrasse fuhren und das Schellengelaeute viele Neugierige ans Fenster lockte, lauter bekannte Gesichter, konnte sie sich der beschaemenden Erinnerung nicht erwehren, wie sie an jenem unglueckseligen Tage dieselbe Strasse in wilder Hast hinuntergeeilt und wie eine Suenderin den ihr begegnenden Dorfleuten ausgewichen war. Zum Glueck hatten die Eltern so viel zu fragen, dass diese peinlichen Gedanken bald wieder verdraengt wurden. Endlich hielt der Schlitten vor dem Tore. Wie eine Feder schnellte Ilse empor und sprang hinaus. Erst begruesste sie die Dienstboten freundlich und streichelte die Hunde, welche vor Freude laut bellend an ihr emporsprangen und ihr die Haende leckten. Dann aber lief sie eilend ins Haus, denn es draengte sie unwiderstehlich, das Bruederchen zu umarmen, welches am Fenster stand und mit seinen beiden dicken Faeusten an die Scheiben trommelte. Wie gross war es geworden, zu Ilses lebhaftem Erstaunen! Aber augenscheinlich wollte es nichts mehr von ihr wissen, denn es versteckte sich hinter die Waerterin, als sie es aufnehmen und herzen wollte. "Ich bin ihm ganz fremd geworden," klagte sie nachher den Eltern; aber die Mama troestete sie mit der Versicherung, dass der Kleine sich bald wieder an sie gewoehnen wuerde. "Nun komm, Kind," sagte Herr Macket zaertlich zu Ilse und nahm ihr Hut und Pelzjaeckchen ab, "nun komm, du sollst vor allem Essen und trinken, denn gewiss bist du ganz ausgehungert." Den Arm um ihre Schulter legend, fuehrte er sie fort; man las in seinen Augen die Seligkeit, dass er seinen Liebling wieder hatte. In dem erleuchteten Esszimmer, das Ilse jetzt mit den Eltern betrat, brannte ein lustiges Feuer in dem grossen Kachelofen, dessen hellen Schein der blanke Fussboden wiederspiegelte. Sie blickte sich um! Es war hier noch alles so, wie sie es verlassen hatte. Dort vor dem Diwan lag das grosse Baerenfell, das ein Freund ihres Vaters diesem einst geschenkt hatte. Daneben stand der Schaukelstuhl, genau auf derselben Stelle wie sonst, nichts fehlte an dem gemuetlichen Plaetzchen, und doch kam es ihr anders, veroedet und verlassen vor. Sie musste an die Zeit denken, da sie so oft mit Leo hier gesessen hatte. Der Schaukelstuhl war sein Lieblingssitz. Sie sah im Geiste, wie er sich leise hin und her wiegte, was er mit Vorliebe zu tun pflegte. So deutlich stand eben jetzt dieses Bild vor ihren Augen, dass sie seine Stimme zu hoeren und die blauen Dampfringel von seiner Zigarette zu sehen glaubte. Gewaltsam musste sie ihre Gedanken von diesem Platze losreissen, als sie sich jetzt mit den Eltern zu Tische setzte, aber immer wieder kehrten unwillkuerlich ihre Blicke verstohlen nach dem leeren Schaukelstuhl und dem Diwan mit dem Baerenfell davor zurueck. Weder der Papa, noch Frau Anne erwaehnten Leo, und Ilse, so sehr sie sich in ihren Gedanken mit ihm beschaeftigte, konnte sich gleichfalls nicht entschliessen, von ihm zu sprechen. Aber dennoch war es ihr schrecklich, dass sein Name nicht genannt wurde, und sie hatte schon einigemal einen Ansatz genommen, die Eltern um Verzeihung zu bitten und ihnen ihr Schuldgefuehl einzugehen. Das war aber doch schwerer, als sie es sich gedacht hatte; es wollte sich auch keine rechte Gelegenheit finden, davon anzufangen, immer wieder kamen sie auf andere Dinge zu sprechen, immer wieder wurde ihr Entschluss zurueckgedraengt. So vergingen die Stunden, und als sie sich am Abend von den Eltern trennte, da war ihr Gestaendnis noch nicht vom Herzen herunter. Darueber niedergeschlagen und verstimmt, suchte sie ihr Zimmer auf. Auch hier war alles unveraendert. Eine behagliche Waerme stroemte ihr entgegen, auf dem Schreibtisch stand ihre Lampe mit dem Schirm darueber, der ein Geschenk von Nellie war. Die gepressten Blumen und Blaetter leuchteten hinter dem durchsichtigen Papier in fein gestimmten Farben und reizenden Formen. Einen Augenblick betrachtete Ilse sinnend das kleine Kunstwerk, dann schweifte ein Blick zu einem Bilde hin, das von dem hellen Licht scharf beleuchtet wurde. Fast betroffen fuhr sie zurueck, als staende nicht Leos Bild, sondern er selbst dort. Sie nahm es in beide Haende, und die Traenen schossen ihr in die Augen. Keck und uebermuetig schaute das schoene maennliche Gesicht sie an, dessen kraeftig vorspringende Nase und das feste Kinn auf einen ernsten, edlen Charakter wiesen. Lange stand Ilse in den Anblick des Bildes versunken; es war ihr, als fuehle sie nun erst die Tiefe ihrer Liebe zu Leo, heisse Sehnsucht ergriff sie, ihm zu sagen, wie sie jetzt dachte und fuehlte. Die Trennung von ihm, die sie so lange ertragen hatte, wurde ihr mit einem Male unertraeglich. Ob er wohl zu ihr eilen wuerde, wenn er ahnte, dass sie zurueckgekehrt sei! Sie nahm sich fest vor, am andern Morgen mit den Eltern zu sprechen und ihm dann zu schreiben und ihn um Verzeihung zu bitten. Bebend dachte sie, ob er dann wohl zu ihr kommen wuerde? Ihre Aufregung liess sie nicht zur Ruhe kommen, und sie dachte deshalb auch nicht daran zu Bett zu gehen. Gedankenvoll liess sie ihre Blicke durch das Zimmer schweifen. Wie viel Freude hatte ihr die reizende Einrichtung bereitet, mit der die lieben Eltern sie ueberraschten, als sie aus der Pension zurueckkehrte. Wie gluecklich hatte sie das traute Heiligtum gemacht, welches sie stets bestrebt war, immer noch mehr auszuschmuecken. Den Blumentisch am Fenster, ein wahres Kunstwerk aus Schmiedeisen, hatte ihr Leo geschenkt. Mit herrlichen Blumen und Pflanzen gefuellt, stand er eines Morgens in ihrem Zimmer. Auch der Buecherschrank war ein Geschenk von ihm. Die goldglaenzenden Buecherruecken erinnerten sie lebhaft an vergangene Zeiten. Wie manches Werk ihrer Lieblingsdichter hatten sie zusammen gelesen, im Sommer unter der schattigen Linde, im Winter in Frau Annes molligem Boudoir. Sie hoerte im Geiste den Wohlklang seines Organs, sie sah sein lebhaftes Mienenspiel beim Vorlesen. Und wenn sie ihn mit einer Frage unterbrach, wie klar und scharf war seine Antwort. Die schoenen Zeiten, sie sind vorbei und tauchen nun in Ilses Erinnerung auf, als gehoerten sie einer fernen, fernen Vergangenheit an. Hier auf diesem Platze, an dem zierlichen Schreibtisch, welcher nach Maedchenart mit allen moeglichen Nippsachen ueberfuellt war, die zum Teil noch den kindlichen Geschmack des Backfischalters verrieten, hatte sie manchen Brief an Leo geschrieben, und in der Schublade rechts - den Schluessel dazu trug sie stets bei sich - lagen seine Briefe. Mechanisch griff sie jetzt nach dem Schluessel, zoegernd steckte sie ihn ins Schloss und zog den Kasten auf. Da lagen die Briefe, wohlgeordnet, wie sie dieselben erhalten hatte. Sie nahm den obersten heraus, eine trockene Rose fiel ihr entgegen, - es war sein letzter Brief gewesen. Sie entfaltete ihn, und der Anblick der geliebten, so lange entbehrten Handschrift stimmte sie unendlich weich. Sie begann zu lesen, Seite fuer Seite, und als sie damit fertig war, nahm sie einen zweiten Brief heraus, dann wieder einen, immer mehr, immer tiefer versenkte sie sich in die teuren Schriftzuege. Einmal musste sie laut lachen ueber eine witzige Schilderung, und dann wieder erglaenzte ein seliger Ausdruck in ihren Augen. Die zaertlichen Liebesworte, welche sie jetzt las, war sie derselben auch wert? Hatte sie nicht um einer Nichtigkeit willen an der Liebe eines edlen, treuen Mannes gezweifelt und das Vertrauen zu ihm verloren? O, es war entsetzlich, sich nun mit solchen Vorwuerfen quaelen zu muessen, die ihr keine Ruhe liessen. Warum hatte sie ihr Unrecht nicht gleich empfunden, warum ihm erst noch solchen Schmerz bereiten muessen? Geschah ihr nicht recht, wenn er sie jetzt nicht mehr liebte, wenn er ihr nicht verzieh? Erregt sprang Ilse auf. Die naechtliche Stille wurde ihr auf einmal unheimlich, so allein, so verlassen zu sein mit dem mahnenden Gewissen, das ihr ihre Schuld immer wieder unbarmherzig vorhielt, war unertraeglich. Wenn sie Leo jetzt schriebe? Sie ergriff diese Idee wie eine Rettung und gab sich sofort daran. Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und die Feder zitterte in ihrer Hand. Schliesslich zerriss sie den angefangenen Brief. Wenn nur erst die Nacht vorbei waere! Was sollte sie nur beginnen bis zum Morgen? Jetzt war es erst wenig ueber zwoelf Uhr, sie musste also noch lange warten, bis der heiss ersehnte Tag erschien. Sie nahm ein Buch und fing an zu lesen, aber die Buchstaben flimmerten ihr vor den Augen, und sie hatte im naechsten Augenblick das Gelesene schon wieder vergessen. Gab es denn kein Mittel, ihren unruhigen Geist zu beschwichtigen, ihren Gedankenlauf zu hemmen? Nochmals nahm sie zur Feder ihre Zuflucht und schrieb an Nellie, der sie alles erzaehlte, was sie in diesen stillen Stunden dachte und empfand. Das erleichterte ihr stuermisch pochendes Herz, und als sie mit Schreiben aufhoerte, war sie ruhig geworden, eine wohltuende Muedigkeit Ueberkam sie endlich. Sie begab sich zur Ruhe und bald umgaukelten sie rosige Traeume. Erquickt wachte sie am andern Morgen auf, und die Ungeduld liess sie keine Minute laenger im Bett. Draussen lag noch graue Daemmerung, als Ilse, nachdem sie sich angekleidet hatte, die Gardinen zurueckzog und in den beschneiten Garten hinunterschaute, der sich bis zu dem unmittelbar daran stossenden Walde hinzog und nur durch eine eiserne Pforte von diesem getrennt war. So still und friedlich lag die Natur in ihrem Winterschlaf da, so verzaubert und schweigsam, nichts erinnerte mehr an die Zeit, als sie ueppiges Leben war, die gruenen Wipfel geheimnisvoll rauschten, Blumen und Blueten ihre Duefte aushauchten und melodische Vogelstimmen diese Herrlichkeit jubelnd besangen. Da war es schoen im Walde gewesen, und ein junges, glueckliches Menschenpaar war oft mit Buechern und Haengematte nach dem verborgensten, lauschigsten Fleckchen hinausgewandert, wo sich unter ihren Fuessen ein samtweicher Moosteppich ausbreitete und die leise schaukelnden Zweige der alten Buchen ihnen Kuehlung zufaechelten. Dort befestigte der junge Mann die Haengematte, und wenn seine Begleiterin es sich darin bequem gemacht hatte, dann legte er sich in das schwellende Moos, und den beiden verflogen unter Plaudern und Lesen die Stunden wie Minuten. Niemand stoerte sie in der Einsamkeit, die breiten Aeste ueber ihnen spendeten herrlichen Schatten, und das Auge erlabte sich an dem koestlichen Gruen. Versunken in diese Erinnerung starrte Ilse hinaus, bis der Anblick des hohen Schnees, der jetzt auf den Zweigen lastete, sie in die Wirklichkeit zurueckfuehrte. Es kam ihr vor, als waere es eine andre gewesen, welche dort mit Leo so gluecklich war, als haette sie selbst dies nie erlebt. Ob solche Erinnerungen wohl auch an seinem Geist vorueberzogen, oder ob er die Vergangenheit aus seinem Gedaechtnis verbannt hatte? Jeder Platz, jeder Baum hier mahnte sie an die frohen Stunden, die sie mit ihm verlebt hatte. Bei dem Gedanken, dass eine solche Zeit vielleicht niemals wiederkaeme, dass sie fortan nur von diesen Erinnerungen zehren muesste, fuehlte sie ihr Blut in den Adern erstarren. Sie trat vom Fenster zurueck und ging rastlos im Zimmer auf und ab. Diese Angst, diese Zweifel konnte sie nicht laenger ertragen und sie beschloss deshalb, heute morgen sofort mit den Eltern zu sprechen. War das nicht ihre Pflicht und wuerden sie, welche ihr nur Liebe und Guete entgegenbrachten, ihr nicht ratend und helfend zur Seite stehen? Klopfenden Herzens verliess sie ihr Zimmer. Als sie an der Kinderstube vorbeikam, hoerte sie das Bruederchen laut jauchzen. Der Kleine lag noch im Bettchen, als sie hereinkam, und strampelte mit den dicken Beinchen in der Luft. Sie kuesste und liebkoste das Kind; wie lange hatte sie mit dem lieben Schelm nicht mehr gespielt! Jetzt verstand er es schon, wenn sie mit ihm scherzte, und sein herzliches Lachen versetzte sie in Entzuecken. Als Frau Anne hereintrat, war sie nicht wenig erstaunt, Ilse schon vollstaendig angekleidet zu finden. "Du bist schon auf, Ilse?" fragte sie verwundert, mit einem herzlichen Kuss. "Eben schlich ich auf den Fussspitzen nach deinem Schlafzimmer, um zu horchen, und da alles maeuschenstill war, dachte ich, du laegst noch im tiefsten Schlummer und wollte dich nicht stoeren." Ilse umarmte sie stuermisch. "Wie reizend und drollig ist das Kind geworden," rief sie begeistert und einer ploetzlichen Eingebung folgend fuegte sie hinzu: "Ach, liebste Mama, wie gluecklich macht es mich, dass ich wieder bei euch bin!" [Illustration] Frau Anne strich ihr zaertlich ueber das Haar, und in ihren Augen funkelte es froh und siegesgewiss. Sie zog Ilses Arm durch den ihrigen. "Nun komm! Papa wird sich freuen, dass du schon auf bist, er wartet mit grosser Ungeduld auf dich." Bald sassen die drei am gemuetlichen Kaffeetisch. Herr Macket verwandte kein Auge von seinem Liebling, der nun wieder leibhaftig vor ihm sass, den er so sehr entbehrt und oft herbeigesehnt hatte. Ihn erfuellte ganz der eine Gedanke: sie ist wieder da! Deshalb machte er sich auch keine Sorgen, was nun weiter werden und wie das Verhaeltnis zu Leo sich gestalten wuerde. In seiner unbefangenen Freude merkte er denn auch nicht, dass sich in Ilses ganzem Wesen eine gewisse Aufgeregtheit zeigte, und dass ihre Augen einen aengstlich fragenden Ausdruck hatten. Frau Anne aber beobachtete desto schaerfer, ihr entging von alledem nichts, und sie bemerkte auch, dass ihr Toechterchen jetzt einen harten Kampf in seinem Innern zu bestehen hatte. Sie war deshalb so zuvorkommend und liebevoll wie nur moeglich, um ihr den so schweren Anfang zu erleichtern. Ilse ass und trank mit grosser Hast zur lebhaften Freude des arglosen Vaters, dem ihr anscheinend so gesunder Appetit sehr gefiel. Eigenhaendig belegte er die Broetchen, und laechelnd sah ihm Frau Anne zu, - sie wusste genau, warum das Kind so eifrig dem Essen zusprach. Schon einige Male hatte Ilse die Lippen zum Reden geoeffnet, und doch konnte sie sich immer noch nicht dazu entschliessen. Krampfhaft drehte sie kleine Brotkuegelchen zwischen ihren Fingern, - mein Gott, war es denn so schwer, das auszusprechen, was ihr doch wie Feuer auf der Seele brannte? Herr Macket war inzwischen aufgestanden und hatte sich in aller Gemuetlichkeit eine Zigarre angesteckt, nun trat er zu ihr und legte zaertlich den Arm um ihren Nacken. "Kind," sagte er so recht aus tiefstem Herzensgrunde froh, "es ist gut, dass du wieder da bist." Und als sie aufblickend in die teuren Vateraugen sah, da sprang sie empor und fiel ihm um den Hals. "Liebe, einzige Eltern," dabei reichte sie Frau Anne die Hand, "verzeiht mir, seid nicht mehr boese, ich will ja alles wieder gut machen. Ich habe kindisch gehandelt, als ich davonlief, ich weiss es wohl, er hatte ja recht, ich bin im Unrecht, ach wuesste ich doch, ob er mich noch liebt, ob er mir verzeiht!" Sie hatte in fliegender Hast gesprochen, nun hielt sie mit einem riefen Atemzug inne, und es war, als waere eine Zentnerlast von ihrem Herzen genommen. Herr Macket war bei den Selbstanklagen seines Lieblings ganz aengstlich geworden; er hatte sie einigemale unterbrechen wollen mit dem Ausruf: "Aber Kind, liebes Kind, wir sind dir doch nicht boese, sage doch so etwas nicht." Fast erschrocken blickte er sie an. Frau Anne aber zog sie geruehrt an ihre Brust und streichelte ihre heissen Wangen. Traenenfeucht glaenzten ihre Augen, und mit einem triumphierenden Ausdruck sah sie ihren Mann an, denn dieser hatte es immer bestritten, wenn sie behauptete, dass Ilse eines Tages zum Bewusstsein kommen und zu ihrem Braeutigam zurueckkehren wuerde. "Nein, das wird sie nicht tun, ich kenne das Maedchen," hatte er dann geantwortet, "sie ist viel zu stolz dazu." Frau Anne schwieg dann laechelnd, sie wusste ja viel besser, dass die Liebe ueber den Stolz siegen wuerde. Und sie hatte recht gehabt, sie hatte die Seele der jungen, trotzigen Braut besser durchschaut, als der in blinder Liebe befangene Vater. Jetzt, als sie Ilse fest in ihren Armen hielt und das heftig pochende Herz fuehlte, war sie sicher, dass sie diesmal fuer immer geheilt und bekehrt zurueckgekommen war, dass der Kampf, den Ilse in den letzten Monaten ueberstanden, in ihr die ernste Liebe des Weibes gereift hatte. Nun war das Eis gebrochen, mit einem Male wurde es Ilse so leicht, von Leo, von ihrer Flucht zu reden, traf sie doch nicht der geringste Tadel von seiten der Eltern; im Gegenteil, wenn sie sich ausschalt und Vorwuerfe machte, dann beruhigte die Mama, troestete mit den zaertlichsten Worten der Papa. Alles, alles beichtete sie, nur den Streit mit Leo liess sie unberuehrt und beteuerte nur immer wieder, dass sie im Unrecht sei, und dass sie ganz wie ein unvernuenftiges Kind gehandelt habe. Frau Anne hoerte ihr voller Befriedigung zu, und in ihrem Innern dankte sie Nellie inbruenstig, indem sie deren gutem Einfluss den groessten Teil dieser Umwandlung zuschrieb. Noch an demselben Tage gab sie diesen Gefuehlen in einem langen Dankesbriefe an die junge Frau Ausdruck. Herr Mackets Groll gegen Leo, den er bis jetzt nicht hatte ueberwinden koennen, schwand immer mehr, und er musste nun doch einsehen, dass nur die Widerspenstigkeit seines Toechterchens an diesem Zerwuerfnis schuld war. "Und nun will ich gleich an Leo schreiben," sagte Ilse, sich erhebend, "und ihn bitten, dass er morgen kommt, dass wir ein vergnuegtes Weihnachtsfest zusammen feiern koennen." Aber schon nach kurzer Zeit kehrte sie unverrichteter Sache zurueck. "Ich kann nicht schreiben, Mama," klagte sie, "es ist mir nicht moeglich. Was ich ihm zu sagen habe, das muss muendlich geschehen. Was soll ich denn nur tun, ich weiss es ja nicht; ach Gott, so rate mir doch, liebste Mama." Frau Anne schwieg und tat, als ueberhoerte sie die Frage; das Kind sollte von selbst den richtigen Weg einschlagen. Sinnend und etwas ungeduldig blickte Ilse vor sich hin. "Mama," begann sie wieder, "wissen denn Leos Eltern, was zwischen uns vorgefallen ist?" Sie seufzte bei dieser Frage, denn der Gedanke, dass sie auch ihnen eine Aufklaerung geben muesste, war ihr hoechst peinlich. "Beruhige dich, Ilse," troestete sie Frau Anne, "Gontraus wissen nichts. Leo hat ihnen keinesfalls etwas verraten, und ich habe - oft allerdings durch recht diplomatische Kuenste - mich bemueht, alles zu verheimlichen. Da sie ganz ahnungslos sind, so werden sie auch nichts bemerkt haben. Wegen deiner angeblichen Schreibfaulheit musst du dich aber gruendlich bei ihnen entschuldigen, denn sie klagten oefters darueber, dass sie noch gar keinen Brief von dir haetten. Ich habe dein Schweigen, so gut es ging, beschoenigt." "Du liebe, einzig gute Mama!" unterbrach sie hier Ilse, der bei diesen Worten ein Stein vom Herzen fiel, indem sie Frau Anne mit beiden Armen umschlang, "ich verdiene deine Guete ja gar nicht. Warum muss denn auch gerade ich einen so unglueckseligen Charakter besitzen? Wie schwer habe ich schon darunter leiden muessen, wie viele bittere Stunden habe ich andern dadurch bereitet! Siehst du ich bin wuetend auf mich, ich weiss genau, was fuer ein stoeckisches Wesen ich bin, und darum wird mich Leo auch nicht mehr lieb haben, ganz gewiss nicht." Bei diesem leidenschaftlichen Ausbruch stuerzten ihr die hellen Traenen aus den Augen. "Ilse," sagte Frau Anne sanft aber bestimmt, "ich dachte, du waerest ein vernuenftiges Kind geworden, und nun kommt doch wieder das tolle Koepfchen zum Vorschein." "Ach, Mama, kein Mensch weiss, welche Vorwuerfe mich gequaelt haben, und wie ich bereue, was ich getan. Leo glaubt das gewiss nicht, und wenn ich es ihm auch sage, wird er sich nicht ueberzeugen lassen." "Ilse, Ilse," erwiderte Frau Anne kopfschuettelnd, "so darfst du nicht sprechen. Ich weiss, wie tief Leo unter den jetzigen Verhaeltnissen leidet. Wenn er dich nicht wahrhaft liebte, wuerde er gleichgueltiger sein." "Hat er mit dir ueber mich gesprochen, hat er dir alles erzaehlt?" fragte Ilse dringlich. "Hat er sich ueber mich beklagt?" "Er hat mir nicht mehr gesagt, als unumgaenglich notwendig war, und nicht das kleinste Wort des Tadels oder der Klage ist ueber seine Lippen gekommen. Ilse, kennst du ihn denn so wenig, dass du so etwas von ihm zu glauben vermagst?" Das junge Maedchen senkte beschaemt das Haupt. Nein, sie hatte eine bessere Meinung von ihm und wusste selbst nicht, warum sie so sprach. "Ich habe den guten Gontraus auf ihren letzten Brief noch nicht geantwortet," fuhr Frau Macket fort, "sie fragten darin an, ob du zu Weihnachten bestimmt zurueckkaemst, dann wuerden wir doch das Fest natuerlich zusammen feiern. Ich war etwas in Verlegenheit, was ich darauf erwidern sollte, und habe deshalb bis jetzt geschwiegen, heute muss ich ihnen aber schreiben, Ilse, - was soll ich ihnen fuer eine Antwort geben?" "Mama," sagte Ilse ploetzlich, nachdem sie eine Weile gedankenvoll vor sich hingeblickt hatte, "ich habe eine Idee; ja, so geht es - so muss es gehen. Ich schreibe an Leos Eltern, dass ich morgen frueh mit euch kaeme, aber sie sollten ihm davon nichts sagen, weil ich ihn ueberraschen wollte." Gott sei Dank, nun war ein Ausweg gefunden! Ihre Augen leuchteten vor Freude ueber den gluecklichen Einfall, und sie war Feuer und Flamme. "Herzensmama, so wird es gemacht, nicht wahr?" schmeichelte sie, "und dann fahren wir morgen gleich nach Tisch alle hierher zurueck, und es wird hier beschert. Ich will sofort schreiben." Dem Papa brauchte sie ihren Plan gar nicht erst mitzuteilen, er war doch mit allem einverstanden, was sein Liebling tat. Der Brief wurde denn auch sofort geschrieben und unverzueglich nach dem Bahnhof gebracht, damit er noch heute an seine Adresse gelangte. Ilse war wie umgewandelt, die Ungeduld jagte sie rastlos von einem Ort zum andern. Es gab ja auch noch so viel zu tun fuer den folgenden Tag, und mit einem wahren Feuereifer stuerzte sie sich in die Arbeit. Im grossen Gartensaale stand die maechtige Tanne, welche sie schmuecken sollte. Die breiten Aeste waren schon dicht mit Watte belegt, auch Gold- und Silberfaeden waren darueber gezogen. Herr Macket, der keinen Augenblick von Ilses Seite wich, war dabei, die Wachslichter zu befestigen. Wie heller Freudenschein lag es ueber seinem Gesicht, als er sie so froh und geschaeftig sah, und verstohlen blickte er sie immer an. Das war wieder seine alte Ilse, sein lieber, ausgelassener Wildfang, welchem Uebermut und Frohsinn aus den Augen blitzten. Ilse hatte nicht genug an dem duftenden Gruen des Tannenbaumes, den ganzen Saal wollte sie mit Tannenzweigen und Blattpflanzen geschmueckt haben; die letzteren musste ihr der Gaertner aus dem Gewaechshaus bringen. Die Ecken sollten Lauben bilden, waehrend an den Waenden Guirlanden aus Tannenzweigen befestigt wurden. Als sie endlich fertig war, betrachtete sie ihr Werk mit pruefenden Augen und ordnete noch hier und da etwas an; es war ihr immer noch nicht schoen genug, schmueckte sie doch den Raum so festlich fuer ihn! Das beseligte sie, und ihr Herz klopfte stuermisch bei dem Gedanken, dass sie morgen mit ihm an dieser Stelle stehen wuerde, und dass dann alle Zweifel und Qualen ein Ende haben sollten. Wie sehnte sie sich nach voller, reiner Harmonie, wie lange, lange hatte sie diese entbehren muessen! Der weihnachtliche Schmuck des Saales war vollendet und das ganze Haus erfuellt von dem feinen, harzigen Geruch der Tannennadeln, hatte doch Herr Macket in seiner Herzensfreude noch mehrere Baeume bringen und in dem Treppenhaus aufstellen lassen. "Es soll recht weihnachtlich sein," sagte er, und war dabei so heiterer Laune, wie ihn seine Frau lange nicht gesehen hatte. Ilse schlief diese Nacht wenig, sie war zu aufgeregt dazu. Puenktlich um acht Uhr stand am andern Morgen der Schlitten vor der Tuere, und ungeduldig stampften die Braunen den Boden. Frau Anne erklaerte, zu Hause bleiben zu wollen, da es, wie sie sagte, noch viel zu tun und anzuordnen gab. Ilse haette freilich sehr gern gehabt, wenn sie mitgefahren waere, denn an dem ruhigen, sicheren Wesen der Mama wuerde ihr erregtes Herz einen festen Rueckhalt gehabt haben. Wer sollte ihr Mut machen, wenn sie wieder zaghaft wuerde! Aber - war denn das noetig, musste sie zu dem Schritt erst ermutigt werden, den sie doch mit freudigem Herzen tat? Nein, nein! Energisch draengte sie jeden solchen Gedanken zurueck, und mit klaren, strahlenden Augen nickte sie Frau Anne zu, welche in der Pforte stehen geblieben war, um dem Schlitten nachzusehen. Wie lieb und gut hatte sie Ilse zum Abschied in die Arme geschlossen! Die zaertlichen Worte: "Nun sei mein verstaendiges Maedchen und zage nicht," welche sie ihr dabei zufluesterte, klangen ihr noch immer in den Ohren nach. Frisch und rosig sass sie an der Seite ihres Vaters, der alle Augenblicke fragte, ob sie es auch nicht froere, und immer wieder die Decke, welche er ueber sie gebreitet hatte, fester und hoeher hinaufzog. Sie wehrte ihm lachend. "Aber Papachen, mir ist ja so warm, mich friert gar nicht; bald kann ich mich nicht mehr ruehren, so fest hast du mich eingewickelt." Unter Herrn Mackets sicherer Leitung flog das leichte Gefaehrt mit Windeseile ueber die glatte Bahn, dass der Schnee links und rechts zur Seite stob. Dazu klang das lustige Schellengelaeute so hell und silberrein, dass es sich wie liebliche Musik anhoerte. Ilse lehnte sich weit zurueck und schloss die Augen. Klingling, klingling, schallte es immerfort in ihren Ohren, und nun schien der helle Glockenklang auf einmal eine dunklere Faerbung anzunehmen, langsam und gemessen in gleichmaessigen Schwingungen zu ertoenen. Was war denn das? Klang nicht so die Glocke von dem heimatlichen Kirchturm? Sie sah ihn im Geiste vor sich, das winterliche Kleid war abgestreift und statt dessen umwob ihn lichtes Fruehlingsgruen. In den Wipfeln der alten Linden, welche vor der Kirche standen, sangen die Voegel, und Blumenduft stroemte durch die geoeffneten Fenster hinein. Drinnen toente die Orgel und begleitete die hellen Stimmen der Dorfkinder. Alles war so feierlich, und da sah sie sich selbst im langen weissen Gewande an der Seite ihres Leo zur Tuere hereinkommen. Um den festlich geschmueckten Altar standen die Eltern, Verwandten und Freunde, und der alte Pfarrer harrte ihrer. - Erschreckt fuhr sie auf. Welche Bilder malte ihre Phantasie da vor ihren Augen aus? Und doch kehrten ihre Gedanken immer wieder zurueck zu dem rosigen Zukunftsbilde. "Bist wohl muede, Kind," fragte Herr Macket, weil sie so lang stumm und mit geschlossenen Augen neben ihm gesessen hatte. "Ja, die Fahrt ist lang und angreifend, sie wird dir doch nicht zu viel werden, Maedel?" Sorgsam pruefend schaute er ihr ins Gesicht. "O nein, Papachen, nicht im geringsten, ich bin gar nicht muede, sondern ueberlegte mir nur etwas und schloss deshalb die Augen." Sie mochte ihm nicht eingestehen, dass sie wachend getraeumt hatte. Nachdem sie in einem Dorfe ausgespannt und eine Weile gerastet hatten, ging die Fahrt weiter. "In einer guten Stunde sind wir da, die Pferde sind flott gelaufen," sagte Herr Macket und blickte mit Stolz auf seine beiden Braunen. Ilse klopfte das Herz hoerbar, und ihre von der kalten Winterluft geroeteten Wangen faerbten sich noch tiefer. Und mochte ihr auch vor dem Augenblick des Wiedersehens bangen, so erfasste sie dennoch eine unsagbare Ungeduld bei dem Gedanken, dass sie nur noch eine kurze Spanne Zeit, nur noch Minuten von ihm trennten. Die weiten Schneeflaechen kamen ihr endlos vor, und sie haette sich Fluegel wuenschen moegen, um schneller in seine Arme zu eilen. Waehrend sie bis jetzt ihren Traeumen nachgehangen hatte, wurde sie auf einmal lebhaft und gespraechig, scherzte und neckte sich mit ihrem Vater, dass oft sein herzliches Lachen durch die winterliche Ruhe schallte, und seine blauen Augen unter den buschigen Brauen vor Freude und Lust strahlten. So verflog ihr die Zeit rascher, und sie konnte die innere Unruhe besser bemeistern. Endlich sah sie ganz in der Ferne, noch undeutlich und kaum zu erkennen, die Kirchturmspitze von L. Wie ein freudiger Schreck durchfuhr es ihre Glieder. "Papa, sieh nur dort, gleich sind wir da!" rief sie, indem sie ihn am Arm fasste und mit dem Finger auf den fernen Kirchturm zeigte. Er kniff die Augen zusammen und blickte nach der angegebenen Richtung, dann legte er die Hand ueber die Augen und beugte den Kopf nach vorn. "Ich sehe noch nichts," sagte er schliesslich. "Aber Papa, dort, siehst du denn nicht?" Sie war aufgestanden und starrte entzueckt in die Ferne, als haette sich ein Wunder vor ihren Blicken aufgetan. Er schuettelte den Kopf. "Ich sehe nichts, Ilse, du hast eben wahre Falkenaugen. Krischan," wandte er sich an den hinter ihnen sitzenden Kutscher, "siehst du den Turm von L. schon?" "Nee, Herr, ich sehe nischt, das Freilein sieht wohl mit die Ogen der Liebe." Ueber diesen Witz grinste er mit dem ganzen breiten Gesicht, waehrend die beiden im Schlitten in ein helles Gelaechter ausbrachen. Weiter und weiter sauste der Schlitten, und die eben noch in der Ferne verschwommenen Gegenstaende tauchten immer klarer auf. Jetzt war auch der Kirchturm deutlich sichtbar, und die beschneiten Daecher zeichneten sich scharf vom blauen Himmel ab. Bald darauf fuhren sie in das Dorf ein, aber bei einem der ersten Haeuser machten sie Halt. Eine dicke goldene Traube, an einem weit vorragenden eisernen Arm befestigt, bezeichnete dasselbe als Gasthaus. Ilse hatte den Schleier dicht ueber das Gesicht gezogen, und Herr Macket musste den breiten Pelzkragen hinaufschlagen, damit sie von den neugierigen Blicken, welche dem Schlitten folgten, nicht erkannt wuerden. Hier sollte ausgespannt werden, so war es mit den Schwiegereltern verabredet worden. Ilse hatte ihnen geschrieben, sie moechten Leo im Hause festhalten. Die Aufforderung ihres Vaters, sich erst etwas zu erwaermen und eine Kleinigkeit zu geniessen, lehnte Ilse entschieden ab, denn so nahe dem ersehnten Ziel erschien es ihr unmoeglich, noch irgendwelche Verzoegerung zu ertragen. So machten sich denn die beiden auf den Weg nach dem Gute, welches abseits vom Dorfe lag und dicht an einen Tannenwald grenzte. "Wie ein Paar Diebe kommen wir angeschlichen," sagte Herr Macket. "Darf ich denn den verflixten Kragen noch immer nicht herunterschlagen? Mir wird naemlich verteufelt heiss in diesem Futteral." "Ach bitte, bitte, noch nicht," bat Ilse, die unter ihrem Schleier fortwaehrend aengstliche Blicke nach rechts und links warf, "siehst du, Herzensvaeterchen, es koennte uns doch jemand begegnen, und wir sind ja gleich da." Herr Macket als ein gehorsamer Vater fuegte sich und stoehnte nur einige Male verstohlen. Sie bogen jetzt in einen kleinen Seitenweg ein, der zwischen zwei Hecken durchfuehrte und nicht gebahnt war, so dass sie bis ueber die Knoechel in den weichen Schnee einsanken. "Hier koennen wir nicht weiter, Ilse, das geht nicht. Du bekommst ja ganz nasse Fuesse und wirst dich auf den Tod erkaelten. Komm, wir wollen umkehren." Damit blieb er stehen. Aber sein geliebter Wildfang schlug ihm ein Schnippchen und huepfte leicht und flink wie ein Reh davon. Sie sah ja am Ausgang des Heckenweges ein grosses, herrschaftliches Haus, das Gontrau'sche, und sollte nun wieder umkehren? Das war zu viel verlangt. Wohl oder uebel musste Herr Macket ihr folgen, und wenn er auch etwas unwillig in den Bart brummte, so brachte er es doch nicht ueber sich, auf seinen Liebling zu schelten. Mit seinen grossen Stiefeln trat er in Ilses zierliche Fussstapfen; diese war ihm laengst vorausgeeilt und wartete schon auf ihn an der eisernen Tuer, welche den parkartigen Garten hinter dem Hause abschloss. "Bist mir doch nicht boese, Papachen?" fragte sie ihn mit schelmischer Zaertlichkeit, und da konnte er natuerlich nicht widerstehen. Der fuersorgliche Schwiegervater hatte Bahn fegen lassen, und auf besserem Wege als vorher schritten sie nun den Garten entlang und schlichen zu einer Hintertuere in das Haus hinein. Ilse hatte Herrn Macket untergefasst und eiligst mit fortgezogen. Dabei hatte sie solch fieberhafte Angst ausgestanden, sie koennte von Leo gesehen werden, dass sie jetzt, nachdem diese Gefahr vorueber war, erst einen Augenblick stehen bleiben musste, um Atem zu schoepfen. Auf dem Hausflur kam ihnen das Gontrau'sche Ehepaar mit offenen Armen entgegen. Ilse war tief beschaemt ueber all die Liebe und Herzlichkeit, mit welcher die Schwiegereltern sie empfingen; dieselben waren vollstaendig unbefangen und schienen nicht im geringsten zu ahnen, welcher Zwiespalt zwischen dem Brautpaar herrschte. Sie fuehrten ihren Besuch in ein behaglich erwaermtes Zimmer, und waehrend Herr Gontrau Ilses Vater Pelz und Hut abnahm, half seine Frau dem Schwiegertoechterchen beim Ablegen und blickte mit Stolz in das junge frische Gesicht mit den lebhaften braunen Augen. Zaertlich strich sie ihr die wirren Haare aus der Stirn und streichelte ihr die Wangen. Auch Herr Gontrau betrachtete sich die Braut seines Sohnes mit grossem Wohlgefallen. "Ilse, ich glaube, du bist noch gewachsen," sagte er, indem er sie an sich zog, "und wie wohl du aussiehst, du bluehst ja wie eine Rose. Na, der Leo wird sich freuen, er hat keine Ahnung von der Ueberraschung, die ihm bevorsteht." "Ach ja," meinte Frau Gontrau, "ich freue mich auch, der arme Junge hat in der letzten Zeit so viel zu tun gehabt, dass er ganz ernst und blass geworden ist." Ilse erroetete und wandte sich ab. "Wo ist Leo?" fragte sie leise. "Ich moechte ihn doch gern gleich sehen." "Er ist oben auf seinem Zimmer, liebes Kind," sagte Frau Gontrau. "Nun, du weisst ja Bescheid; ich war eben noch bei ihm, um zu verhueten, dass er sich entfernte." "Ich gehe zu ihm," sagte Ilse und verliess das Zimmer. Als sie die Treppe hinaufgeeilt war und nun vor seiner Tuere stand, hielt sie inne und legte die Hand beschwichtigend auf ihr Herz, das ihr zum Zerspringen klopfte. Nun war der Augenblick gekommen, ihm die Hand zur Versoehnung zu reichen. Ein Gefuehl der Demuetigung wollte noch einmal in ihr aufwallen, aber sie unterdrueckte es, denn sie hatte sich vorgenommen, oft und fest vorgenommen, ihm mit keinem andern Gedanken, als dem der aufrichtigsten Reue entgegenzutreten. Und als sie immer noch zoegerte, erschien ihr Lucies Bild vor den Augen und blickte sie flehend an. Sie legte die Hand auf die Klinke, drueckte sie sanft nieder und befand sich nun in einem kleinen Vorraum, welcher nur durch eine Portiere von Leos Zimmer getrennt war. Auf den Fussspitzen schlich Ilse naeher, schob den Vorhang auseinander und konnte nun das ganze Zimmer uebersehen. [Illustration] Dort sass er an seinem Schreibtisch, tief ueber seine Arbeit gebeugt und eifrig schreibend. Sie blieb unbeweglich stehen, wie um sich zu sammeln, und sah unverwandt auf die geliebte Gestalt vor ihr. Wenn er wuesste, wer so dicht hinter ihm stand! Sie meinte, er muesste ihre Naehe fuehlen, aber ahnungslos schrieb er weiter. Als er jetzt den Kopf zur Seite wandte, um in einem Buche nachzuschlagen, konnte sie sein Gesicht sehen, und - taeuschte sie sich, oder war es wirklich so? - er schien ihr um Jahre gealtert. Seine Wangen waren blass, die Augen hatten tiefe Schatten, und um seinen Mund lagerte ein mueder, schmerzlicher Zug. So sah sie nun ihren Leo wieder, den sie nur kraftvoll und frisch gekannt hatte. Die Traenen schossen ihr in die Augen, und sie musste an sich halten, um nicht laut aufzuschluchzen. Jetzt lehnte er sich im Stuhl zurueck, und sie konnte ihr Bild bemerken, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand; ein gruener Tannenzweig schmueckte dasselbe. Leise, wie magnetisch angezogen, schlich sie naeher. Jetzt nahm er das Bild in die Hand und betrachtete es mit liebevollen Blicken. Den kleinen Zweig, der ihr Gesicht etwas verdeckte, schob er zurueck, damit er ungehindert in das geliebte Antlitz schauen konnte. Er dachte ihrer also noch mit tiefer, unwandelbarer Liebe. Ohne dass sie es wollte, toente sein Name halblaut von ihren Lippen. Das Bild entfiel seiner Hand, mit einem jaehen Ruck stiess er den Stuhl zurueck und drehte sich um. Als saehe er einen Geist vor sich, so starrten die dunklen Augen in dem blassen Gesicht auf Ilse. Sie trat naeher und rief noch einmal: "Leo." Da loeste sich der Bann, der ihn befangen hatte. "Ilse, du - du, bist du es wirklich?" stiess er hervor, und als sie die Arme nach ihm ausbreitete, zog er sie fest an sich und drueckte ihren Kopf mit beiden Haenden an sein Herz. "Vergib mir, Leo!" fluesterte sie unter Traenen. Statt aller Antwort schloss er ihr den Mund mit leidenschaftlichen Kuessen, gab ihr die zaertlichsten Schmeichelnamen. Und diesem Manne hatte sie Misstrauen entgegengebracht, an seiner Liebe hatte sie gezweifelt! In toerichtem Trotz hatte sie das beste, edelste Herz verkannt. Der Gedanke, dass er sich haette von ihr wenden koennen, erfuellte sie jetzt noch mit Schrecken. Fester schmiegte sie sich an den Geliebten. Sie waren beide nicht faehig, zu sprechen, stumm hielten sie sich umschlungen und besiegelten innerlich von neuem den geschlossenen Bund. Sie hatten das Gefuehl, dass sie jetzt fuer immer zusammengehoerten, dass nichts sie je wieder trennen koennte. Es war Ilse, als traeumte sie, und sie duerfte sich nicht ruehren, um den schoenen Traum nicht zu verscheuchen. Und als sie dann endlich Worte fanden und Hand in Hand zusammensassen, da konnten sie kein Ende finden, bis schliesslich Frau Gontrau kam und schuechtern fragte, ob das liebe Brautpaar noch nicht bald erscheinen wolle. * * * Der im hellsten Lichte strahlende Tannenbaum beschien am heiligen Abend im Macketschen Hause lauter frohe, vergnuegte Gesichter. Es ging ein Knistern durch die Zweige und die Wachskerzen flackerten so lustig, wie wenn der Baum selbst damit auch seiner Freude Ausdruck geben wollte. Frau Anne hatte den Kleinen auf dem Arm, welcher jauchzend seine beiden Haendchen nach dem Lichterbaum ausstreckte. Herr Macket stand daneben und neckte seinen Jungen, denn er war ganz uebermuetig heute. Das Kind musste alle seine Kunststueckchen zeigen, so dass Gontraus ganz entzueckt waren von dem reizenden kleinen Kerl. "Jetzt muss aber mein Schatz zu Bett gehen," entschied endlich Frau Anne, welche bemerkte, dass die Lebhaftigkeit des Kindes durch den Beifall der Umstehenden sich immer mehr steigerte. Der muetterliche Befehl schien aber dem kleinen Mann durchaus nicht angenehm zu sein, denn er zog ein Schueppchen und in seinen Mundwinkeln zuckte es verdaechtig. Aber die Mama machte kurzen Prozess mit ihm. "Nun gib dein Haendchen und sage gute Nacht," gebot sie energisch. Er gehorchte und reichte allen die Hand. "So nun musst du noch Ilse und Onkel Leo gute Nacht sagen." - Die beiden hatten sich in eine der gruenen Pflanzen-Nischen zurueckgezogen; aus ihren Augen glaenzte Glueck und Seligkeit. Ilse hatte so viel zu erzaehlen, wie sie zuerst seiner nur im Groll gedacht, wie sie aber nach und nach einsehen gelernt hatte, dass wahre, echte Liebe sich auch zu fuegen weiss. Und wie reizend Frau Nellie sei, ein wie furchtbares Schicksal die arme Flora betroffen habe, wie klug und interessant Orla waere, der gegenueber sie sich immer klein und erbaermlich vorgekommen sei, - das alles, und noch vieles andre, berichtete sie ihm auf das ausfuehrlichste. "Schatz, es ist, als haetten wir uns erst heute verlobt, als haetten sich erst jetzt unsre Herzen fuer immer gefunden," sagte er. "Fuer immer!" wiederholte sie mit Betonung, und ihre Augen sahen mit dem Ausdruck der innigsten Liebe zu ihm empor. "Nicht wahr, Leo, du hast nun alles vergessen und liebst mich noch wie frueher?" "Mehr als je," gab er ihr zaertlich zur Antwort. Sie lehnte an seiner Brust, und beide schauten in den flimmernden, duftenden Tannenbaum. Freundliche Bilder der Zukunft stiegen vor ihnen auf, sie traeumten sich in ihr eigen Heim, und wie sie am naechsten Weihnachtsabend sich ihren eigenen Baum anzuenden wuerden! * * * Mit duftenden Rosen war der Weg zur Kirche bestreut, den Ilse jetzt im braeutlichen Gewande am Arm ihres Leo dahinschritt. Wolkenlos woelbte sich der Junihimmel ueber ihnen, und goldner Sonnenglanz lag ueber der strahlenden Natur ausgebreitet. Das ganze Dorf war zusammengelaufen, um sein geliebtes Gutskind im Brautschmuck zu sehen; sie standen zu beiden Seiten des Weges, und als das Brautpaar in der Kirchentuere verschwunden war, da stroemten sie hinterher, und die kleine Kirche war im Umsehen gefuellt. Ilses Traum war zur Wirklichkeit geworden, nun sollte sie binnen wenigen Minuten am Altar des Herrn dem geliebten Mann fuer ewig Liebe und Treue schwoeren. Durch die offenen Fenster lugte neugierig der helle Sonnenschein, das leise Rauschen der Baeume und der froehliche Vogelgesang drangen herein, gerade so, wie sie es Weihnachten im Schlitten getraeumt hatte. Und jetzt erscholl die Orgel, und die Kinderstimmen setzten ein. Ilse schmiegte sich dichter an Leo, und mit gesenkten Augen schritt sie neben ihm dem Altar zu, der mit Pflanzen und Blumen festlich geschmueckt war. Da standen die Eltern, die Freunde und Verwandten. Orlas schoenes Antlitz lachte ihr entgegen, Andres neigte gruessend das Haupt, und Nellie, die liebe, einzige, blickte wie verklaert zu ihr herueber. Der Papa streckte ihr geruehrt seine Hand entgegen, und Frau Anne laechelte ihr unter Traenen zu. So viel Liebe, so viel Freundschaft sah sie in allen Augen leuchten, dass sie in ueberwallender Seligkeit zu dem Manne aufsah, welchem sie nun angehoerte fuer alle Zeit. Die Orgel und der Gesang verstummten. "Die Liebe hoeret nimmer auf," so begann der alte wuerdige Pastor seine Rede. Er hatte Ilse getauft und konfirmiert, nun stand sie als junge Frau vor ihm, und er sollte ihr seinen Segen geben. Das lebhafteste Interesse, die herrlichste Freundschaft, gaben ihm warme, tief empfundene Worte ein, seine Rede war poetisch durchflochten mit den anmutigsten Wendungen. Herr Macket musste sich einige Male verstohlen ueber die Augen fahren; Frau Anne hatte ihre Hand in die seine gelegt, auch sie war tief bewegt. Die Sturm- und Drangperiode des jungen Paares zog noch einmal an ihrem Geiste vorueber, und erleichtert holte sie Atem, dass sie gluecklich ueberwunden war und die beiden zusammen dort am Altar standen. Eben fiel ein breiter Sonnenstrahl schraeg durch das Fenster ueber die einfach weiss getuenchte Wand, gerade auf das frische Myrtengruen in Ilses lockigem Haar und beleuchtete den weissen Schleier, der lang bis auf die kostbare Atlasschleppe herabfiel, dass er wie aus Duft gewoben erschien. Wie liebreizend sah die junge Braut aus! Voll Stolz und Glueck blickte Frau Anne auf das schoene Paar, und der Gedanke, dass heute die geliebte Tochter fuer immer aus dem Elternhaus schied, war der einzige Wermutstropfen in dem Kelch der Freude. - In lustigster Stimmung, scherzend und lachend sassen die Hochzeitsgaeste noch an der geschmueckten Tafel, als Ilse sich bereits fortgeschlichen hatte, um das Brautgewand mit dem Reisekleid zu vertauschen. Sie stand in ihrem Maedchenstuebchen am offenen Fenster, und ihre Blicke schweiften ueber den bluehenden Garten, die gruenen Felder und den noch fruehlingsfrischen Wald, bis zu den fernen Huegeln, welche die scheidende Sonne vergoldete. Die abendliche Stille in der Natur nach den vielen Aufregungen des Tages tat ihr so wohl! Sie lehnte sich weit hinaus und sog in vollen Zuegen die erquickende Luft ein. Das unbeschreibliche Gefuehl der Seligkeit, des hoechsten Glueckes, welches ihr den heutigen Tag zu dem schoensten ihres Lebens machte, musste jetzt vor dem Gedanken an den Abschied zurueckweichen. Sie wusste ja, wie schwer dem Papa die Trennung falle, wie sich Frau Anne nach ihr sehnen wuerde. Mehrmals musste sie das Tuch an die Augen fuehren, um die hervorquellenden Traenen zu trocknen. Aber Leo sollte sie so nicht sehen, sie war ja gluecklich und folgte ihm gern. Das ernste, heilige Gefuehl, dass sie nun sein Weib sei, und, wie der gute alte Pastor gesagt hatte, "nur der Tod sie schiede", durchschauerte sie, die edelsten, besten Vorsaetze und Empfindungen gab ihr diese stille Stunde ein. Zwei Arme umschlangen sie ploetzlich, und sich umwendend sah sie in das Antlitz ihres Mannes. Er hob ihr Kinn in die Hoehe, und als er Traenen in ihren Augen schimmern sah, zog er sie fester an sich und strich ihr liebkosend ueber Haar und Wangen. Er war selbst so bewegt, dass er nicht sprechen konnte, aber die innige Umarmung, in der er sein junges Weib festhielt, sagte ihr mehr als Worte es vermocht haetten. "Wir muessen fort mein Lieb," brach Leo endlich das Schweigen, denn der Wagen war vorgefahren und die Braunen stampften ungeduldig die Erde. Jetzt drang auch Glaeserklingen und Stimmengewirr zu ihnen herauf, und die Musik fiel mit einem lauten Tusch ein. Gewiss feierte man nochmals das junge Paar und trank auf sein Wohl. Frau Anne kam leise herein und brachte Ilses Hut und Staubmantel. "Es ist alles fertig," sagte sie, "ihr muesst fort Kinder. Ich will es dem Papa sagen, nicht wahr?" Sie sprach anscheinend ruhig, aber ein leises Zittern in ihrer Stimme verriet doch ihre innere Erregung. Sie wollte hinausgehen, doch Ilse, hielt sie zurueck und umschlang ihren Hals. "Liebe, einzige Mama, habe fuer alles, alles Dank, und wenn ich dich oft kraenkte, verzeihe mir." "Aber liebes Kind," fiel Frau Anne ein, "alles ist vergessen, wir haben dich ja so lieb, du bist unsre gute Tochter. Nun darfst du dich aber nicht aufregen, du musst verstaendig sein, denn der Papa darf dich nicht so sehen, nicht wahr, liebes Herz?" "Komm Schatz, komm," draengte Leo, den ein verstaendnisvoller Blick von Frau Anne dazu trieb, den Abschied moeglichst zu verkuerzen. Sie liess die beiden allein und ging in den Saal zurueck, wo sie ihrem Mann verstohlen zufluesterte, dass der Wagen vor der Tuere stehe. Das heitere Laecheln verschwand von seinem Gesicht und er stand sofort auf. Das Koepfchen seiner Ilse mit dem grauen Reisehut nickte ihm schon aus dem Wagenfenster zu, als er aus der Haustuere trat. Er stieg zu ihr ein und hielt sein Kind lange in den Armen. Dabei presste er ihren Kopf fest an sein Herz, denn sie sollte die Traenen nicht sehen, die ihm ueber die Wangen rollten. Krischan, der in seiner neuen Livree steif und gerade auf dem Bock sass, sah mit ungeduldigen Blicken bald auf die Uhr, bald von seinem hohen Sitz herab auf den Wagenschlag, und schliesslich wandte er sich an Frau Macket mit den Worten: "Nu is es aber die hoechste Zeit, sonst verfehlt das Freilein und der junge Herr am Ende den Zug." Er konnte sich noch nicht entschliessen, von der "Frau Assessor" zu sprechen, fuer ihn war Ilse noch das "Freilein". Frau Macket zupfte ihren Mann am Aermel. "Sie muessen fort, lieber Richard," sagte sie leise. Er stieg aus, die Tuere flog zu, die Pferde zogen an, und der Wagen rollte auf der Dorfstrasse dahin, eine Staubwolke aufwirbelnd. Herr und Frau Macket waren aus der Pforte getreten und sahen ihm nach. Jetzt flatterte Ilses Taschentuch als Abschiedsgruss noch einmal aus dem Fenster, dann bog der Wagen um die Ecke und war den Blicken entschwunden. "Komm, lieber Mann, wir wollen wieder hineingehen," sagte Frau Anne. "Nun ist sie fort," sprach er halblaut, wie im Traume. "Sie ist gluecklich," gab Frau Anne zur Antwort. "Ja, sie ist gluecklich," wiederholte er leise und ein heller Freudenschein ueberflog sein von der Trennung schmerzlich bewegtes Antlitz. Arm in Arm gingen die beiden in das Haus zu ihren Gaesten zurueck. [Illustration] Die jungen Leserinnen, welche die Personen dieser Erzaehlung liebgewonnen haben, werden gerne erfahren, dass die Fortsetzung dieses Bandes unter dem Titel "Aus Trotzkopfs Ehe" in gleichen Verlag erschienen ist. BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. In Antiqua gesetzt sind in ihr einzelne Woerter aus fremden Sprachen, hier durch Unterstrich (_) gekennzeichnet. Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern: Seite 35: "gegegeben" geaendert in "gegeben" Seite 63: Punkt ergaenzt hinter "treuherzig" Seite 76: "elekrisiert" geaendert in "elektrisiert" Seite 81: Anfuehrungszeichen ergaenzt vor "Noch" Seite 82: "den e" geaendert in "denke" Seite 90: Anfuehrungszeichen ergaenzt vor "Uebrigens" Seite 139: "Sassuwisch" geaendert in "Sassuwitsch" Seite 149: "wiederspenstig" geaendert in "widerspenstig" Seite 171: Komma ergaenzt hinter "Ilse" Seite 174: Punkt in Komma geaendert hinter "Orla" Seite 182: "klingte" geaendert in "klinkte" Seite 196: Punkt ergaenzt hinter "kam" Seite 217: Anfuehrungszeichen ergaenzt vor "O"; "unverholen" geaendert in "unverhohlen" Seite 227: ueberfluessiger Trennstrich entfernt hinter "gleich" ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF'S BRAUTZEIT*** CREDITS August 28, 2011 Project Gutenberg TEI edition 1 Produced by Norbert H. Langkau and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net A WORD FROM PROJECT GUTENBERG This file should be named 37241.txt or 37241.zip. This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/dirs/3/7/2/4/37241/ Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works to protect the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. 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General Terms of Use & Redistributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. 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Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://www.pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. 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