The Project Gutenberg EBook of Der Untertan by Heinrich Mann This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at http://www.gutenberg.org/license Title: Der Untertan Author: Heinrich Mann Release Date: November 24, 2011 [Ebook #38126] Language: German Character set encoding: US-ASCII ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UNTERTAN*** Heinrich Mann Der Untertan Roman Kurt Wolff Verlag Leipzig-Wien Der Roman wurde abgeschlossen Anfang Juli 1914 Vierundfuenfzigstes bis zweiundachtzigstes Tausend Gedruckt in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig Copyright Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1918 I. Diederich Hessling war ein weiches Kind, das am liebsten traeumte, sich vor allem fuerchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verliess er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und ueber dessen Goldregen- und Fliederbaeumen das hoelzerne Fachwerk der alten Haeuser stand. Wenn Diederich vom Maerchenbuch, dem geliebten Maerchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kroete gesessen, halb so gross wie er selbst! Oder an der Mauer dort drueben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her! Fuerchterlicher als Gnom und Kroete war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drueckte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Hessling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Haende - worauf er weglief. Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstaette vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewusst: "Ich habe Pruegel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr waeret froh, wenn ihr auch Pruegel von ihm bekommen koenntet. Aber dafuer seid ihr viel zu wenig." Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha; drohte ihnen bald, es dem Vater zu melden, dass sie sich Bier holten, und bald liess er kokett aus sich die Stunde herausschmeicheln, zu der Herr Hessling zurueckkehren sollte. Sie waren auf der Hut vor dem Prinzipal: er kannte sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Buettenschoepfer gewesen in den alten Muehlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte dazwischen alle Kriege mitgemacht und nach dem letzten, als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen koennen. Ein Hollaender und eine Schneidemaschine vervollstaendigten die Einrichtung. Er selbst zaehlte die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Knoepfe durften ihm nicht entgehen. Sein kleiner Sohn liess sich oft von den Frauen welche zustecken, dafuer, dass er die nicht angab, die einige mitnahmen. Eines Tages hatte er so viele beisammen, dass ihm der Gedanke kam, sie beim Kraemer gegen Bonbons umzutauschen. Es gelang - aber am Abend kniete Diederich, indes er den letzten Malzzucker zerlutscht, sich ins Bett und betete, angstgeschuettelt, zu dem schrecklichen lieben Gott, er moege das Verbrechen unentdeckt lassen. Er brachte es dennoch an den Tag. Dem Vater, der immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, den Stock gefuehrt hatte, zuckte diesmal die Hand, und in die eine Buerste seines silberigen Kaiserbartes lief, ueber die Runzeln huepfend, eine Traene. "Mein Sohn hat gestohlen", sagte er ausser Atem, mit dumpfer Stimme, und sah sich das Kind an wie einen verdaechtigen Eindringling. "Du betruegst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Menschen totzuschlagen." Frau Hessling wollte Diederich noetigen, vor dem Vater hinzufallen und ihn um Verzeihung zu bitten, weil der Vater seinetwegen geweint habe! Aber Diederichs Instinkt sagte ihm, dass dies den Vater nur noch mehr erbost haben wuerde. Mit der gefuehlsseligen Art seiner Frau war Hessling durchaus nicht einverstanden. Sie verdarb das Kind fuers Leben. Uebrigens ertappte er sie geradeso auf Luegen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie Romane las! Am Sonnabendabend war nicht immer die Wochenarbeit getan, die ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu ruehren, mit dem Dienstmaedchen ... Und Hessling wusste noch nicht einmal, dass seine Frau auch naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen und schlich nachtraeglich an den Schrank. Haette sie sich in die Werkstatt getraut, wuerde sie auch Knoepfe gestohlen haben. Sie betete mit dem Kind "aus dem Herzen", nicht nach Formeln, und bekam dabei geroetete Wangenknochen. Sie schlug es auch, aber Hals ueber Kopf und verzerrt von Rachsucht. Oft war sie dabei im Unrecht. Dann drohte Diederich, sie beim Vater zu verklagen; tat so, als ginge er ins Kontor, und freute sich irgendwo hinter einer Mauer, dass sie nun Angst hatte. Ihre zaertlichen Stunden nuetzte er aus; aber er fuehlte gar keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre Aehnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafuer ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht haette bestehen koennen. Dennoch hatten die beiden von Gemuet ueberfliessende Daemmerstunden. Aus den Festen pressten sie gemeinsam vermittels Gesang, Klavierspiel und Maerchenerzaehlen den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, liess er sich von der Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fuehlte sich dadurch erleichtert, treu und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartnaeckig, und der Vater, der hiervon nichts hoeren wollte, schien zu stolz, beinahe strafwuerdig. Die Mutter naehrte ihn mit Maerchen. Sie teilte ihm ihre Angst mit vor den neuen, belebten Strassen und der Pferdebahn, die hindurchfuhr, und fuehrte ihn ueber den Wall nach der Burg. Dort genossen sie das wohlige Grausen. Ecke der Meisestrasse hinwieder musste man an einem Polizisten vorueber, der, wen er wollte, ins Gefaengnis abfuehren konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern haette er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann wuerde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, dass man sich rein und ohne Schuld fuehlte - und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr. Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Maerchenkroeten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schuetteln, wenn man schrie - nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, und auch die Antworten, die er wusste, konnte er nicht geben, weil er heulen musste. Allmaehlich lernte er den Drang zum Weinen gerade dann auszunutzen, wenn er nicht gelernt hatte - denn alle Angst machte ihn nicht fleissiger oder weniger traeumerisch - und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche ueblen Folgen. Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine ganze Achtung; er war ploetzlich still und sah ihn, ueber den gekruemmten und vors Gesicht gehaltenen Arm hinweg voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben und willfaehrig. Den gutmuetigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht ruehmte. Mit viel groesserer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den Zeugnissen, von einem riesigen Strafgericht. Bei Tisch berichtete er: "Heute hat Herr Behnke wieder drei durchgehauen." Und wenn gefragt ward, wen? "Einer war ich." Denn Diederich war so beschaffen, dass die Zugehoerigkeit zu seinem unpersoenlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglueckte, dass die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekraenzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock. Im Lauf der Jahre beruehrten zwei ueber Machthaber hereingebrochene Katastrophen ihn mit heiligem und suessem Schauder. Ein Hilfslehrer ward vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen. Ein Oberlehrer ward wahnsinnig. Noch hoehere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier graesslich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen. Die Macht, die ihn in ihrem Raederwerk hatte, vor seinen juengeren Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mussten nach seinem Diktat schreiben und kuenstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wueten und Strafen austeilen konnte. Sie waren grausam. Die Kleinen schrien - und dann war es an Diederich, sich zu demuetigen, um nicht verraten zu werden. Er hatte, den Machthabern nachzuahmen, keinen Menschen noetig; ihm genuegten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Hollaenders und sah die Trommel die Lumpen ausschlagen. "Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!" murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es. Ploetzlich duckte er sich; fast fiel er in das Chlorbad. Der Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgestoert aus seinem laesterlichen Genuss. Denn recht geheuer und seiner Sache gewiss fuehlte er sich nur, wenn er selbst die Pruegel bekam. Kaum je widerstand er dem Uebel. Hoechstens bat er den Kameraden: "Nicht auf den Ruecken, das ist ungesund." Nicht dass es ihm am Sinn fuer sein Recht und an Liebe zum eigenen Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafuer, dass Pruegel, die er bekam, dem Schlagenden keinen praktischen Gewinn, ihm selbst keinen reellen Verlust zufuegten. Ernster als diese bloss idealen Werte nahm er die Schaumrolle, die der Oberkellner vom "Netziger Hof" ihm schon laengst versprochen hatte und mit der er nie herausrueckte. Diederich machte unzaehlige Male ernsten Schrittes den Geschaeftsweg die Meisestrasse hinauf zum Markt, um seinen befrackten Freund zu mahnen. Als der aber eines Tages von seiner Verpflichtung ueberhaupt nichts mehr wissen wollte, erklaerte Diederich und stampfte ehrlich entruestet auf: "Jetzt wird mir's doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich herausruecken, sag' ich's Ihrem Herrn!" Darauf lachte Schorsch und brachte die Schaumrolle. Das war ein greifbarer Erfolg. Leider konnte Diederich ihn nur hastig und in Sorge geniessen, denn es war zu fuerchten, dass Wolfgang Buck, der draussen wartete, darueber zukam und den Anteil verlangte, der ihm versprochen war. Indes fand er Zeit, sich sauber den Mund zu wischen, und vor der Tuer brach er in heftige Schimpfreden auf Schorsch aus, der ein Schwindler sei und gar keine Schaumrolle habe. Diederichs Gerechtigkeitsgefuehl, das sich zu seinen Gunsten noch eben so kraeftig geaeussert hatte, schwieg vor den Anspruechen des anderen - die man freilich nicht einfach ausser acht lassen durfte, dafuer war Wolfgangs Vater eine viel zu achtunggebietende Persoenlichkeit. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen, sondern eine weissseidene Halsbinde und darueber einen grossen weissen Knebelbart. Wie langsam und majestaetisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Ueberzieher sahen haeufig Frackschoesse hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekuemmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefaengnis, von allem, was oeffentlich war, dachte Diederich: "Das gehoert dem Herrn Buck." Er musste ungeheuer reich und maechtig sein. Alle, auch Herr Hessling, entbloessten vor ihm lange den Kopf. Seinem Sohn mit Gewalt etwas abzunehmen, waere eine Tat voll unabsehbarer Gefahren gewesen. Um von den grossen Maechten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrueckt zu werden, musste Diederich leise und listig zu Werk gehen. Einmal nur, in Untertertia, geschah es, dass Diederich jede Ruecksicht vergass, sich blindlings betaetigte und zum siegestrunkenen Unterdruecker ward. Er hatte, wie es ueblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehaenselt, nun aber schritt er zu einer ungewoehnlichen Kundgebung. Aus Kloetzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drueckte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die ueberwaeltigende Mehrheit drinnen und draussen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fuehlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewusstsein, das kollektiv war! Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurueck; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich laechelte mit demuetigem Einverstaendnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besass. Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstellen behauptete er auch spaeter. Er war gut Freund mit allen, lachte, wenn sie ihre Streiche ausplauderten, ein ungetruebtes, aber herzliches Lachen, als ernster junger Mensch, der Nachsicht hat mit dem Leichtsinn - und dann in der Pause, wenn er dem Professor das Klassenbuch vorlegte, berichtete er. Auch hinterbrachte er die Spitznamen der Lehrer und die aufruehrerischen Reden, die gegen sie gefuehrt worden waren. In seiner Stimme bebte, nun er sie wiederholte, noch etwas von dem wolluestigen Erschrecken, womit er sie, hinter gesenkten Lidern, angehoert hatte. Denn er spuerte, ward irgendwie an den Herrschenden geruettelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung, etwas ganz unter sich Bewegendes, fast wie ein Hass, der zu seiner Saettigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige der anderen suehnte er die eigene suendhafte Regung. Andererseits empfand er gegen die Mitschueler, deren Fortkommen seine Taetigkeit in Frage stellte, zumeist keine persoenliche Abneigung. Er benahm sich als pflichtmaessiger Vollstrecker einer harten Notwendigkeit. Nachher konnte er zu dem Getroffenen hintreten und ihn, fast ganz aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefasst, der schon laengst verdaechtig war, alles abzuschreiben. Diederich ueberliess ihm, mit Wissen des Lehrers, eine mathematische Aufgabe, die in der Mitte absichtlich gefaelscht und deren Endergebnis dennoch richtig war. Am Abend nach dem Zusammenbruch des Betruegers sassen einige Primaner vor dem Tor in einer Gartenwirtschaft, was zum Schluss der Turnspiele erlaubt war, und sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als ausgetrunken war, liess er die Rechte vom Krug herab auf die des anderen gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Basstoenen, die von Gemuet schleppten, ganz allein an: "Ich hatt' einen Kameraden, Einen bessern findst du nit ..." Uebrigens genuegte er bei zunehmender Schulpraxis in allen Faechern, ohne in einem das Mass des Geforderten zu ueberschreiten, oder auf der Welt irgend etwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam. Der deutsche Aufsatz war ihm das Fremdeste, und wer sich darin auszeichnete, gab ihm ein ungeklaertes Misstrauen ein. Seit seiner Versetzung nach Prima galt seine Gymnasialkarriere fuer gesichert, und bei Lehrern und Vater drang der Gedanke durch, er solle studieren. Der alte Hessling, der 66 und 71 durch das Brandenburger Tor eingezogen war, schickte Diederich nach Berlin. Weil er sich aus der Naehe der Friedrichstrasse nicht fortgetraute, mietete er sein Zimmer droben in der Tieckstrasse. Jetzt hatte er nur in gerader Linie hinunterzugehen und konnte die Universitaet nicht verfehlen. Er besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, taeglich zweimal, und in der Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater und Mutter und dankte ihnen fuer seine glueckliche Kindheit. Ohne Not ging er nur selten aus. Kaum, dass er zu essen wagte; er fuerchtete, sein Geld vor dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort musste er nach der Tasche fassen, ob es noch da sei. So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem Brief des Vaters in die Bluecherstrasse zu Herrn Goeppel, dem Zellulosefabrikanten, der aus Netzig war und auch an Hessling lieferte. Am vierten Sonntag besiegte er seine Scheu - und kaum watschelte der gedrungene, geroetete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, dass er nicht frueher gekommen sei. Herr Goeppel fragte gleich nach ganz Netzig und vor allem nach dem alten Buck. Denn obwohl sein Kinnbart nun auch ergraut war, hatte er doch, wie Diederich, nur, wie es schien, aus anderen Gruenden, schon als Knabe den alten Buck verehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte, hoeher als gewisse Leute, die immer alles mit Blut und Eisen kurieren wollten und dafuer der Nation riesige Rechnungen schrieben. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar zum Tode verurteilt worden. "Ja, dass wir hier als freie Maenner sitzen koennen," sagte Herr Goeppel, "das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck." Und er oeffnete noch eine Flasche Bier. "Heute sollen wir uns mit Kuerassierstiefeln treten lassen ..." Herr Goeppel bekannte sich als freisinniger Gegner Bismarcks. Diederich bestaetigte alles, was Goeppel wollte; er hatte ueber den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung. Da aber ward er peinlich beruehrt, denn ein junges Maedchen war eingetreten, das ihm auf den ersten Blick durch Schoenheit und Eleganz gleich furchtbar erschien. "Meine Tochter Agnes", sagte Herr Goeppel. Diederich stand da, in seinem faltenreichen Gehrock, als magerer Kadett, und war rosig ueberzogen. Das junge Maedchen gab ihm die Hand. Sie wollte wohl nett sein, aber was war mit ihr anzufangen? Diederich antwortete ja, als sie fragte, ob Berlin ihm gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fuehlte sich feucht vor Ungemuetlichkeit und war fest ueberzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge Maedchen interessieren koenne. Aber wie war von hier fortzukommen? Zum Glueck stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch, namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme Mecklenburgisch sprach, _stud. ing._ zu sein schien und bei Goeppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fraeulein Agnes an einen Spaziergang, den sie verabredet haetten. Diederich ward aufgefordert, mitzukommen. Entsetzt schuetzte er einen Bekannten vor, der draussen auf ihn warte, und machte sich sofort davon. "Gott sei Dank," dachte er, waehrend es ihm einen Stich gab, "sie hat schon einen." Herr Goeppel oeffnete ihm im Dunkeln die Flurtuer und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. "Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewiss schon mal verirrt in Berlin." Und als Diederich es zugab, zeigte Herr Goeppel sich befriedigt. "Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen Sie gleich halbe Tage. Was glauben Sie wohl, wenn Sie von Ihrer Tieckstrasse bis hierher zum Halleschen Tor gehen, dann sind Sie ja schon dreimal durch ganz Netzig gestiegen ... Na, naechsten Sonntag kommen Sie nun aber zum Mittagessen!" Diederich versprach es. Als es so weit war, haette er lieber abgesagt; nur aus Furcht vor seinem Vater ging er hin. Diesmal galt es sogar ein Alleinsein mit dem Fraeulein zu bestehen. Diederich tat geschaeftig und als sei er nicht aufgelegt, sich mit ihr zu befassen. Sie wollte wieder vom Theater anfangen, aber er schnitt mit rauher Stimme ab: er habe fuer so etwas keine Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr gesagt, Herr Hessling studiere Chemie? "Ja. Das ist ueberhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat", behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam. Fraeulein Goeppel liess ihren Beutel fallen; er bueckte sich so nachlaessig, dass sie ihn wieder hatte, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast beschaemt - was Diederich aergerte. "Kokette Weiber sind etwas Graessliches", dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel. "Jetzt hab' ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster naemlich. Es blutet wieder." Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuch. Er hatte so sehr die Weisse des Schnees, dass Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, muesse hineinsickern. "Ich habe welches", sagte er, mit einem Ruck. Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt. "Was machen Sie denn?" Er war selbst erschrocken. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: "O, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen." Sie laechelte. "Ach ja, Sie sind eine Art Doktor ... Wie gut Sie das koennen", bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu. "So", machte er ablehnend, und trat zurueck. Ihm war es schwuel geworden, er dachte: "Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen muesste! Sie ist widerlich weich." Agnes sah an ihm vorbei. Nach einer Pause versuchte sie: "Haben wir nicht eigentlich in Netzig gemeinschaftliche Verwandte?" Und sie noetigte ihn, mit ihr ein paar Familien durchzugehen. Es stellte sich Vetternschaft heraus. "Sie haben auch noch Ihre Mutter, nicht? Dann koennen Sie sich freuen. Meine ist laengst tot. Ich werde wohl auch nicht lange leben. Man hat so Ahnungen" - und sie laechelte wehmuetig und entschuldigend. Diederich beschloss schweigend, diese Sentimentalitaet albern zu finden. Noch eine Pause - und wie sie beide eilig zum Sprechen ansetzten, kam der Mecklenburger dazwischen. Die Hand Diederichs drueckte er so kraftvoll, dass Diederichs Gesicht sich verzerrte, und zugleich laechelte er ihm sieghaft in die Augen. Ohne weiteres zog er einen Stuhl bis vor Agnes' Knie und fragte heiter und mit Autoritaet nach allem Moeglichen, was nur sie beide anging. Diederich war sich selbst ueberlassen und entdeckte, dass Agnes, so in Ruhe betrachtet, viel von ihren Schrecken verlor. Eigentlich war sie nicht huebsch. Sie hatte eine zu kleine, nach innen gebogene Nase, auf deren freilich sehr schmalem Ruecken Sommersprossen sassen. Ihre gelbbraunen Augen lagen zu nahe beieinander und zuckten, wenn sie einen ansah. Die Lippen waren zu schmal, das ganze Gesicht war zu schmal. "Wenn sie nicht so viel braunrotes Haar ueber der Stirn haette und dazu den weissen Teint ..." Auch bereitete es ihm Genugtuung, dass der Nagel des Fingers, den er beleckt hatte, nicht ganz sauber gewesen war. Herr Goeppel kam mit seinen drei Schwestern. Eine von ihnen hatte Mann und Kinder mit. Der Vater und die Tanten umarmten und kuessten Agnes. Sie taten es mit dringlicher Innigkeit und hatten dabei behutsame Mienen. Das junge Maedchen war schlanker und groesser als sie alle und blickte ein wenig zerstreut auf sie hinab, die eben an ihren schmaechtigen Schultern hing. Nur ihrem Vater erwiderte sie langsam und ernst seinen Kuss. Diederich sah dem zu und sah in der Sonne die hellblauen Adern, ueberzogen von roten Haaren, ihre Schlaefe kreuzen. Er musste eine der Tanten ins Esszimmer fuehren. Der Mecklenburger hatte Agnes' Arm in den seinen gehaengt. Um den langen Familientisch raschelten die seidenen Sonntagskleider. Die Gehroecke wurden ueber den Knien zusammengelegt. Man raeusperte sich, die Herren rieben die Haende. Dann kam die Suppe. Diederich sass von Agnes weit weg und konnte sie nicht sehen, wenn er sich nicht vorbeugte - was er sorgfaeltig vermied. Da seine Nachbarin ihn in Ruhe liess, ass er grosse Mengen Kalbsbraten und Blumenkohl. Er hoerte ausfuehrlich das Essen besprechen und musste bestaetigen, dass es schoen schmecke. Agnes ward vor dem Salat gewarnt, ihr ward zu Rotwein geraten, und sie sollte Auskunft geben, ob sie heute morgen Gummischuhe angehabt habe. Herr Goeppel erzaehlte, Diederich zugewandt, dass er und seine Schwestern vorhin in der Friedrichstrasse, weiss Gott, auseinander gekommen seien und sich erst im Omnibus wiedergefunden haetten. "So etwas kann Ihnen in Netzig auch nicht passieren", rief er voll Stolz ueber den Tisch. Mahlmann und Agnes sprachen von einem Konzert. Sie wollte bestimmt hin, ihr Papa werde es schon erlauben. Herr Goeppel machte zaertliche Einwaende, und der Chor der Tanten begleitete sie. Agnes muesse frueh schlafen gehen und bald in gute Luft hinaus; sie habe sich im Winter ueberanstrengt. Sie bestritt es. "Ihr lasst mich niemals aus dem Hause. Ihr seid schrecklich." Diederich nahm innerlich Partei fuer sie. Er hatte eine Wallung von Heldentum: er haette machen wollen, dass sie alles duerfte, dass sie gluecklich war und es ihm dankte ... Da fragte Herr Goeppel ihn, ob er in das Konzert wolle, "Ich weiss nicht", sagte er veraechtlich und sah Agnes an, die sich vorbeugte. "Was ist das fuer eins? Ich gehe nur in Konzerte, wo ich Bier trinken kann." "Sehr vernuenftig", sagte der Schwager des Herrn Goeppel. Agnes hatte sich zurueckgezogen und, Diederich bereute seinen Ausspruch. Aber die Creme, auf die alle gespannt waren, blieb aus. Herr Goeppel riet seiner Tochter, einmal nachzusehen. Bevor sie ihren Kompotteller hingesetzt hatte, war Diederich aufgesprungen - sein Stuhl flog an die Wand - und festen Schritts zur Tuer geeilt. "Marie! Der Krehm!" rief er hinaus. Rot und ohne jemand anzusehen, ging er wieder an seinen Platz. Aber er merkte ganz gut, sie blinzelten sich zu. Mahlmann stiess sogar hoehnisch den Atem aus. Der Schwager aeusserte mit kuenstlicher Harmlosigkeit: "Immer galant! So soll es sein." Herr Goeppel laechelte zaertlich zu Agnes hin, die nicht von ihrem Kompott aufsah. Diederich stemmte das Knie gegen die Tischplatte, dass sie anfing sich zu heben. Er dachte: "Gott, o Gott, haette ich nur das nicht getan!" Beim Mahlzeitsagen gab er allen die Hand, nur um Agnes drueckte er sich herum. Im Berliner Zimmer beim Kaffee waehlte er seinen Sitz mit Sorgfalt dort, wo Mahlmanns breiter Ruecken sie ihm verdeckte. Eine der Tanten wollte sich seiner annehmen. "Was studieren Sie denn, junger Mann?" fragte sie. "Chemie." "Ach so, Physik?" "Nein, Chemie." "Ach so." Und so imposant sie angefangen hatte, hierueber kam sie nicht hinweg. Diederich nannte sie im stillen eine dumme Gans. Die ganze Gesellschaft passte ihm nicht. Von feindseliger Schwermut erfuellt, sah er darein, bis die letzten Verwandten aufgebrochen waren. Agnes und ihr Vater hatten sie hinausbegleitet. Herr Goeppel kehrte zurueck, erstaunt, den jungen Mann allein noch im Zimmer zu finden. Er schwieg forschend, einmal fasste er in die Tasche. Als Diederich unvermittelt, ohne um Geld gebeten zu haben, Abschied nahm, bekundete Goeppel grosse Herzlichkeit. "Meine Tochter werd' ich von Ihnen gruessen", sagte er sogar, und an der Tuer, nachdem er ein wenig ueberlegt hatte: "Kommen Sie doch naechsten Sonntag wieder!" Diederich war fest entschlossen, das Haus nicht mehr zu betreten. Dennoch liess er tags darauf alles stehen und liegen, um sich durch die Stadt bis zu einem Geschaeft zu fragen, wo er fuer Agnes das Konzertbillett kaufen konnte. Vorher musste er auf den Zetteln, die dort hingen, den Namen des Virtuosen herausfinden, den Agnes erwaehnt hatte. War es der? Hatte er so geklungen? Diederich entschloss sich. Als er dann erfuhr, es koste vier Mark fuenfzig, riss er vor Schrecken die Augen weit auf. So viel Geld, um einen zu sehen, der Musik machte! Wenn man nur einfach wieder fortgekonnt haette! Als er bezahlt hatte und draussen war, entruestete er sich zunaechst ueber den Schwindel. Dann bedachte er, dass es fuer Agnes geschehen sei, und ward von sich selbst erschuettert. Immer weicher und gluecklicher ging er durch das Gewuehl. Es war das erste Geld, das er fuer einen anderen Menschen ausgegeben hatte. Er legte das Billett in einen Umschlag, in den er nichts weiter legte, und schrieb die Adresse, um sich nicht zu verraten, mit Schoenschrift. Wie er dann am Briefkasten stand, kam Mahlmann daher und lachte hoehnisch. Diederich fuehlte sich durchschaut; er besah die Hand, die er aus dem Kasten zurueckgezogen hatte. Aber Mahlmann bekundete nur die Absicht, sich Diederichs Bude anzusehen. Er fand, es saehe drinnen aus wie bei einer aelteren Dame. Sogar die Kaffeekanne hatte Diederich von zu Hause mitgebracht! Diederich schaemte sich heiss. Als Mahlmann die Chemiebuecher veraechtlich auf- und zuklappte, schaemte Diederich sich seines Faches. Der Mecklenburger waelzte sich ins Sofa und fragte: "Wie gefaellt Ihnen denn die Goeppel? Netter Kaefer, was? Nun wird er wieder rot! Poussieren Sie doch! Ich trete zurueck, wenn Sie Wert darauf legen. Ich habe Aussicht bei fuenfzehn verschiedenen." Da Diederich nachlaessig abwehrte: "Sie, da ist naemlich was zu machen. Ich muesste gar nichts von Weibern verstehen. Die roten Haare! - und haben Sie nicht gemerkt, wie sie einen ansieht, wenn sie meint, man weiss es nicht?" "Mich nicht", sagte Diederich noch geringschaetziger. "Ich pfeife auch darauf." "Ihr Schade!" Mahlmann lachte tobend - worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus ward eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas spaeter, in der Leipziger Strasse, bekam Diederich ohne Anlass von Mahlmann eine maechtige Ohrfeige. Er sagte: "Au! Das ist aber doch eine -" Vor dem Wort "Frechheit" schrak er zurueck. Der Mecklenburger klopfte ihm auf die Schulter. "Recht freundlich, Kleiner! Alles bloss Freundschaft!" - und ueberdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab ... Vier Tage spaeter fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, grossmuetig drei Mark mit. Am Sonntag bei Goeppels - mit weniger leerem Magen waere Diederich vielleicht nicht hingegangen - erzaehlte Mahlmann, dass Hessling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen muesse. Herr Goeppel und sein Schwager lachten verstaendnisvoll, aber Diederich haette lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig pruefend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifelt troestete er sich. "Es ist alles eins, sie hat es schon immer getan!" Da fragte sie, ob das Konzertbillett vielleicht von ihm gewesen sei. Alle wandten sich ihm zu. "Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen", entgegnete er so unliebenswuerdig, dass sie ihm glaubten. Agnes zoegerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinees an und stellte die uebrigen vor Agnes hin. Diederich kuemmerte sich nicht um sie. Er ass noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hiess, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredung. Er setzte sogar hinzu: "Mit jemand, den ich unmoeglich warten lassen kann." Herr Goeppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: "Keine Angst, Sie sind natuerlich eingeladen." Aber Diederich beteuerte entruestet, dass es nicht daran liege. "Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben", schloss Goeppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufriedener Trauer umher, wie nach Vollziehung eines grossen Opfers. Am Abend in einem ueberfuellten Bierlokal sass er den Kopf aufgestuetzt und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal. Was war zu machen gegen die gewalttaetige Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenburger einen Blumenstrauss fuer Agnes, und Diederich, der mit leeren Haenden kam, haette sagen koennen: "Der ist eigentlich von mir, Fraeulein." Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderung heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannten nachlief, um ihm den Zylinder einzuschlagen - obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang fuer ihn selbst enthielt. Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorhergesehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei Goeppels mit einem Bukett, keinem zu grossen, um sich nicht blosszustellen, und auch, um Mahlmann nicht herauszufordern. Das junge Maedchen hatte, wie sie es nahm, ein ergriffenes Gesicht, und Diederich laechelte herablassend und verlegen zugleich. Dieser Sonntag deuchte ihm unerhoert festlich; er war nicht ueberrascht, als man in den Zoologischen Garten gehen wollte. Die Gesellschaft rueckte aus, nachdem Mahlmann sie abgezaehlt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie Goeppels Schwestern, vollstaendig anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer hoeheren Klasse oder haetten geerbt. Die Maenner trugen Gehroecke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhueten. Kam man durch eine Seitenstrasse, war sie breit, gleichfoermig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfel. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner Maedchen in weissen Kleidern, schwarzen Struempfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreihen. Gleich darauf, in der Verkehrsader, stuermten schwitzende Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsichtlich mit ihnen um die Plaetze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen blass aus. Alles draengte vorwaerts, alles stuerzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnuegen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: "Nu los, gearbeitet haben wir genug!" Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehmen, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fuss trat. Der Herr schrie: "Flegel!" Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, dass Herr Goeppel ihn kannte, und kaum einander vorgestellt, bekundeten Diederich und der andere die ritterlichsten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen. Am Tisch im Zoologischen Garten geriet Diederich neben Agnes - warum ging heute alles gluecklich? -, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstuetzte er sie stuermisch. Er war voll Unternehmungslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierkaefigen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. "Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein", sagte Mahlmann. "Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte -" "Dann machen Sie sie auch nicht wieder fest", entgegnete Agnes und trat ein, waehrend Mahlmann sein Gelaechter aufschlug. Diederich blieb hinter ihr. Ihm war bange: vor den Bestien, die von rechts und links auf ihn zustuerzten, ohne anderen Laut als den des Atems, den sie ueber ihn hinstiessen - und vor dem jungen Maedchen, dessen Blumenduft ihm voranzog. Ganz hinten wandte sie sich um und sagte: "Ich mag das Renommieren nicht!" "Wirklich?" fragte Diederich, vor Freude geruehrt. "Heute sind Sie mal nett", sagte Agnes; und er: "Ich moechte es eigentlich immer sein." "Wirklich?" - Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge Maedchen sagte klagend: "Die Tiere riechen aber furchtbar." Und sie gingen zurueck. Mahlmann empfing sie. "Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausreissen wuerden." Dann nahm er Diederich beiseite. "Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich habe es gleich gesagt, dass es keine Kunst ist." Da Diederich stumm blieb: "Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was? Ich bin nur noch ein Semester in Berlin: dann koennen Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gefaelligst -" Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf ploetzlich tueckisch anzusehen. "- Freundchen!" Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes' Naehe. Sie hoerte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rueckwaerts: "Papa! Heute ist es schoen, heute geht es mir aber wirklich gut." Herr Goeppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden Haende und tat, als wollte er fest zudruecken, aber er beruehrte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelte er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erklaerte ihnen, der Tag muesse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlang gehen und nachher irgendwo essen. "Papa wird leichtsinnig!" rief Agnes und sah sich nach Diederich um. Aber er hielt die Augen gesenkt. In der Stadtbahn benahm er sich so ungeschickt, dass er weit von den anderen getrennt ward; und im Gedraenge der Friedrichsstadt blieb er mit Herrn Goeppel allein zurueck. Ploetzlich hielt Goeppel an, tastete verstoert auf seinem Magen umher und fragte: "Wo ist meine Uhr?" Sie war fort mitsamt der Kette. Mahlmann sagte: "Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr Goeppel?" "Jawohl!" - und Goeppel wendete sich an Diederich. "Dreissig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert." Und stolz trotz allem: "Sehen Sie, das gibt's in Netzig ueberhaupt nicht!" Nun musste man, statt zu essen, auf das Polizeirevier und ein Verhoer bestehen. Und Agnes hustete. Goeppel zuckte zusammen. "Wir waeren jetzt doch zu muede", murmelte er. Mit kuenstlicher Jovialitaet verabschiedete er Diederich, der Agnes' Hand uebersah und linkisch den Hut zog. Auf einmal, mit ueberraschender Geschicklichkeit und ehe Mahlmann begriff, was vorging, schwang er sich auf einen vorbeifahrenden Omnibus. Er war entkommen! Und jetzt fingen die Ferien an! Er war alles los! Zu Hause freilich warf er die schwersten seiner Chemiebaende mit Krachen auf den Boden. Er hielt sogar schon die Kaffeekanne in der Hand. Aber bei dem Geraeusch einer Tuer begann er sofort, alles wieder aufzulesen. Dann setzte er sich still in die Sofaecke, stuetzte den Kopf und weinte. Waere es nicht vorher so schoen gewesen! Er war ihr auf den Leim gegangen. So machten es die Maedchen: dass sie manchmal mit einem so taten, und dabei wollten sie einen nur mit einem Kerl auslachen. Diederich war sich tief bewusst, dass er es mit so einem Kerl nicht aufnehmen koenne. Er sah sich neben Mahlmann und wuerde es nicht begriffen haben, haette eine sich fuer ihn entschieden. "Was hab' ich mir nur eingebildet?" dachte er. "Eine, die sich in mich verliebt, muss wirklich dumm sein." Er litt grosse Angst, der Mecklenburger koenne kommen und ihn noch aerger bedrohen. "Ich will sie gar nicht mehr. Waere ich nur schon fort!" Die naechsten Tage sass er in toedlicher Spannung bei verschlossener Tuer. Kaum war sein Geld da, reiste er. Seine Mutter fragte, befremdet und eifersuechtig, was er habe. Nach so kurzer Zeit sei er kein Junge mehr. "Ja, das Berliner Pflaster!" Diederich griff zu, als sie verlangte, er solle an eine kleine Universitaet, nicht wieder nach Berlin. Der Vater fand, dass es ein Fuer und ein Wider gaebe. Diederich musste ihm viel von Goeppels berichten. Ob er die Fabrik gesehen habe. Und war er bei den anderen Geschaeftsfreunden gewesen? Herr Hessling wuenschte, dass Diederich die Ferien benutze, um in der vaeterlichen Werkstaette den Gang der Papierverfertigung kennenzulernen. "Ich bin nicht mehr der Juengste, und mein Granatsplitter hat mich auch schon lange nicht so gekitzelt." Diederich entwischte, sobald er konnte, um im Wald von Gaebbelchen oder laengs des Ruggebaches bei Gohse spazierenzugehen und sich mit der Natur eins zu fuehlen. Denn das konnte er jetzt. Zum erstenmal fiel es ihm auf, dass die Huegel dahinten traurig oder wie eine grosse Sehnsucht aussahen, und was als Sonne oder Regen vom Himmel fiel, waren Diederichs heisse Liebe und seine Traenen. Denn er weinte viel. Er versuchte sogar zu dichten. Als er einmal die Loewenapotheke betrat, stand hinter dem Ladentisch sein Schulkamerad Gottlieb Hornung. "Ja, ich spiel' hier den Sommer ueber 'n bisschen Apotheker", erklaerte er. Er hatte sich sogar schon aus Versehen vergiftet und sich dabei nach hinten zusammengerollt wie ein Aal. Die ganze Stadt hatte davon gesprochen! Aber zum Herbst ging er nun nach Berlin, um die Sache wissenschaftlich anzufassen. Ob denn in Berlin was los sei. Hocherfreut ueber den Besitz seiner Ueberlegenheit fing Diederich an, mit seinen Berliner Erlebnissen zu prahlen. Der Apotheker verhiess: "Wir beide zusammen stellen Berlin auf den Kopf." Und Diederich war schwach genug, zuzusagen. Die kleine Universitaet ward verworfen. Am Ende des Sommers - Hornung hatte noch einige Tage zu praktizieren - kehrte Diederich nach Berlin zurueck. Er mied das Zimmer in der Tieckstrasse. Vor Mahlmann und den Goeppels fluechtete er bis nach Gesundbrunnen hinaus. Dort wartete er auf Hornung. Aber Hornung, der seine Abreise gemeldet hatte, blieb aus; und als er endlich kam, trug er eine gruengelbrote Muetze. Er war sofort von einem Kollegen fuer eine Verbindung gekeilt worden. Auch Diederich sollte ihr beitreten; es waren die Neuteutonen, eine hochfeine Korporation, sagte Hornung; allein sechs Pharmazeuten waren dabei. Diederich verbarg seinen Schrecken unter der Maske der Geringschaetzung, aber es half nichts. Er solle Hornung nicht blamieren, der von ihm gesprochen habe; einen Besuch wenigstens muesse er machen. "Aber nur einen", sagte er fest. Der eine dauerte, bis Diederich unter dem Tisch lag und sie ihn fortschafften. Als er ausgeschlafen hatte, holten sie ihn zum Fruehschoppen; Diederich war Konkneipant geworden. Und fuer diesen Posten fuehlte er sich bestimmt. Er sah sich in einen grossen Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat oder etwas anderes von ihm verlangte, als dass er trinke. Voll Dankbarkeit und Wohlwollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrinken, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt in Frieden. Als Diederich beim Salamander zum ersten Male nicht nachklappte, laechelte er in die Runde, beinahe verschaemt durch die eigene Vollkommenheit! Und das war noch nichts gegen seine Sicherheit im Gesang! Diederich hatte in der Schule zu den besten Saengern gehoert und schon in seinem ersten Liederheft die Seitenzahlen auswendig gewusst, wo jedes Lied zu finden war. Jetzt brauchte er in das Kommersbuch, das auf grossen Naegeln in der Lache von Bier lag, nur den Finger zu schieben, und traf vor allen anderen die Nummer, die gesungen werden sollte. Oft hing er den ganzen Abend mit Ehrerbietung am Munde des Praeses: ob vielleicht sein Lieblingsstueck daran kaeme. Dann droehnte er tapfer: "Sie wissen den Teufel, was Freiheit heisst", hoerte neben sich den dicken Delitzsch brummen und fuehlte sich wohlig geborgen in dem Halbdunkel des niedrigen altdeutschen Lokals, mit den Muetzen an der Wand, angesichts des Kranzes geoeffneter Muender, die alle dasselbe tranken und sangen, bei dem Geruch des Bieres und der Koerper, die es in der Waerme wieder ausschwitzten. Ihm war, wenn es spaet ward, als schwitze er mit ihnen allen aus demselben Koerper. Er war untergegangen in der Korporation, die fuer ihn dachte und wollte. Und er war ein Mann, durfte sich selbst hochachten und hatte eine Ehre, weil er dazu gehoerte! Ihn herausreissen, ihm einzeln etwas anhaben, das konnte keiner! Mahlmann haette sich einmal herwagen und es versuchen sollen: zwanzig Mann waeren statt Diederichs gegen ihn aufgestanden! Diederich wuenschte ihn geradezu herbei, so furchtlos war er. Womoeglich sollte er mit Goeppel kommen, dann mochten sie sehen, was aus Diederich geworden war, dann war er geraecht! Gleichwohl gab ihm die meiste Sympathie der Harmloseste von allen ein, sein Nachbar, der dicke Delitzsch. Etwas tief Beruhigendes, Vertrauengestattendes wohnte in dieser glatten, weissen und humorvollen Speckmasse, die unten breit ueber die Stuhlraender quoll, in mehreren Wuelsten die Tischhoehe erreichte und dort, als sei nun das Aeusserste getan, aufgestuetzt blieb, ohne eine andere Bewegung als das Heben und Hinstellen des Bierglases. Delitzsch war, wie niemand sonst, an seinem Platz; wer ihn dasitzen sah, vergass, dass er ihn je auf den Beinen erblickt hatte. Er war ausschliesslich zum Sitzen am Biertisch eingerichtet. Sein Hosenboden, der in jedem anderen Zustand tief und melancholisch herabhing, fand nun seine wahre Gestalt und blaehte sich machtvoll. Erst mit Delitzsch' hinterem Gesicht bluehte auch sein vorderes auf. Lebensfreude ueberglaenzte es, und er ward witzig. Ein Drama entstand, wenn ein junger Fuchs sich den Scherz machte, ihm das Bierglas wegzunehmen. Delitzsch ruehrte kein Glied, aber seine Miene, die dem geraubten Glase ueberall hin folgte, enthielt ploetzlich den ganzen, stuermisch bewegten Ernst des Daseins, und er rief in saechsischem Schreitenor: "Junge, dass du mir nischt verschuettest! Was entziehst de mir ueberhaupt mein' Laebensunterhalt! Das ist 'ne ganz gemeine, boeswilliche Existenzschaedichung, und ich kann dich glatt verklaachen!" Dauerte der Spass zu lange, senkten sich Delitzsch' weisse Fettwangen, und er bat, er machte sich klein. Sobald er aber das Bier zurueck hatte: welche allumfassende Aussoehnung in seinem Laecheln, welche Verklaerung! Er sagte: "Du bist doch ae gutes Luder, du sollst laem, prost!" - trank aus und klopfte mit dem Deckel nach dem Korpsdiener: "Herr Oberkoerper!" Nach einigen Stunden geschah es wohl, dass sein Stuhl sich mit ihm umdrehte und Delitzsch den Kopf ueber das Becken der Wasserleitung hielt. Das Wasser plaetscherte, Delitzsch gurgelte erstickt, und ein paar andere stuerzten, durch seine Laute angeregt, in die Toilette. Noch ein wenig sauer von Gesicht, aber schon mit frischer Schelmerei, rueckte Delitzsch an den Tisch zurueck. "Na, nu geht's ja wieder", sagte er; und: "Wovon habt 'r denn geredt, waehrend ich anderweitig beschaeftigt war? Wisst ihr denn egal nischt wie Weibergeschichten? Was koof' ich mir fuer die Weiber?" Immer lauter: "Nich mal ae sauern Schoppen kann 'ch mir dafuer koofen. Sie, Herr Oberkoerper!" Diederich gab ihm recht. Er hatte die Weiber kennengelernt, er war mit ihnen fertig. Unvergleichlich idealere Werte enthielt das Bier. Das Bier! Der Alkohol! Da sass man und konnte immer noch mehr davon haben, das Bier war nicht wie kokette Weiber, sondern treu und gemuetlich. Beim Bier brauchte man nicht zu handeln, nichts zu wollen und zu erreichen, wie bei den Weibern. Alles kam von selbst. Man schluckte: und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fuehlte sich auf die Hoehen des Lebens befoerdert und war ein freier Mann, innerlich frei. Das Lokal haette von Polizisten umstellt sein duerfen: das Bier, das man schluckte, verwandelte sich in innere Freiheit. Und man hatte sein Examen so gut wie bestanden. Man war "fertig", war Doktor! Man fuellte im buergerlichen Leben eine Stellung aus, war reich und von Wichtigkeit: Chef einer maechtigen Fabrik von Ansichtskarten oder Toilettenpapier. Was man mit seiner Lebensarbeit schuf, war in tausend Haenden. Man breitete sich, vom Biertisch her, ueber die Welt aus, ahnte grosse Zusammenhaenge, ward eins mit dem Weltgeist. Ja, das Bier erhob einen so sehr ueber das Selbst, dass man Gott fand! Gern haette er es jahrelang so weitergetrieben. Aber die Neuteutonen liessen ihn nicht. Fast vom ersten Tage an hatten sie ihm den moralischen und materiellen Wert einer voelligen Zugehoerigkeit zur Verbindung geschildert; allmaehlich aber gingen sie immer unverbluemter darauf aus, ihn zu keilen. Vergebens berief sich Diederich auf seine anerkannte Stellung als Konkneipant, in die er sich eingelebt habe und die ihn befriedige. Sie entgegneten, dass der Zweck des studentischen Zusammenschlusses, naemlich die Erziehung zur Mannhaftigkeit und zum Idealismus, durch das Kneipen allein, soviel es auch beitrage, noch nicht ganz erfuellt werde. Diederich zitterte; nur zu gut erkannte er, worauf dieses hinauslief. Er sollte pauken! Schon immer hatte es ihn unheimlich angeweht, wenn sie mit ihren Stoecken in der Luft ihm die Schlaege vorgefuehrt hatten, die sie einander beigebracht haben wollten; oder wenn einer von ihnen eine schwarze Muetze um den Kopf hatte und nach Jodoform roch. Jetzt dachte er gepresst: "Warum bin ich dabei geblieben und Konkneipant geworden! Nun muss ich 'ran." Er musste. Aber gleich die ersten Erfahrungen beruhigten ihn. Er war so sorgsam eingewickelt, behelmt und bebrillt worden, dass ihm unmoeglich viel geschehen konnte. Da er keinen Grund hatte, den Kommandos nicht gerade so willig und gelehrig nachzukommen wie in der Kneipe, lernte er fechten, schneller als andere. Beim ersten Durchzieher ward ihm schwach: ueber die Wange fuehlte er es rinnen. Als er dann genaeht war, haette er am liebsten getanzt vor Glueck. Er warf es sich vor, dass er diesen gutmuetigen Menschen gefaehrliche Absichten zugetraut hatte. Gerade der, den er am meisten gefuerchtet hatte, nahm ihn unter seinen Schutz und ward ihm ein wohlgesinnter Erzieher. Wiebel war Jurist, was ihm allein schon Diederichs Unterordnung gesichert haette. Nicht ohne Selbstzerknirschung sah er die englischen Stoffe an, in die Wiebel sich kleidete, und die farbigen Hemden, von denen er immer mehrere abwechselnd trug, bis sie alle in die Waesche mussten. Das Beklemmendste aber waren Wiebels Manieren. Wenn er mit leichter eleganter Verbeugung Diederich zutrank, klappte Diederich - und seine Miene war leidend vor Anstrengung - tief zusammen, verschuettete die eine Haelfte und verschluckte sich mit der anderen. Wiebel sprach mit leiser, arroganter Feudalstimme. "Man kann sagen, was man will," bemerkte er gern, "Formen sind kein leerer Wahn." Fuer das F in "Formen" machte er seinen Mund zu einem kleinen schwarzen Mausloch und stiess es langsam geschwellt heraus. Diederich unterlag jedesmal wieder dem Schauer von so viel Vornehmheit. Alles an Wiebel duenkte ihm erlesen: dass die roetlichen Barthaare ganz oben auf der Lippe wuchsen und seine langen, gekruemmten Naegel nach unten gekruemmt, nicht, wie bei Diederich, nach oben; der starke maennliche Duft, der von Wiebel ausging, auch seine abstehenden Ohren, die die Wirkung des durchgezogenen Scheitels erhoehten, und die katerhaft in Schlaefenwulste gebetteten Augen. Diederich hatte das alles immer nur im unbedingten Gefuehl des eigenen Unwertes mit angesehen. Seit aber Wiebel ihn anredete und sich sogar zu seinem Goenner machte, war es Diederich, als sei ihm erst jetzt das Recht auf Dasein bestaetigt. Er hatte Lust, dankbar zu wedeln. Sein Herz weitete sich vor gluecklicher Bewunderung. Wenn seine Wuensche sich so hoch hinausgewagt haetten, auch er haette gern solchen roten Hals gehabt und immer geschwitzt. Welch ein Traum, saeuseln zu koennen wie Wiebel! Und nun durfte Diederich ihm dienen, er war sein Leibfuchs! Stets wohnte er Wiebels Erwachen bei, suchte ihm seine Sachen zusammen - und da Wiebel infolge unregelmaessiger Bezahlung mit der Wirtin schlecht stand, besorgte Diederich ihm den Kaffee und reinigte ihm die Schuhe. Dafuer durfte er mitgehen auf allen Wegen. Wenn Wiebel ein Beduerfnis verrichtete, hielt Diederich draussen Wache, und er wuenschte sich nur, seinen Schlaeger da zu haben, um ihn schultern zu koennen. Wiebel haette es verdient. Die Ehre der Korporation, in der auch Diederichs Ehre und sein ganzes Schuldbewusstsein wurzelten, am glaenzendsten vertrat Wiebel sie. Er schlug sich, mit wem man wollte, fuer die Neuteutonia. Er hatte das Ansehen der Verbindung erhoeht, denn er sollte einst einen Vindoborussen koramiert haben! Auch hatte er einen Verwandten beim Zweiten Garde-Grenadierregiment Kaiser Franz Joseph; und so oft Wiebel seinen Vetter von Klappke erwaehnte, machte die ganze Neuteutonia eine geschmeichelte Verbeugung. Diederich suchte sich einen Wiebel in der Uniform eines Gardeoffiziers vorzustellen; aber so viel Vornehmheit war nicht auszudenken. Eines Tages dann, wie er mit Gottlieb Hornung, weithin duftend, vom taeglichen Frisieren kam, stand an einer Strassenecke Wiebel mit einem Zahlmeister. Kein Irrtum: es war ein Zahlmeister - und als Wiebel ihr Kommen bemerkte, drehte er ihnen den Ruecken. Auch sie wendeten und machten sich stumm und stramm davon, ohne einander anzusehen und ohne eine Bemerkung. Jeder vermutete, dass auch der andere die Aehnlichkeit des Zahlmeisters mit Wiebel festgestellt habe. Und vielleicht kannten die uebrigen schon laengst den wahren Sachverhalt? Aber allen stand die Ehre der Neuteutonia hoch genug, um zu schweigen, ja, um das Erblickte zu vergessen. Als Wiebel das naechste Mal "mein Vetter von Klappke" sagte, verbeugten Diederich und Hornung sich mit den anderen, geschmeichelt wie je. Schon hatte Diederich Selbstbeherrschung gelernt, Beobachtung der Formen, Korpsgeist, Eifer fuer das Hoehere. Nur mit Mitleid und Widerwillen dachte er an das elende Dasein des schweifenden Wilden, das frueher das seine gewesen war. Jetzt war Ordnung und Pflicht in sein Leben gebracht. Zu genau eingehaltenen Stunden erschien er auf Wiebels Bude, im Fechtsaal, beim Friseur und zum Fruehschoppen. Der Nachmittagsbummel leitete zur Kneipe ueber; und jeder Schritt geschah in Korporation, unter Aufsicht und mit Wahrung peinlicher Formen und gegenseitiger Ehrerbietung, die gemuetvolle Derbheit nicht ausschloss. Ein Kommilitone, mit dem Diederich bisher nur offiziellen Verkehr unterhalten hatte, stiess einst mit ihm vor der Toilette zusammen, und obwohl sie beide kaum noch gerade stehen konnten, wollte keiner den Vortritt annehmen. Lange komplimentierten sie sich - bis sie ploetzlich, im gleichen Augenblick vom Drang ueberwaeltigt, wie zwei zusammenprallende Eber durch die Tuer brachen, dass ihnen die Schulterknochen knackten. Das war der Beginn einer Freundschaft. In menschlicher Lage einander naeher gekommen, rueckten sie nachher auch am offiziellen Kneiptisch zusammen, tranken Schmollis und nannten sich "Schweinehund" und "Nilpferd". Nicht immer zeigte das Verbindungsleben seine heitere Seite. Es forderte Opfer; es uebte im maennlichen Ertragen des Schmerzes. Delitzsch selbst, der Quell so mancher Heiterkeit, verbreitete Trauer in der Neuteutonia. Eines Vormittags, wie Wiebel und Diederich ihn abzuholen kamen: er stand am Waschtisch und sagte noch: "Na da. Habt 'r heit aach so ae Durscht?" - ploetzlich, ehe sie zugreifen konnten, fiel er hin, mitsamt dem Waschgeschirr. Wiebel befuehlte ihn: Delitzsch regte sich nicht mehr. "Herzklaps", sagte Wiebel kurz. Er ging stramm zur Klingel. Diederich hob die Scherben auf und trocknete den Boden. Dann trugen sie Delitzsch auf das Bett. Dem formlosen Gejammer der Wirtin gegenueber verharrten beide in streng kommentmaessiger Haltung. Unterwegs zur Erledigung des weiteren - sie marschierten im Takt nebeneinander - sagte Wiebel mit straffer Todesverachtung: "So was kann jedem von uns passieren. Kneipen ist kein Spass. Das kann sich jeder gesagt sein lassen." Und mit allen anderen fuehlte Diederich sich gehoben durch Delitzsch' treue Pflichterfuellung, durch seinen Tod auf dem Felde der Ehre. Mit Stolz folgten sie dem Sarge; "Neuteutonia sei's Panier", stand in jeder Miene. Auf dem Friedhof, die umflorten Schlaeger gesenkt, hatten alle das in sich vertiefte Gesicht des Kriegers, den die naechste Schlacht dahinraffen kann, wie die vorigen den Kameraden; und was der erste Chargierte von dem Geschiedenen ruehmte: er habe in der Schule der Mannhaftigkeit und des Idealismus den hoechsten Preis errungen, das erschuetterte jeden, als gaelte es ihm selbst. Hiermit ging Diederichs Lehrzeit zu Ende, denn Wiebel trat aus, um sich auf den Referendar vorzubereiten; und fortan hatte Diederich die von ihm uebernommenen Grundsaetze selbstaendig zu vertreten und sie den Juengeren einzupflanzen. Er tat es im Gefuehl hoher Verantwortlichkeit und mit Strenge. Wehe dem Fuchs, der es verdient hatte, in die Kanne zu steigen. Keine fuenf Minuten vergingen, und er musste sich an den Waenden hinaustasten. Das Schreckliche geschah, dass einer vor Diederich aus der Tuer ging. Seine Busse waren acht Tage Bierverschiss. Nicht Stolz oder Eigenliebe leiteten Diederich: einzig sein hoher Begriff von der Ehre der Korporation. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; jedes Recht, sein ganzes Ansehen und Gewicht kamen ihm von ihr. Auch koerperlich verdankte er ihr alles: die Breite seines weissen Gesichts, seinen Bauch, der ihn den Fuechsen ehrwuerdig machte, und das Privileg, bei festlichen Anlaessen in hohen Stiefeln mit Band und Muetze aufzutreten, den Genuss der Uniform! Wohl hatte er noch immer einem Leutnant Platz zu machen, denn die Koerperschaft, der der Leutnant angehoerte, war offenbar die hoehere; aber wenigstens mit einem Trambahnschaffner konnte er furchtlos verkehren, ohne Gefahr, von ihm angeschnauzt zu werden. Seine Maennlichkeit stand ihm mit Schmissen, die das Kinn spalteten, rissig durch die Wangen fuhren und in den kurz geschorenen Schaedel hackten, drohend auf dem Gesicht geschrieben - und welche Genugtuung, sie taeglich und nach Belieben einem jeden beweisen zu koennen! Einmal bot sich eine unerwartet glaenzende Gelegenheit. Zu dritt, mit Gottlieb Hornung und dem Dienstmaedchen ihrer Wirtin, waren sie beim Tanz in Halensee. Seit einigen Monaten teilten die Freunde sich eine Wohnung, mit der ein ziemlich huebsches Dienstmaedchen verbunden war, machten ihr beide kleine Geschenke und gingen des Sonntags gemeinsam mit ihr aus. Ob Hornung es so weit bei ihr gebracht hatte wie er selbst, darueber hatte Diederich seine privaten Vermutungen. Offiziell und von Verbindungs wegen war es ihm unbekannt. Rosa war nicht uebel angezogen, auf dem Ball fand sie Bewerber. Damit Diederich noch eine Polka bekam, war er genoetigt, sie daran zu erinnern, dass er ihr die Handschuhe gekauft habe. Schon machte er zur Einleitung des Tanzes seine korrekte Verbeugung, da draengte sich unversehens ein anderer dazwischen und polkte mit Rosa von dannen. Betreten sah Diederich ihnen nach, im dunklen Gefuehl, dass er hier werde einschreiten muessen. Bevor er sich aber regte, war ein Maedchen durch die tanzenden Paare gestuerzt, hatte Rosa geohrfeigt und sie in unzarter Weise von ihrem Partner getrennt. Dies sehen und auf Rosas Raeuber losmarschieren, war fuer Diederich eins. "Mein Herr," sagte er und sah ihm fest in die Augen, "Ihr Benehmen ist unqualifizierbar." Der andere erwiderte: "Wennschon." Ueberrascht von dieser ungewoehnlichen Wendung eines offiziellen Gespraechs, stammelte Diederich: "Knote." Der andere erwiderte prompt: "Schote" - und lachte dabei. Durch so viel Formlosigkeit vollends aus der Fassung gebracht, wollte Diederich sich schon verbeugen und abtreten; aber der andere stiess ihn ploetzlich vor den Bauch - und gleich darauf waelzten sie sich zusammen am Boden. Umringt von Gekreisch und anfeuernden Zurufen kaempften sie, bis man sie trennte. Gottlieb Hornung, der Diederichs Klemmer suchen half, rief: "Da reisst er aus" - und war schon hinterher. Diederich folgte. Sie sahen den anderen mit einem Begleiter gerade noch in eine Droschke steigen und nahmen die naechste. Hornung behauptete, die Verbindung duerfe das nicht auf sich sitzen lassen. "So was kneift und bekuemmert sich nicht mal mehr um die Dame." Diederich erklaerte: "Was Rosa betrifft, die ist fuer mich erledigt." "Fuer mich auch." Die Fahrt war aufregend. "Ob wir nachkommen? Wir haben einen lahmen Gaul." "Wenn der Prolet nun nicht satisfaktionsfaehig ist?" Man entschied: "Dann hat die Sache offiziell nicht stattgefunden." Der erste Wagen hielt im Westen vor einem anstaendigen Haus. Diederich und Hornung trafen ein, wie das Tor zugeschlagen ward. Entschlossen postierten sie sich davor. Es ward kuehl, sie marschierten hin und her vor dem Hause, zwanzig Schritte nach links, zwanzig Schritte nach rechts, behielten immer die Tuer im Auge und wiederholten immer dieselben ernsten und weittragenden Reden. Nur Pistolen kamen hier in Frage! Diesmal war die Ehre der Neuteutonia teuer zu bezahlen! Wenn es nur kein Prolet war! Endlich kam der Portier zum Vorschein, und sie nahmen ihn ins Verhoer. Sie suchten ihm die Herren zu beschreiben, fanden aber, dass die beiden keine besonderen Kennzeichen hatten. Hornung, noch leidenschaftlicher als Diederich, blieb dabei, dass man warten muesse, und noch zwei Stunden lang marschierten sie hin und her, dann bogen aus dem Hause zwei Offiziere. Diederich und Hornung rissen die Augen auf, ungewiss, ob hier nicht ein Irrtum vorlag. Die Offiziere stutzten. Einer schien sogar zu erbleichen. Da entschloss Diederich sich. Er trat vor den Erbleichten hin. "Mein Herr -" Die Stimme versagte ihm. Der Leutnant sagte, verlegen: "Sie irren sich wohl." Diederich brachte hervor: "Durchaus nicht. Ich muss Genugtuung fordern. Sie haben sich -" "Ich kenne Sie ja gar nicht", stammelte der Leutnant. Aber sein Kamerad fluesterte ihm etwas zu: "So geht das nicht" - er liess sich von dem anderen die Karte geben, legte seine eigene dazu und ueberreichte sie Diederich. Diederich gab die seine her; dann las er: "Albrecht Graf Tauern-Baerenheim". Da nahm er sich nicht mehr die Zeit, auch die andere zu lesen, sondern begann kleine, eifrige Verbeugungen zu vollfuehren. Der zweite Offizier wandte sich inzwischen an Gottlieb Hornung. "Mein Freund hat den Scherz natuerlich ganz harmlos gemeint. Er waere selbstverstaendlich zu jeder Genugtuung bereit; ich will nur feststellen, dass eine beleidigende Absicht nicht vorliegt." Der andere, den er dabei ansah, hob die Schultern. Diederich stammelte: "O danke sehr." "Damit ist die Sache wohl erledigt", sagte der Freund; und die beiden Herren entfernten sich. Diederich stand noch da, die Stirn feucht und mit befangenen Sinnen. Ploetzlich seufzte er tief auf und laechelte langsam. Nachher auf der Kneipe war die Rede nur von diesem Vorfall. Diederich ruehmte den Kommilitonen das wahrhaft ritterliche Verhalten des Grafen. "Ein wirklicher Edelmann verleugnet sich doch nie." Er machte den Mund klein wie ein Mausloch und stiess in langsamer Schwellung die Worte hervor: "F - formen sind doch kein leerer Wahn." Immer wieder rief er Gottlieb Hornung als Zeugen seines grossen Augenblickes auf. "So gar nichts Steifes, wie? Oh! Auf einen doch immerhin gewagten Scherz kommt es solchem Herrn nicht an. Eine Haltung dabei: t-hadellos, kann ich euch sagen. Die Erklaerungen Seiner Erlaucht waren so durchaus befriedigend, dass ich meinerseits unmoeglich -: Ihr begreift, man ist kein Rauhbein." Alle begriffen es und bestaetigten Diederich, dass die Neuteutonia in dieser Sache durchaus anstaendig abgeschnitten habe. Die Karten der beiden Edelleute wurden bei den Fuechsen umhergereicht und zwischen den gekreuzten Schlaegern am Kaiserbild befestigt. Kein Neuteutone, der sich heute nicht betrank. Damit endete das Semester; aber Diederich und Hornung hatten fuer die Heimreise kein Geld. Das Geld fehlte ihnen schon laengst fuer fast alles. Mit Ruecksicht auf die Pflichten des Verbindungslebens war Diederichs Wechsel auf zweihundertfuenfzig Mark erhoeht worden; und doch uebermannten ihn die Schulden. Alle Quellen schienen ausgepumpt, nur duerres Land sah man, verschmachtend, sich dahindehnen - und endlich musste man wohl, so wenig dies Rittern angestanden haette, ueber die Zurueckforderung dessen beraten, was sie selbst im Lauf der Zeiten an Kommilitonen verliehen hatten. Gewiss war mancher alte Herr inzwischen zu grossen Geldern gelangt. Hornung fand keinen; Diederich verfiel auf Mahlmann. "Bei dem geht es", erklaerte er. "Der war bei gar keiner Verbindung: ein ganz gemeiner Ruppsack. Dem werd' ich mal auf die Bude steigen." Aber als Mahlmann ihn erblickte, brach er ohne weiteres in sein riesenhaftes Lachen aus, dass Diederich fast vergessen hatte und das ihn sofort unwiderstehlich herabstimmte. Mahlmann war taktlos! Er haette doch fuehlen sollen, dass hier in seinem Patentbureau mit Diederich die ganze Neuteutonia moralisch zugegen war, und haette Diederich um ihretwillen Achtung erweisen sollen. Diederich hatte den Eindruck, als sei er aus der kraftspendenden Gesamtheit jaeh herausgerissen und stehe hier als einzelner Mensch vor einem anderen. Eine nicht vorhergesehene, unliebsame Lage! Um so unbefangener trug er seine Sache vor. Oh! Er wolle kein Geld zurueck, das wuerde er einem Kameraden niemals zugemutet haben! Mahlmann moege nur so gefaellig sein, ihm fuer einen Wechsel zu buergen. Mahlmann lehnte sich in seinen Schreibsessel zurueck und sagte breit und selbstverstaendlich: "Nein." Diederich, betroffen: "Wieso, nein?" "Buergen ist gegen meine Prinzipien", erklaerte Mahlmann. Diederich erroetete vor Entruestung. "Aber ich habe doch auch fuer Sie gebuergt, und dann ist der Wechsel an mich gekommen, und ich musste fuer Sie hundert Mark blechen. Sie haben sich gehuetet!" "Sehen Sie wohl? Und wenn ich jetzt fuer Sie buergen wollte, wuerden Sie auch nicht bezahlen." Diederich riss nur noch die Augen auf. "Nein, Freundchen," schloss Mahlmann; "wenn ich Selbstmord begehen will, brauch' ich Sie nicht dazu." Diederich fasste sich, er sagte herausfordernd: "Sie haben wohl keinen Komment, mein Herr." "Nein", wiederholte Mahlmann und lachte ungeheuerlich. Mit aeusserstem Nachdruck stellte Diederich fest: "Dann scheinen Sie ueberhaupt ein Schwindler zu sein. Es soll ja gewisse Patentschwindler geben." Mahlmann lachte nicht mehr; die Augen in seinem kleinen Kopf waren tueckisch geworden, und er stand auf. "Nun muessen Sie 'rausgehen", sagte er, ohne Erregung. "Unter uns waere es wohl Wurst, aber nebenan sitzen meine Angestellten, die duerfen so was nicht hoeren." Er packte Diederich an den Schultern, drehte ihn herum und schob ihn vor sich her. Fuer jeden Versuch, sich loszumachen, bekam Diederich einen maechtigen Knuff. "Ich fordere Genugtuung", schrie er, "Sie muessen sich mit mir schlagen!" "Ich bin schon dabei. Merken Sie es nicht? Dann will ich noch einen rufen." Er oeffnete die Tuer. "Friedrich!" Und Diederich ward einem Packer ueberliefert, der ihn die Treppe hinabbefoerderte. Mahlmann rief ihm nach: "Nichts fuer ungut, Freundchen. Wenn Sie ein andermal was auf dem Herzen haben, kommen Sie ruhig wieder!" Diederich brachte sich in Ordnung und verliess das Haus in guter Haltung. Um so schlimmer fuer Mahlmann, wenn er sich so auffuehrte! Diederich hatte sich nichts vorzuwerfen; vor einem Ehrengericht waere er glaenzend dagestanden. Etwas hoechst Anstoessiges blieb es, dass ein einzelner sich so viel erlauben konnte; Diederich war gekraenkt im Namen saemtlicher Korporationen. Andererseits war es nicht zu leugnen, dass Mahlmann Diederichs alte Hochachtung wieder betraechtlich aufgefrischt hatte. "Ein ganz gemeiner Hund", dachte Diederich. "Aber so muss man sein ..." Zu Hause lag ein eingeschriebener Brief. "Nun koennen wir fortmachen", sagte Hornung. "Wieso wir? Ich brauch' mein Geld selbst." "Du machst wohl Spass. Ich kann hier doch nicht allein sitzenbleiben." "Dann such' dir Gesellschaft!" Diederich schlug ein solches Gelaechter auf, dass Hornung ihn fuer verrueckt hielt. Darauf reiste er wirklich. Unterwegs sah er erst, dass der Brief von seiner Mutter adressiert war. Das war ungewoehnlich ... Seit ihrer letzten Karte, sagte sie, sei es mit seinem Vater noch viel schlimmer geworden. Warum Diederich nicht gekommen sei. "Wir muessen uns auf das Entsetzlichste gefasst machen. Wenn Du unseren innigst geliebten Papa noch einmal sehen willst, o dann saeume nicht laenger, mein Sohn!" Bei dieser Ausdrucksweise ward es Diederich ungemuetlich. Er entschloss sich, seiner Mutter einfach nicht zu glauben. "Weibern glaub' ich ueberhaupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht richtig." Trotzdem tat Herr Hessling bei Diederichs Ankunft gerade die letzten Atemzuege. Von dem Anblick ueberwaeltigt, brach Diederich gleich auf der Schwelle in ein ganz formloses Geheul aus. Er stolperte zum Bett, sein Gesicht war im Augenblick nass wie beim Waschen; und mit den Armen tat er lauter kurze Fluegelschlaege und liess sie machtlos gegen die Hueften klappen. Ploetzlich erkannte er auf der Decke des Vaters rechte Hand, kniete hin und kuesste sie. Frau Hessling, ganz still und klein selbst noch bei den letzten Atemzuegen ihres Herrn, tat drueben dasselbe mit der linken. Diederich dachte daran, wie dieser verkuemmerte schwarze Fingernagel auf seine Wange zugeflogen war, wenn der Vater ihn ohrfeigte; und er weinte laut. Die Pruegel gar, als er von den Lumpen die Knoepfe gestohlen hatte! Diese Hand war schrecklich gewesen; Diederichs Herz krampfte sich, nun er sie verlieren sollte. Er fuehlte, dass seine Mutter das gleiche im Sinn hatte, und sie ahnte seine Gedanken. Auf einmal sanken sie einander, ueber das Bett hinweg, in die Arme. Bei den Kondolenzbesuchen hatte Diederich sich zurueck. Er vertrat vor ganz Netzig, stramm und formensicher, die Neuteutonia, sah sich angestaunt und vergass darueber fast, dass er trauerte. Dem alten Herrn Buck ging er bis zur aeusseren Tuer entgegen. Die Beleibtheit des grossen Mannes von Netzig ward majestaetisch in seinem glaenzenden Gehrock. Wuerdevoll trug der den umgewendeten Zylinderhut vor sich her; und die andere, vom schwarzen Handschuh entbloesste Hand, die er Diederich reichte, fuehlte sich ueberraschend zartfleischig an. Seine blauen Augen drangen warm in Diederich ein, und er sagte: "Ihr Vater war ein guter Buerger. Junger Mann, werden Sie auch einer! Haben Sie immer Achtung vor den Rechten Ihrer Mitmenschen! Das gebietet Ihnen Ihre eigene Menschenwuerde. Ich hoffe, wir werden hier in unserer Stadt noch zusammen fuer das Gemeinwohl arbeiten. Sie werden jetzt wohl fertig studieren?" Diederich konnte kaum das Ja herausbringen, so sehr verstoerte ihn die Ehrfurcht. Der alte Buck fragte in leichterem Ton: "Hat mein Juengster Sie in Berlin schon aufgesucht? Nein? O, das soll er tun. Er studiert jetzt auch dort. Wird aber wohl bald sein Jahr abdienen. Haben Sie das schon hinter sich?" "Nein" - und Diederich ward sehr rot. Er stammelte Entschuldigungen. Es sei ihm bisher ganz unmoeglich gewesen, das Studium zu unterbrechen. Aber der alte Buck zuckte die Achseln, als sei der Gegenstand unerheblich. Durch das Testament des Vaters war Diederich neben dem alten Buchhalter Soetbier zum Vormund seiner beiden Schwestern bestimmt. Soetbier belehrte ihn, dass ein Kapital von siebzigtausend Mark da sei, das als Mitgift der Maedchen dienen solle. Nicht einmal die Zinsen durften angegriffen werden. Der Reingewinn aus der Fabrik hatte in den letzten Jahren durchschnittlich neuntausend Mark betragen. "Mehr nicht?" fragte Diederich. Soetbier sah ihn an, zuerst entsetzt, dann vorwurfsvoll. Wenn der junge Herr sich vorstellen koennte, wie sein seliger Vater und Soetbier das Geschaeft heraufgearbeitet haetten! Gewiss war es ja noch ausdehnungsfaehig ... "Na, is jut", sagte Diederich. Er sah, dass hier vieles geaendert werden muesse. Von einem Viertel von neuntausend Mark sollte er leben? Diese Zumutung des Verstorbenen empoerte ihn. Als seine Mutter behauptete, der Selige habe auf dem Sterbebette die Zuversicht geaeussert, in seinem Sohn Diederich werde er fortleben, und Diederich werde sich niemals verheiraten, um immer fuer die Seinen zu sorgen, da brach Diederich aus. "Vater war nicht so krankhaft sentimental wie du," schrie er, "und er log auch nicht." Frau Hessling glaubte den Seligen zu hoeren und duckte sich. Dies benutzte Diederich, um seinen Monatswechsel um fuenfzig Mark erhoehen zu lassen. "Zunaechst", sagte er rauh, "hab' ich mein Jahr abzudienen. Das kostet, was es kostet. Mit euren kleinlichen Geldgeschichten koennt ihr mir spaeter kommen." Er bestand sogar darauf, in Berlin einzutreten. Der Tod des Vaters hatte ihm wilde Freiheitsgefuehle gegeben. Nachts freilich traeumte er, der alte Herr trete aus dem Kontor, mit dem ergrauten Gesicht, das er als Leiche gehabt hatte - und schwitzend erwachte Diederich. Er reiste, versehen mit dem Segen der Mutter. Gottlieb Hornung und ihre gemeinsame Rosa konnte er fortan nicht brauchen und zog um. Den Neuteutonen zeigte er in angemessener Form seine veraenderten Lebensumstaende an. Die Burschenherrlichkeit war vorueber. Der Abschiedskommers! Trauersalamander wurden gerieben, die fuer Diederichs alten Herrn bestimmt waren, aber die auch ihm und seiner schoensten Bluetezeit gelten konnten. Vor lauter Hingabe gelangte er unter den Tisch, wie am Abend seiner Aufnahme als Konkneipant; und war nun alter Herr. Arg verkatert stand er tags darauf, inmitten anderer jungen Leute, die alle, wie er selbst, ganz nackt ausgezogen waren, vor dem Stabsarzt. Dieser Herr sah angewidert ueber all das maennliche Fleisch hin, das ihm unterbreitet war; an Diederichs Bauch aber ward sein Blick hoehnisch. Sofort grinsten alle ringsum, und Diederich blieb nichts uebrig, als auch seinerseits die Augen auf seinen Bauch zu senken, der erroetet war ... Der Stabsarzt hatte seinen vollen Ernst zurueck. Einem, der nicht so scharf hoerte, wie es Vorschrift war, erging es schlecht, denn man kannte die Simulanten! Ein anderer, der noch dazu Levysohn hiess, bekam die Lehre: "Wenn Sie mich wieder mal hier belaestigen, dann waschen Sie sich wenigstens!" Bei Diederich hiess es: "Ihnen wollen wir das Fett schon wegkurieren. Vier Wochen Dienst, und ich garantiere Ihnen, dass Sie aussehen wie ein Christenmensch." Damit war er angenommen. Die Ausgemusterten fuhren so schnell in ihre Kleider, als brennte die Kaserne. Die fuer tauglich Befundenen sahen einander pruefend von der Seite an und entfernten sich zaudernd, als erwarteten sie, dass eine schwere Hand sich ihnen auf die Schultern lege. Einer, ein Schauspieler mit einem Gesicht, als sei ihm alles eins, kehrte um, stellte sich nochmals vor den Stabsarzt hin und sagte laut, mit sorgfaeltiger Aussprache: "Ich moechte noch hinzufuegen, dass ich homosexuell bin." Der Stabsarzt wich zurueck, er war ganz rot. Stimmlos sagte er: "Solche Schweine koennen wir allerdings nicht brauchen." Diederich drueckte den kuenftigen Kameraden seine Entruestung aus ueber ein so schamloses Verfahren. Dann sprach er noch den Unteroffizier an, der vorher an der Wand seine Koerperlaenge gemessen hatte, und beteuerte ihm, dass er froh sei. Trotzdem schrieb er nach Netzig an den praktischen Arzt Dr. Heuteufel, der ihn als Jungen im Hals gepinselt hatte: ob der Doktor ihm nicht bescheinigen wolle, dass er skrofuloes und rachitisch sei. Er koenne sich doch nicht ruinieren lassen mit der Schinderei. Aber die Antwort lautete, er solle nur nicht kneifen, das Dienen werde ihm trefflich bekommen. So gab Diederich denn sein Zimmer wieder auf und fuhr mit seinem Handkoffer in die Kaserne. Wenn man schon vierzehn Tage dort wohnen musste, konnte man so lange die Miete sparen. Sofort ging es mit Reckturnen, Springen und anderen atemraubenden Dingen an. Kompagnieweise ward man in den Korridoren, die "Rayons" hiessen, "abgerichtet". Leutnant von Kullerow trug eine unbeteiligte Hochnaesigkeit zur Schau, die Einjaehrigen betrachtete er nie anders als mit einem zugekniffenen Auge. Ploetzlich schrie er: "Abrichter!" und gab den Unteroffizieren eine Instruktion, worauf er sich verachtungsvoll abwandte. Beim Exerzieren im Kasernenhof, beim Gliederbilden, Sichzerstreuen und Platzwechseln ward weiter nichts beabsichtigt, als die "Kerls" umherzuhetzen. Ja, Diederich fuehlte wohl, dass alles hier, die Behandlung, die gelaeufigen Ausdruecke, die ganze militaerische Taetigkeit vor allem darauf hinzielte, die persoenliche Wuerde auf ein Mindestmass herabzusetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie selbstmoerderische Begeisterung. Prinzip und Ideal war ersichtlich das gleiche wie bei den Neuteutonen, nur ward es grausamer durchgefuehrt. Die Pausen der Gemuetlichkeit, in denen man sich seines Menschentums erinnern durfte, fielen fort. Jaeh und unabaenderlich sank man zur Laus herab, zum Bestandteil, zum Rohstoff, an dem ein unermesslicher Wille knetete. Wahnsinn und Verderben waere es gewesen, auch nur im geheimsten Herzen sich aufzulehnen. Hoechstens konnte man, gegen die eigene Ueberzeugung, sich manchmal druecken. Diederich war beim Laufen gefallen, der Fuss tat ihm weh. Nicht, dass er gerade haette hinken muessen, aber er hinkte und durfte, wie die Kompagnie "ins Gelaende" marschierte, zurueckbleiben. Um dies zu erreichen, war er zunaechst an den Hauptmann selbst herangetreten. "Herr Hauptmann, bitte -" Welche Katastrophe! Er hatte in seiner Ahnungslosigkeit vorwitzig das Wort an eine Macht gerichtet, von der man stumm und auf den Knien des Geistes Befehle entgegenzunehmen hatte! Der man sich nur "vorfuehren" lassen konnte! Der Hauptmann donnerte, dass die Unteroffiziere zusammenliefen, mit Mienen, in denen das Entsetzen vor einer Laesterung stand. Die Folge war, dass Diederich staerker hinkte und einen Tag laenger vom Dienst befreit werden musste. Unteroffizier Vanselow, der fuer die Untat seines Einjaehrigen verantwortlich war, sagte zu Diederich nur: "Das will ein gebildeter Mensch sein!" Er war es gewohnt, dass alles Unheil von den Einjaehrigen kam. Vanselow schlief in ihrem Mannschaftszimmer hinter einem Verschlag. Nach dem Lichtloeschen zoteten sie, bis der Unteroffizier empoert dazwischenschrie: "Das wollen gebildete Leute sein!" Trotz seiner langen Erfahrung erwartete er immer noch von den Einjaehrigen mehr Geist und gute Haltung als von den anderen Leuten und war immer neu enttaeuscht. In Diederich sah er keineswegs den Schlimmsten. Das Bier, das einer zahlte, entschied nicht allein ueber Vanselows Meinung. Noch mehr sah Vanselow auf den soldatischen Geist freudiger Unterwerfung, und den hatte Diederich. In der Instruktionsstunde konnte man ihn den anderen als Muster vorhalten. Diederich zeigte sich ganz erfuellt von den militaerischen Idealen der Tapferkeit und der Ehrliebe. Was die Abzeichen und die Rangordnung betraf, so schien der Sinn dafuer ihm angeboren. Vanselow sagte: "Jetzt bin ich der Herr Kommandierende General", und auf der Stelle benahm Diederich sich, als glaubte er es. Wenn es aber hiess: "Jetzt bin ich ein Mitglied der koeniglichen Familie", dann war Diederichs Verhalten so, dass es dem Unteroffizier ein Laecheln des Groessenwahns abnoetigte. Im Privatgespraech in der Kantine eroeffnete Diederich seinem Vorgesetzten, dass er vom Soldatenleben begeistert sei. "Das Aufgehen im grossen Ganzen!" sagte er. Er wuensche sich nichts auf der Welt, als ganz dabei zu bleiben. Und er war aufrichtig - was aber nicht hinderte, dass er am Nachmittag, bei den Uebungen "im Gelaende", keinen anderen Wunsch mehr kannte, als sich in den Graben zu legen und nicht mehr vorhanden zu sein. Die Uniform, die ohnedies, aus Ruecksichten der Strammheit, zu eng geschnitten war, ward nach dem Essen zum Marterwerkzeug. Was half es, dass der Hauptmann, bei seinen Kommandos, sich unsaeglich kuehn und kriegerisch auf dem Pferd herumsetzte, wenn man selbst, rennend und schnaufend, die Suppe unverdaut im Magen schlenkern fuehlte. Die sachliche Begeisterung, zu der Diederich voellig bereit war, musste zuruecktreten hinter der persoenlichen Not. Der Fuss schmerzte wieder; und Diederich lauschte auf den Schmerz, in der angstvollen, mit Selbstverachtung verbundenen Hoffnung, es moechte schlimmer werden, so schlimm, dass er nicht wieder "ins Gelaende" hinaus musste, dass er vielleicht nicht einmal mehr im Kasernenhof ueben konnte und dass man genoetigt war, ihn zu entlassen! Es kam dahin, dass er am Sonntag den alten Herrn eines Korpsbruders aufsuchte, der Geheimer Sanitaetsrat war. Er muesse ihn um seinen Beistand bitten, sagte Diederich, rot vor Scham. Er sei begeistert fuer die Armee, fuer das grosse Ganze und waere am liebsten ganz dabei geblieben. Man sei da in einem grossartigen Betrieb, ein Teil der Macht sozusagen und wisse immer, was man zu tun habe: das sei ein herrliches Gefuehl. Aber der Fuss tue nun einmal weh. "Man darf es doch nicht so weit kommen lassen, dass er unbrauchbar wird. Schliesslich habe ich Mutter und Geschwister zu ernaehren." Der Geheimrat untersuchte ihn. "Neuteutonia sei's Panier", sagte er. "Ich kenne zufaellig Ihren Oberstabsarzt." Hiervon war Diederich durch seinen Korpsbruder unterrichtet. Er empfahl sich, voll banger Hoffnung. Die Hoffnung bewirkte, dass er am naechsten Morgen kaum noch auftreten konnte. Er meldete sich krank. "Wer sind Sie, was belaestigen Sie mich?" - und der Stabsarzt mass ihn. "Sie sehen aus wie das Leben, Ihr Bauch ist auch schon kleiner." Aber Diederich stand stramm und blieb krank; der Vorgesetzte musste sich zu einer Untersuchung herbeilassen. Als er den Fuss zu Gesicht bekam, erklaerte er, wenn er sich nicht eine Zigarre anzuende, werde ihm unwohl werden. Trotzdem war nichts zu finden an dem Fuss. Der Stabsarzt stiess ihn entruestet vom Stuhl. "Macht Dienst, Schluss, abtreten" - und Diederich war erledigt. Mitten im Exerzieren aber schrie er ploetzlich auf und fiel um. Er ward ins "Revier" gebracht, den Aufenthalt der Leichterkrankten, wo es nach Volk roch und nichts zu essen gab. Denn die Selbstbekoestigung, die den Einjaehrigen zustand, war hier nur schwer zu bewerkstelligen, und von den Rationen der anderen bekam er nichts. Vor Hunger meldete er sich gesund. Abgeschnitten von menschlichem Schutz, von allen sittlichen Rechten der buergerlichen Welt, trug er sein duesteres Geschick; eines Morgens aber, als alle Hoffnung schon dahin war, holte man ihn vom Exerzieren weg auf das Zimmer des Oberstabsarztes. Dieser hohe Vorgesetzte wuenschte ihn zu untersuchen. Er hatte einen verlegen menschlichen Ton und schlug dann wieder in militaerische Schroffheit um, die gleichfalls nicht unbefangen wirkte. Auch er schien nichts Rechtes zu finden, das Ergebnis seines Eingreifens aber klang trotzdem anders. Diederich sollte nur "vorlaeufig" weiter Dienst machen, das weitere werde sich schon ergeben. "Bei _dem Fuss_ ..." Einige Tage spaeter trat ein "Revier"gehilfe an Diederich heran und fertigte auf geschwaerztem Papier einen Abdruck des verhaengnisvollen Fusses. Diederich ward genoetigt, im Revierzimmer zu warten. Der Stabsarzt ging eben umher und nahm Gelegenheit, ihm seine volle Verachtung auszudruecken. "Nicht mal Plattfuss! Stinkt vor Faulheit!" Da aber ward die Tuer aufgestossen, und der Oberstabsarzt, die Muetze auf dem Kopf, hielt seinen Einzug. Sein Schritt war fester und zielbewusster als sonst, er sah nicht rechts noch links, wortlos stellte er sich vor seinem Untergebenen auf, den Blick finster und streng auf dessen Muetze. Der Stabsarzt stutzte, er musste sich in eine Lage finden, die ersichtlich die gewohnte Kollegialitaet nicht mehr zuliess. Nun hatte er sie erfasst, nahm die Muetze herunter und stand stramm. Darauf zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fuss, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt blinzelte abwechselnd den Vorgesetzten, Diederich und das Papier an. Dann zog er die Absaetze zusammen: er hatte das Befohlene gesehen. Als der Oberstabsarzt fort war, naeherte der Stabsarzt sich Diederich. Hoeflich, mit einem leisen Laecheln des Einverstaendnisses, sagte er: "Der Fall war natuerlich von Anfang an klar. Man musste nur der Leute wegen -. Sie verstehen, die Disziplin -." Diederich bekundete durch Strammstehen, dass er alles verstehe. "Aber", wiederholte der Stabsarzt, "ich habe natuerlich gewusst, wie Ihr Fall lag." Diederich dachte: "Wenn du es nicht gewusst hast, jetzt weisst du es." Laut sagte er: "Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen duerfen?" "Dafuer kann ich Ihnen nicht garantieren", sagte der Stabsarzt und machte kehrt. Von schwerem Dienst war Diederich fortan befreit, das "Gelaende" sah ihn nicht mehr. Um so williger und freudiger war sein Verhalten in der Kaserne. Wenn des Abends beim Appell der Hauptmann, die Zigarre im Munde und leicht angetrunken, aus dem Kasino kam, um fuer Stiefel, die nicht geschmiert, sondern gewichst waren, Mittelarrest zu verhaengen: an Diederich fand er nichts auszusetzen. Um so unerbittlicher uebte er seine gerechte Strenge an einem Einjaehrigen, der nun schon im dritten Monat strafweise im Mannschaftszimmer schlafen musste, weil er einst, waehrend der ersten vierzehn Tage, nicht dort, sondern zu Hause geschlafen hatte. Er hatte damals vierzig Grad Fieber gehabt und waere, wenn er seine Pflicht getan haette, vielleicht gestorben. Dann waere er eben gestorben! Der Hauptmann hatte, sooft er diesen Einjaehrigen ansah, ein Gesicht voll stolzer Genugtuung. Diederich dahinten, klein und unversehrt, dachte: "Siehst du wohl? Die Neuteutonia und ein Geheimer Sanitaetsrat sind mehr wert als vierzig Grad Fieber ..." Was Diederich betraf, so waren die amtlichen Formalitaeten eines Tages gluecklich erfuellt, und der Unteroffizier Vanselow verkuendete ihm seine Entlassung. Diederich hatte sofort die Augen voll Traenen; er drueckte Vanselow warm die Hand. "Gerade muss mir das passieren, und ich hatte doch" - er schluchzte - "so viel Freudigkeit." Und dann war er "draussen". Vier Wochen lang blieb er zu Hause und bueffelte. Wenn er zum Essen ging, sah er sich um, ob ein Bekannter ihn bemerkte. Endlich musste er sich den Neuteutonen wohl zeigen. Er trat herausfordernd auf. "Wer von euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem anderen Standpunkt. Ich waere ueberhaupt dabei geblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir, ich sei hervorragend qualifiziert. Na und da -" Er starrte schmerzlich vor sich hin. "Das Unglueck mit dem Gaul. Das kommt davon, wenn man ein zu guter Soldat ist. Der Hauptmann laesst einen in seinem Dogcart fahren, damit der Gaul mal bewegt wird, und da ist das Unglueck passiert. Natuerlich habe ich den Fuss nicht geschont und zu frueh wieder Dienst gemacht. Die Sache verschlimmerte sich erheblich, der Stabsarzt gab mir anheim, fuer jede Eventualitaet meine Angehoerigen zu benachrichtigen." Dies sagte er knapp und maennlich. "Da haettet ihr nun den Hauptmann sehen sollen. Taeglich kam er selbst, nach den groessten Maerschen, mit bestaubter Uniform, wie er war. So was gibt es auch nur beim Militaer. Wir sind in den boesen Tagen wahre Kameraden geworden. Hier die Zigarre ist noch von ihm. Und als er mir dann eingestehen musste, der Stabsarzt wolle mich fortschicken, ich kann euch versichern, das war einer der Augenblicke im Leben, die man nicht vergisst. Der Hauptmann und ich, wir kriegten beide gleichzeitig feuchte Augen." Alle waren erschuettert. Diederich sah tapfer um sich. "Na, jetzt soll man sich also wieder in das buergerliche Leben hineinfinden. Prost." Er bueffelte weiter; und am Sonnabend kneipte er mit den Neuteutonen. Auch Wiebel erschien wieder. Er war Assessor, auf dem Wege zum Staatsanwalt und sprach nur noch von "subversiven Tendenzen", "Vaterlandsfeinden" und auch vom "christlich-sozialen Gedanken". Er erklaerte den Fuechsen, es sei an der Zeit, sich mit Politik zu beschaeftigen. Er wisse wohl, dass es nicht fuer vornehm gelte, aber die Gegner zwaengen einen dazu. Hochfeudale Herren, wie sein Freund, der Assessor von Barnim, seien in der Bewegung. Herr von Barnim werde demnaechst den Neuteutonen die Ehre geben. Er kam, und er gewann alle Herzen, denn er benahm sich wie gleich zu gleich. Er hatte dunkles, glatt gescheiteltes Haar, das Wesen eines pflichteifrigen Beamten, sprach sachlich - aber am Schluss seines Vortrages bekam er Schwaermeraugen und verabschiedete sich rasch, mit warmen Haendedruecken. Die Neuteutonen stimmten nach seinem Besuch alle darin ueberein, dass der juedische Liberalismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie sei und dass die christlichen Deutschen sich um den Hofprediger Stoecker zu scharen haetten. Diederich verband, wie die anderen, mit dem Wort "Vorfrucht" keinen deutlichen Sinn und verstand unter "Sozialdemokratie" nur eine allgemeine Teilerei. Das genuegte ihm auch. Aber Herr von Barnim hatte jeden, der naehere Aufklaerung wuenschte, zu sich eingeladen, und Diederich wuerde es sich nicht verziehen haben, wenn er eine so schmeichelhafte Gelegenheit versaeumt haette. In seiner kalten, altmodischen Junggesellenwohnung hielt Herr von Barnim ihm ein Privatissimum. Sein politisches Ziel war eine staendische Volksvertretung, wie im gluecklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche, Gewerbetreibende, Handwerker. Das Handwerk musste, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die Hoehe kommen, wie vor dem Dreissigjaehrigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht und Sittlichkeit zu pflegen. Diederich aeusserte sein waermstes Einverstaendnis. Es entsprach seinen Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht persoenlich, sondern korporativ im Leben Fuss zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordneter der Papierbranche. Die juedischen Mitbuerger freilich schloss Herr von Barnim von seiner Ordnung der Dinge aus; waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Aufloesung, des Durcheinanderwerfens, der Respektlosigkeit: das Prinzip des Boesen selbst. Sein frommes Gesicht zog sich zusammen vom Hass, und Diederich fuehlte ihn mit. "Schliesslich", meinte er, "haben wir doch die Gewalt und koennen sie hinauswerfen. Das deutsche Heer -" "Das ist es eben", stiess Herr von Barnim aus, der durch das Zimmer lief. "Haben wir darum den ruhmreichen Krieg gefuehrt, dass mein vaeterliches Gut an einen Herrn Frankfurter verkauft wird?" Waehrend Diederich noch erschuettert schwieg, klingelte es, und Herr von Barnim sagte: "Es ist mein Barbier, den will ich mir auch mal vornehmen." Er bemerkte Diederichs Enttaeuschung und setzte hinzu: "Natuerlich rede ich mit solch einem Manne anders. Aber jeder von uns muss an seinem Teil der Sozialdemokratie Abbruch tun und die kleinen Leute in das Lager unseres christlichen Kaisers hinueberziehen. Tun auch Sie das Ihre!" Damit war Diederich entlassen. Er hoerte den Barbier noch sagen: "Schon wieder ein alter Kunde, Herr Assessor, der zu Liebling hinuebergeht, bloss weil Liebling jetzt Marmor hat." Wiebel sagte, als Diederich ihm berichtete: "Das ist alles schoen und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung fuer die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter. Sehen Sie mal, auch Stoecker hat im Eispalast seine verdammten Erfahrungen gemacht mit der Demokratie, ob sie sich nun christlich nennt oder unchristlich. Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute heisst es bloss noch: losschlagen, solange wir die Macht haben." Und Diederich stimmte erleichtert bei. Herumgehen und Christen werben, war ihm gleich ein wenig peinlich erschienen. "Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich, hat der Kaiser gesagt." Wiebels Augen drohten katerhaft. "Nun, was wollen Sie mehr? Das Militaer ist darueber instruiert, es koenne vorkommen, dass es auf die lieben Verwandten schiessen muss. Also? Ich kann Ihnen mitteilen, mein Lieber, wir stehen am Vorabend grosser Ereignisse." Da Diederich erregte Neugier zeigte: "Was ich durch meinen Vetter von Klappke -." Wiebel machte eine Pause. Diederich zog die Absaetze zusammen: "- in Erfahrung gebracht habe, ist noch nicht fuer die Oeffentlichkeit reif. Ich will nur bemerken, dass der gestrige Ausspruch Seiner Majestaet, die Noergler moechten gefaelligst den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schuetteln, eine verteufelt ernst zu nehmende Warnung war." "Tatsaechlich? Sie glauben?" sagte Diederich. "Dann ist mein Pech wirklich skandaloes, dass ich gerade jetzt aus dem Dienst Seiner Majestaet scheiden musste. Ich darf sagen, dass ich gegen den inneren Feind meine volle Pflicht getan haben wuerde. Auf die Armee, so viel weiss ich, kann der Kaiser sich verlassen." Er war in diesen nasskalten Februartagen des Jahres 1892 viel auf der Strasse, in der Erwartung grosser Ereignisse. Unter den Linden hatte sich etwas veraendert, man sah noch nicht, was. Berittene Schutzleute hielten an den Muendungen der Strassen und warteten auch. Die Passanten zeigten einander das Aufgebot der Macht. "Die Arbeitslosen!" Man blieb stehen, um sie ankommen zu sehen. Sie kamen vom Norden her, in kleinen Abteilungen und im langsamen Marschschritt. Unter den Linden zoegerten sie, wie verwirrt, berieten sich mit den Blicken und lenkten nach dem Schloss ein. Dort standen sie, stumm, die Haende in den Taschen, liessen sich von den Raedern der Wagen mit Schlamm bespritzen und zogen die Schultern hoch unter dem Regen, der auf ihre entfaerbten Ueberzieher fiel. Manche von ihnen wandten die Koepfe nach voruebergehenden Offizieren, nach den Damen in ihren Wagen, nach den langen Pelzen der Herren, die von der Burgstrasse her schlenderten; und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht, als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber liessen kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief ueber ihre hinaufgewendeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreienden Schutzmann trieb sie weiter, hinueber oder bis zur naechsten Ecke - aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte. "Ich begreife nicht," sagte Diederich, "dass die Polizei nicht energischer vorgeht. Das ist doch eine unbotmaessige Bande." "Lassen Sie's gut sein", erwiderte Wiebel. "Die Schutzleute sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlueberlegten Absichten, das koennen Sie mir glauben. Es ist naemlich gar nicht immer zu wuenschen, dass derartige Faeulniserscheinungen am Staatskoerper gleich anfangs unterdrueckt werden. Man laesst sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!" Die Reife, die Wiebel meinte, kam taeglich naeher, am sechsundzwanzigsten schien sie da. Die Demonstrationen der Arbeitslosen sahen zielbewusster aus. In eine der noerdlichen Strassen zurueckgetrieben, quollen sie aus der naechsten, bevor man ihnen den Weg abschneiden konnte, verstaerkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigten sich ihre Zuege, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schloss, wichen zurueck und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhaltsam wie uebergetretenes Wasser. Der Wagenverkehr stockte, die Fussgaenger stauten sich, mit hineingezogen in die langsame Ueberschwemmung, worin der Platz ertrank, in dies truebe und missfarbene Meer der Armen, das zaeh dahinrollte, dumpfe Laute heraufwaelzte und wie Maste untergegangener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreckte: "Brot! Arbeit!" Ein deutlicheres Grollen, ausbrechend aus der Tiefe, jetzt drueben, jetzt hier: "Brot! Arbeit!" Anschwellend ueber die Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwolke: "Brot! Arbeit!" Eine Attacke der Berittenen, ein Aufschaeumen, Zurueckfliessen, und Weiberstimmen im Laerm, schrill, gleich Signalen: "Brot! Arbeit!" Man wird ueberrannt, vom Friedrichdenkmal fegt es die Neugierigen hinunter. Aber sie haben aufgerissene Muender; aus kleinen Beamten, denen der Weg ins Amt versperrt ist, fliegt Staub auf, als wuerden sie geklopft. Ein verzerrtes Gesicht, das Diederich nicht kennt, schreit ihm zu: "Es kommt anders! Jetzt geht es gegen die Juden!" - und ist untergegangen, bevor ihm einfaellt, es war Herr von Barnim. Er will ihm nach, wird in einem grossen Schub weit hinuebergeworfen, bis vor das Fenster eines Cafes, hoert das Klirren der eingedrueckten Scheibe, einen Arbeiter, der schreit: "Da haben se mich neulich 'rausgesetzt for meine dreissig Fennje, weil ich keinen Zylinderhut hatte" - und dringt mit ein durch das Fenster, zwischen die umgeworfenen Tische, auf den Boden, wo man ueber Scherben faellt, einander die Baeuche einstoesst und laut zetert. "Niemand mehr 'rein! Wir kriegen keine Luft!" Aber immer mehr steigen ein. "Die Polizei draengelt!" Und die Mitte der Strasse sieht man frei liegen, gesaeubert, wie fuer einen Triumphzug. Da sagt jemand: "Das ist doch Wilhelm!" Und Diederich war wieder draussen. Niemand wusste, wie es kam, dass man auf einmal marschieren konnte, in gedraengter Masse, auf der ganzen Breite der Strasse und zu beiden Seiten bis an die Flanken des Pferdes, worauf der Kaiser sass: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Knaeuel von Schreienden wurden aufgeloest und mitgerissen. Alle sahen ihn an. Dunkles Geschiebe, ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darueber ein junger Herr im Helm, der Kaiser. Sie sahen: sie hatten ihn heruntergeholt aus dem Schloss. Sie hatten: "Brot! Arbeit!" geschrien, bis er gekommen war. Nichts hatte sich geaendert, als dass er da war - und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld. Seitwaerts, wo die Reihen duenner waren, sagten buergerlich Gekleidete zu einander: "Na, Gott sei Dank, er weiss, was er will!" "Was will er denn?" "Der Bande zeigen, wer die Macht hat! Im guten hat er es mit ihnen versucht. Er ist sogar zu weit gegangen in den Erlassen vor zwei Jahren. Sie sind frech geworden." "Angst kennt er nicht, das muss man sagen. Kinder, dies ist ein historischer Moment!" Diederich hoerte es und erschauderte. Der alte Herr, der gesprochen hatte, wandte sich auch an ihn. Er hatte weisse Bartkoteletts und das Eiserne Kreuz. "Junger Mann," sagte er, "was unser herrlicher junger Kaiser da macht, das werden die Kinder mal aus den Schulbuechern lernen. Passen Sie auf!" Viele hatten gehobene Brueste und feierliche Mienen. Die Herren, die dem Kaiser folgten, blickten mit aeusserster Entschlossenheit darein, ihre Pferde aber lenkten sie durch das Volk, als seien alle die Leute zum Statieren bei einer Allerhoechsten Auffuehrung befohlen; und manchmal schielten sie seitwaerts, nach dem Eindruck im Publikum. Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Zuege, sein Auge blitzte hin ueber die Tausende der von ihm Gebannten. Er mass sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den empoererischen Knechten! Allein und ungeschuetzt hatte er sich mitten unter sie gewagt, stark nur durch seine Sendung. Sie konnten sich an ihm vergreifen, wenn es im Plan des Hoechsten lag; er brachte seiner heiligen Sache sich selbst zum Opfer. War Gott mit ihm, dann sollten sie es sehen! Dann bewahrten sie fuer immer das Gepraege seiner Tat und die Erinnerung an ihre Ohnmacht! Ein junger Mensch mit einem Kuenstlerhut ging neben Diederich, er sagte: "Kennen wir. Napoleon in Moskau, wie er sich solo unter die Bevoelkerung mischt." "Das ist doch grossartig!" behauptete Diederich, und die Stimme versagte ihm. Der andere zuckte die Achseln. "Theater, und nicht mal gut." Diederich sah ihn an, er versuchte zu blitzen wie der Kaiser. "Sie sind wohl auch so einer." Er haette nicht sagen koennen was fuer einer. Er fuehlte nur, dass er hier, zum erstenmal im Leben, die gute Sache zu vertreten habe gegen feindliche Bemaengelungen. Trotz seiner Aufregung sah er sich noch die Schultern des Menschen an: sie waren nicht breit. Auch aeusserte die Umgebung sich missbilligend. Da ging Diederich vor. Mit seinem Bauch draengte er den Feind gegen die Mauer und schlug auf den Kuenstlerhut ein. Andere knufften mit. Der Hut lag schon am Boden und bald auch der Mensch. Im Weitergehen bemerkte Diederich zu seinen Mitkaempfern: "Der hat sicher nicht gedient! Schmisse hat er auch keine!" Der alte Herr mit Bartkoteletts und Eisernem Kreuz war auch wieder da, er drueckte Diederich die Hand. "Brav, junger Mann, brav!" "Soll man da nicht wuetend werden?" erklaerte Diederich, noch keuchend. "Wenn der Mensch uns den historischen Moment verekeln will?" "Sie haben gedient?" fragte der alte Herr. "Ich waere am liebsten ganz dabei geblieben", sagte Diederich. "Na ja, Sedan ist nicht alle Tage" - der alte Herr betupfte sein Eisernes Kreuz. "Das waren wir!" Diederich reckte sich, er zeigte auf das bezwungene Volk und den Kaiser. "Das ist doch gerade so gut wie Sedan!" "Na ja", sagte der alte Herr. "Gestatten Sie mal, sehr geehrter Herr", rief jemand und schwenkte sein Notizbuch. "Wir muessen das bringen. Stimmungsbild, verstehnse? Sie haben wohl einen Genossen verwalkt?" "Kleinigkeit" - Diederich keuchte noch immer. "Meinetwegen koennt' es jetzt gleich losgehen gegen den inneren Feind. Unseren Kaiser haben wir mit." "Fein", sagte der Reporter und schrieb. "In der wildbewegten Menge hoert man Leute aller Staende der treuesten Anhaenglichkeit und dem unerschuetterlichen Vertrauen zu der Allerhoechsten Person Ausdruck geben." "Hurra!" schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines maechtigen Stosses von Menschen, der schrie, gelangte er jaeh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch, hoeher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fussspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch ueber allen Koepfen, in einer Sphaere der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere aeussersten Gefuehle kreisen. Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmaersche und mit Zuegen steinern und blitzend ritt die Macht! Die Macht, die ueber uns hingeht und deren Hufe wir kuessen! Die ueber Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts koennen, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekuel von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen, als Militaer, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisation und Machtverbaende kegelfoermig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe! ... Einer der Schutzleute, deren Kette das Tor absperrte, stiess Diederich vor die Brust, dass ihm der Atem ausblieb; er aber hatte die Augen so voll Siegestaumel, als reite er selbst ueber alle diese Elenden hinweg, die gebaendigt ihren Hunger verschluckten. Ihm nach! Dem Kaiser nach! Alle fuehlten wie Diederich. Eine Schutzmannskette war zu schwach gegen so viel Gefuehl; man durchbrach sie. Drueben stand eine zweite. Man musste abbiegen, auf Umwegen den Tiergarten erreichen, einen Durchschlupf finden. Wenige fanden ihn; Diederich war allein, als er auf den Reitweg hinausstuerzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gefaehrlichsten Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder: der Kaiser vom Pferd herunter, blitzte ihn an, er durchbohrte ihn. Diederich riss den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu ploetzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tuempel, die Beine in die Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan! Der Kaiser wandte sich nach seinen Begleitern um, schlug sich auf den Schenkel und lachte. Diederich aus seinem Tuempel sah ihm nach, den Mund noch offen. II. Er reinigte sich notduerftig und kehrte um. Auf einer Bank sass eine Dame; Diederich ging ungern vorueber. Noch dazu starrte sie ihm entgegen. "Gans", dachte er zornig. Da sah er, dass sie ein tief erschrockenes Gesicht hatte, und dann erkannte er Agnes Goeppel. "Eben bin ich dem Kaiser begegnet", sagte er sofort. "Dem Kaiser?" fragte sie, wie aus einer anderen Welt. Er begann, unter grossen, ungewohnten Gesten herauszujagen, was ihn erstickte. Unser herrlicher junger Kaiser, ganz allein unter rasenden Aufruehrern! Ein Cafe hatten sie demoliert, Diederich selbst war drin gewesen! Unter den Linden hatte er blutige Kaempfe bestanden fuer seinen Kaiser! Kanonen sollte man auffahren! "Die Leute hungern wohl", sagte Agnes schuechtern. "Es sind ja auch Menschen." "Menschen?" Diederich rollte die Augen. "Der innere Feind sind sie!" Da er Agnes wieder erschrecken sah, beruhigte er sich etwas. "Wenn es Ihnen Vergnuegen macht, dass wegen des Packs alle Strassen abgesperrt werden muessen." Nein, das kam Agnes sehr ungelegen. Sie hatte in der Stadt Besorgungen gehabt, und wie sie zurueck nach der Bluecherstrasse wollte, ging kein Omnibus mehr, und nirgends kam man durch. Sie war zurueckgedraengt worden bis hierher. Es war kalt und nass, ihr Vater wuerde sich aengstigen; was sollte sie tun? Diederich verhiess ihr, er werde es schon machen. Sie gingen zusammen weiter. Er wusste auf einmal nichts mehr zu sagen und wendete den Kopf umher, als suchte er den Weg. Sie waren allein zwischen kahlen Baeumen und nassem alten Laub. Wo waren die maennlichen Hochgefuehle von vorhin? Diederich empfand Beklommenheit, wie auf seinem letzten Spaziergang mit Agnes, als er, von Mahlmann gewarnt, auf einen Omnibus sprang, ausriss und verschwand. Gerade sagte Agnes: "Sie haben sich aber sehr, sehr lange nicht bei uns sehen lassen. Papa hat Ihnen doch geschrieben?" Sein eigener Vater sei gestorben, sagte Diederich, betreten. Jetzt musste Agnes zuerst ihr Beileid ausdruecken, dann fragte sie weiter: warum er damals ploetzlich fortgeblieben sei, vor drei Jahren. "Nicht wahr? Es sind schon fast drei Jahre." Diederich bekam Festigkeit. Das Verbindungsleben habe ihn voellig in Anspruch genommen. Dort herrsche naemlich eine verdammt strenge Zucht. "Und dann habe ich meiner Wehrpflicht genuegt." "Oh!" - Agnes sah ihn an, "was aus Ihnen alles geworden ist! Und jetzt sind Sie wohl schon Doktor?" "Das soll jetzt kommen." Er sah unzufrieden geradeaus. Seine Schmisse, seine stattliche Breite, alle seine wohlerworbene Maennlichkeit: fuer sie war das nichts? Sie bemerkte es gar nicht? "Aber Sie", sagte er plump. In ihr blasses, so schmales Gesicht stieg eine ganz duenne Roete, bis auf den Sattel der kleinen eingedrueckten Nase mit den Sommersprossen. "Ja. Mir geht es manchmal nicht gut, aber es wird schon wieder besser werden." Diederich bereute. "Ich meinte doch natuerlich, dass Sie noch huebscher geworden sind" - und er betrachtete ihr rotes Haar, das unter dem Hut hervorquoll, noch dicker als frueher, weil ihr Gesicht so klein geworden war. Dabei erinnerte er sich seiner Demuetigungen von damals und wie anders die Dinge jetzt lagen. Herausfordernd sagte er: "Wie geht es denn Herrn Mahlmann?" Agnes bekam eine wegwerfende Miene. "Denken Sie an den noch? Wenn ich den mal wiedersaehe, waer's mir gleich." "So? Aber er hat ein Patentbureau und koennte ganz gut heiraten." "Wennschon." "Frueher interessierten Sie sich doch fuer ihn." "Woraus schliessen Sie das?" "Er schenkte Ihnen immer etwas." "Ich haette es lieber nicht angenommen; aber dann -" sie sah auf den Weg, auf das nasse Laub vom Vorjahr, "dann haette ich auch Ihre Geschenke nicht annehmen duerfen." Darauf schwieg sie erschrocken. Diederich fuehlte, dass etwas Schweres geschehen war, und schwieg auch. "Das war doch nicht der Rede wert," stiess er endlich heraus, "ein paar Blumen." Und mit wiedergekehrter Entruestung: "Mahlmann hat Ihnen sogar ein Armband geschenkt." "Ich trage es niemals", sagte Agnes. Er hatte auf einmal Herzklopfen, er brachte hervor: "Und wenn es von mir gewesen waere?" Stille; er hielt den Atem an. Ganz leise kam es von ihr her: "Dann ja." Darauf gingen sie ploetzlich rascher und ohne mehr zu sprechen. Sie kamen vor das Brandenburger Tor, sahen die Linden bedrohlich von Polizei erfuellt, eilten vorbei und bogen in die Dorotheenstrasse. Hier war es wenig belebt, Diederich verlangsamte den Schritt, er fing an zu lachen. "Das ist eigentlich hochkomisch. Was Mahlmann Ihnen naemlich schenkte, war mit meinem Geld bezahlt. Er nahm mir ja alles ab, ich war noch ein ganz gruener Junge." Sie blieb stehen. "Oh!" - und sie sah ihn an, ihre goldbraunen Augen zitterten. "Das ist schrecklich. Koennen Sie mir das verzeihen?" Er laechelte ueberlegen. Das seien alte Geschichten, Jugendtorheiten. "Nein, nein", sagte sie verstoert. Die Hauptsache, meinte er, sei jetzt, wie sie nach Hause komme. Hier ging es schon wieder nicht weiter. Omnibusse waren auch nicht zu sehen. "Es tut mir leid, aber Sie werden sich meine Gesellschaft noch laenger gefallen lassen muessen. Uebrigens wohne ich gleich hier. Sie koennten mit hinaufkommen, da waeren Sie wenigstens im Trockenen. Aber natuerlich, eine junge Dame darf das nicht." Sie hatte noch immer diesen flehenden Blick. "Sie sind so gut", sagte sie, staerker atmend. "Sie sind so edel." Und da sie schon das Haus betraten: "Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben?" "Ich weiss, was ich der Ehre meiner Korporation schulde", erklaerte Diederich. Sie mussten an der Kueche vorbei, aber es war niemand darin. "Legen Sie doch so lange ab", sagte Diederich gnaedig. Er stand da, ohne Agnes anzusehen, und trat, waehrend sie den Hut abnahm, von einem Fuss auf den anderen. "Ich muss die Wirtin suchen, damit sie Tee macht." Er wandte sich schon nach der Tuer, zuckte aber zurueck: Agnes hatte seine Hand ergriffen und kuesste sie! "Aber Fraeulein Agnes", murmelte er, furchtbar erschrocken, und legte ihr, wie troestend, den Arm um ihre Schulter; da sank sie gegen die seine. Er drueckte seinen Mund in ihr Haar, ziemlich tief, weil er sich dazu verpflichtet fuehlte. Unter seinem Druck bebte und flog ihr Koerper, als wuerde er geschlagen. Er fuehlte sich in der duennen Bluse lau und feucht an. Diederich ward es heiss, er kuesste Agnes auf den Hals. Und ploetzlich kam ihr Gesicht auf ihn zu: mit offenem Mund, halbgeschlossenen Augen und mit einem Ausdruck, den er nie gesehen hatte und der ihm schwindlig machte. "Agnes! Agnes, ich liebe dich", sagte er wie aus tiefer Not. Sie antwortete nicht, aus ihrem offenen Mund kamen kleine warme Atemstoesse, und er fuehlte sie fallen, er trug sie, die zu zerfliessen schien. Dann sass sie auf dem Diwan und weinte. "Sei mir nicht boes, Agnes", bat Diederich. Sie sah ihn an mit ihren nassen Augen. "Ich weine doch vor Glueck", sagte sie. "Ich hab' so lange auf dich gewartet." "Warum?" fragte sie, da er ihre Bluse schliessen wollte. "Warum deckst du es schon zu? Findest du es schon nicht mehr schoen?" Er verwahrte sich. "Ich bin mir der uebernommenen Verantwortung vollkommen bewusst." "Verantwortung?" sagte Agnes. "Wer hat die? Ich habe dich drei Jahre lang geliebt. Du wusstest es ja nicht. Es war wohl das Schicksal!" Diederich, die Haende in den Taschen, bedachte, dass dies das Schicksal der leichtsinnigen Maedchen sei. Andererseits empfand er das Beduerfnis, sich ihre Versicherungen wiederholen zu lassen. "Also wirklich mich, nur mich hast du geliebt?" "Ich sah, dass du mir nicht glaubtest. Es war schrecklich, als ich merkte, du kamst nicht mehr, und es war aus. Es war ganz schrecklich. Ich wollte dir schreiben, ich wollte zu dir gehen. Jedesmal verlor ich den Mut, weil du mich doch nicht mehr mochtest. Ich kam so herunter, dass Papa eine Reise mit mir machen musste." "Wohin denn?" fragte Diederich. Aber Agnes antwortete nicht, sie zog ihn wieder an sich. "Sei lieb mit mir! Ich hab' nur dich!" Diederich dachte verlegen: "Dann hast du nicht viel." Agnes schien ihm verkleinert und sehr im Wert gesunken, seit er den Beweis hatte, dass sie ihn liebte. Auch sagte er sich, einem Maedchen, das so etwas tat, duerfe man nicht alles glauben. "Und Mahlmann?" fragte er hoehnisch. "Ein bisschen war doch wohl los mit ihm." - "Na lass nur", sagte er, da sie sich mit starrem Entsetzen aufrichtete. Er suchte gutzumachen. Er sei doch auch noch ganz benommen von seinem Glueck. Sehr langsam zog sie sich an. "Dein Vater wird aber gar nicht wissen, was los ist", meinte Diederich. Sie hob nur die Schultern. Als sie fertig war und er schon die Tuer geoeffnet hatte, blieb sie noch stehen und sah in das Zimmer zurueck, mit einem langen, angstvollen Blick. "Vielleicht", sagte sie, wie zu sich selbst, "komme ich nie wieder. Mir ist, als sollte ich heute nacht sterben." "Wieso denn?" sagte Diederich, peinlich beruehrt. Statt einer Antwort liess sie sich noch einmal an ihn hinsinken, den Mund auf seinem, die Brust auf seiner und von den Hueften zu den Fuessen wie mit ihm verwachsen. Diederich wartete geduldig. Dann loeste sie sich, oeffnete die Augen und sagte: "Du musst nicht denken, dass ich etwas von dir verlange. Ich hab' dich geliebt, nun ist alles gleich." Er bot ihr einen Wagen an, aber sie wollte gehen. Unterwegs fragte er nach ihrer Familie und nach anderen Bekannten. Erst am Belle-Alliance-Platz ward er unruhig, und etwas heiser brachte er hervor: "Natuerlich denke ich nicht daran, mich meinen Verpflichtungen dir gegenueber zu entziehen. Nur vorlaeufig: du verstehst, ich verdiene noch nichts, ich muss erst fertig sein und zu Hause mich in den Betrieb einleben ..." Agnes erwiderte dankbar und ruhig, als habe man ihr ein Kompliment gemacht: "Es waere schoen, wenn ich spaeter einmal deine Frau werden koennte." Da sie in die Bluecherstrasse einbogen, blieb er stehen. Unsicher meinte er, es sei jetzt wohl besser, wenn er umkehre. Sie sagte: "Weil uns jemand sehen koennte? Das wuerde gar nichts machen, denn ich muss zu Hause doch erzaehlen, dass ich dir begegnet bin und dass wir im Cafe zusammen gewartet haben, bis die Strassen wieder frei waren." "Na, die kann luegen", dachte Diederich. Sie setzte hinzu: "Fuer Sonntag bist du zu Mittag geladen, du musst bestimmt kommen." Diesmal war es ihm zuviel, er fuhr auf. "Ich soll -? Bei euch soll ich -?" Sie laechelte sanft und schlau. "Es geht doch nicht anders. Wenn man uns einmal saehe -: willst du denn nicht, dass ich wiederkomme?" O ja, das wollte er. Trotzdem musste sie ihm zureden, bis er sein Erscheinen versprach. Vor ihrem Hause verabschiedete er sich mit einer formellen Verbeugung, kehrte rasch um und dachte: "So ein Weib ist scheusslich raffiniert. Lange tu' ich da nicht mit." Indes bemerkte er mit Unlust, dass es Zeit sei, auf die Kneipe zu gehen. Es verlangte ihn nach Hause, er wusste nicht, warum. Als er dann die Tuer seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er davor stehen und starrte in die Dunkelheit. Ploetzlich reckte er die Arme in die Hoehe, wandte das Gesicht nach oben und sagte in einem langen Aufatmen: "Agnes!" Er fuehlte sich verwandelt, leicht, wie vom Boden gehoben. "Ich bin ganz furchtbar gluecklich", dachte er, und: "So schoen kommt es im ganzen Leben nicht wieder!" Er hatte die Gewissheit, dass er bis jetzt, bis zu dieser Minute, alle Dinge falsch angesehen, falsch bewertet hatte. Dort hinten kneipten sie nun und machten sich wichtig. Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen? Diederich fuehlte sich bereit, sie zu lieben! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewuehl von Menschen verbracht, die er fuer Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! War er selbst es, der jemand um einiger Worte willen geschlagen hatte, geprahlt, gelogen, sich toericht abgearbeitet und endlich, zerrissen und sinnlos, sich in den Schmutz geworfen hatte vor einem Herrn zu Pferd, dem Kaiser, der ihn auslachte? Er erkannte, dass er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben gefuehrt habe. Bestrebungen wie die eines Fremden, Gefuehle, die ihn beschaemten, und niemand, den er liebte - bis Agnes kam! "Agnes! Suesse Agnes, du weisst ja gar nicht, wie ich dich liebhabe!" Aber sie sollte es wissen. Er fuehlte, dass er es nie wieder so werde sagen koennen wie in dieser Stunde, und er schrieb einen Brief. Er schrieb, dass auch er diese drei Jahre immer auf sie gewartet habe, und dass er keine Hoffnung gehabt habe, weil sie zu schoen fuer ihn sei, zu fein und zu gut; dass er sich das mit Mahlmann nur eingeredet habe aus Feigheit und aus Trotz; dass sie eine Heilige sei, und nun sie zu ihm herabgestiegen, liege er zu ihren Fuessen. "Hebe mich auf, Agnes, ich kann stark sein, ich fuehle es, und ich will Dir mein ganzes Leben weihen!" - Er weinte, drueckte das Gesicht in das Diwankissen, worin er ihren Duft noch spuerte, und unter Schluchzen, wie als Kind, schlief er ein. Am Morgen freilich war er erstaunt und befremdet, sich nicht im Bett zu finden. Sein grosses Erlebnis fiel ihm ein, ein suesser Stoss ging durch sein Blut, bis zum Herzen. Aber auch der Verdacht kam ihm, dass er sich peinliche Uebertreibungen habe zuschulden kommen lassen. Er las den Brief wieder durch: das war alles recht schoen, und es konnte einen auch wirklich aus der Fassung bringen, wenn man auf einmal mit so einem grossartigen Maedel ein Verhaeltnis hatte. Waere sie jetzt nur dagewesen, er haette zaertlich sein wollen! Aber den Brief schickte man doch besser nicht ab. Es war unvorsichtig in jeder Beziehung. Am Ende fing Vater Goeppel ihn ab ... Diederich verschloss den Brief im Schreibtisch. "An das Essen hab' ich gestern ueberhaupt nicht gedacht!" Er liess sich ein ausgiebiges Fruehstueck bringen. "Und rauchen wollte ich nicht, damit ihr Geruch nicht verginge. Das ist doch Bloedsinn. So darf man nicht sein." Er zuendete eine Zigarre an und ging ins Laboratorium. Was er auf dem Herzen hatte, beschloss er statt in Worte - denn so hohe Worte waren unmaennlich und unbequem - lieber in Musik auszustroemen. Er mietete ein Klavier und versuchte sich ploetzlich mit viel mehr Glueck als in der Klavierstunde an Schubert und Beethoven. Am Sonntag, wie er bei Goeppels klingelte, machte Agnes selbst ihm auf. "Das Maedchen kann nicht vom Herd fort", sagte sie; aber den wahren Grund sagte ihr Blick. Aus Ratlosigkeit senkte Diederich die Augen auf das silberne Armband, womit sie klapperte, als sollte er hinsehen. "Kennst du es nicht?" fluesterte Agnes. Er ward rot. "Das von Mahlmann?" "Das von dir! Ich trag' es zum erstenmal." Rasch und heiss drueckte sie ihm die Hand, dann ging die Tuer zum Berliner Zimmer auf. Herr Goeppel wandte sich um. "Na, da ist wohl unser Ausreisser?" Aber kaum erblickte er Diederich, aenderte sich seine Miene, er bereute seine Vertraulichkeit. "Ich haette Sie, weiss Gott, nicht wiedererkannt, Herr Hessling!" Diederich sah zu Agnes hinueber, wie um ihr zu sagen: "Siehst du? Der merkt es, dass ich kein dummer Junge mehr bin." "Bei Ihnen ist ja alles unveraendert", stellte Diederich fest und begruesste Herrn Goeppels Schwestern und Schwager. In Wahrheit aber fand er alle betraechtlich gealtert, besonders Herrn Goeppel, der sich weniger munter benahm und dem ein kummervolles Fett von den Wangen hing. Die Kinder waren nun groesser, und irgendwo im Zimmer schien eine Person zu fehlen. "Ja, ja," so schloss Herr Goeppel die einleitende Unterhaltung, "die Zeit vergeht, aber gute Freunde finden sich immer wieder." "Wenn du wuesstest, wie", dachte Diederich verlegen und mit Geringschaetzung, indes man zu Tisch ging. Beim Kalbsbraten fiel ihm endlich ein, wer damals ihm gegenueber gesessen hatte. Es war die Tante, die ihn so hochtrabend gefragt hatte, was er denn studiere, und die nicht gewusst hatte, dass Chemie etwas anderes war als Physik. Agnes, die er zu seiner Rechten hatte, erklaerte ihm, dass diese Tante schon seit zwei Jahren tot sei. Diederich murmelte sein Beileid, im stillen aber sagte er sich: "Die quatscht also auch nicht mehr." Ihm kam es vor, als ob hier alle bestraft und niedergedrueckt seien, ihn selbst nur hatte das Schicksal, seinem Wert entsprechend, erhoeht. Und er streifte Agnes, von oben herab, mit dem Blick des Besitzers. Die suesse Speise liess auf sich warten, gerade wie damals. Agnes wandte unruhig den Kopf nach der Tuer, Diederich sah ihre schoenen blonden Augen verdunkelt, als sei etwas Ernstes geschehen. Er hatte ploetzlich tiefes Mitgefuehl mit ihr, eine grosse Zaertlichkeit. Er stand auf und rief aus der Tuer: "Marie! Der Krehm!" Wie er zurueckkam, trank Herr Goeppel ihm zu. "Das haben Sie frueher auch schon gemacht. Sie sind doch hier wie's Kind im Hause. Nicht, Agnes?" Agnes dankte Diederich mit einem Blick, der sein ganzes Herz aufruehrte. Er musste sich zusammennehmen, um nicht feuchte Augen zu bekommen. Wie wohlwollend die Verwandten ihm zulaechelten! Der Schwager stiess mit ihm an. Was fuer gute Menschen! Und Agnes, die suesse Agnes, liebte ihn! Er verdiente so viel nicht! Das Gewissen schlug ihm laut, er nahm sich dunkel vor, nachher mit Herrn Goeppel zu sprechen. Leider fing Herr Goeppel nach dem Essen wieder von den Krawallen an. Wenn wir endlich den Druck der Bismarckschen Kuerassierstiefel los waren, brauchte man die Arbeiter nun nicht mit Dicktun in Reden zu reizen. Der junge Mann (so nannte Herr Goeppel den Kaiser!) redet uns noch die Revolution an den Hals ... Diederich sah sich veranlasst, im Namen der Jugend, die fest und treu zu ihrem herrlichen jungen Kaiser stehe, solche Noergeleien auf das schaerfste zurueckzuweisen. Seine Majestaet hatten es selbst gesagt: "Diejenigen, welche mir behilflich sein wollen, herzlich willkommen. Die sich mir entgegenstellen, zerschmettere ich." Dabei versuchte Diederich zu blitzen. Herr Goeppel erklaerte, er warte es ab. "In dieser harten Zeit", fuegte Diederich hinzu, "muss jeder seinen Mann stehen." Und er setzte sich in Positur vor Agnes, die ihn bewunderte. "Wieso harte Zeit?" sagte Herr Goeppel. "Sie ist doch nur hart, wenn wir uns gegenseitig das Leben schwer machen. Ich hab' mich mit meinen Arbeitern noch immer vertragen." Diederich zeigte sich entschlossen, daheim in seinem Betrieb eine ganz andere Zucht einzufuehren. Sozialdemokraten wurden nicht mehr geduldet, und Sonntags gingen die Leute zur Kirche! - Das auch noch? meinte Herr Goeppel. Das koenne er von seinen Leuten nicht verlangen, wenn er selbst doch bloss am Karfreitag gehe. "Soll ich sie beschwindeln? Christentum ist gut; aber was der Pastor alles redet, glaubt doch kein Mensch mehr." Da sah man Diederichs Miene hoch ueberlegen werden. "Mein lieber Herr Goeppel, ich kann Ihnen nur sagen: Was die Herren da oben und besonders mein verehrter Freund, der Assessor von Barnim, zu glauben fuer richtig halten, das glaub' ich auch - unbesehen. Das kann ich Ihnen nur sagen." Der Schwager, der Beamter war, schlug sich ploetzlich auf Diederichs Seite. Herr Goeppel hatte schon einen roten Kopf, Agnes trat mit dem Kaffee dazwischen. "Na, schmecken Ihnen meine Zigarren?" Herr Goeppel klopfte Diederich aufs Knie. "Sehen Sie wohl, im Menschlichen sind wir einig." Diederich dachte: "Da ich sozusagen zur Familie gehoere." Er liess von seiner strammen Haltung einiges nach, es war noch sehr gemuetlich. Herr Goeppel wollte wissen, wann Diederich "fertig" werde und Doktor sei, er begriff nicht, dass eine chemische Arbeit zwei Jahre und laenger brauche. Diederich verbreitete sich in Ausdruecken, die niemand verstand, ueber die Schwierigkeiten, zu einer Loesung zu gelangen. Er hatte die Empfindung, Herr Goeppel warte zu einem bestimmten Zweck auf seine Promovierung. Auch Agnes schien es zu fuehlen, denn sie griff ein und lenkte das Gespraech ab. Als Diederich sich verabschiedet hatte, ging sie mit hinaus und fluesterte ihm zu: "Morgen um drei bei dir." Vor jaeher Freude griff er nach ihr und kuesste sie, zwischen den Tueren, waehrend gleich daneben das Maedchen mit dem Geschirr rasselte. Sie fragte traurig: "Denkst du denn gar nicht daran, was mir passiert, wenn jetzt jemand kommt?" Er war betroffen und verlangte als Zeichen ihrer Verzeihung noch einen Kuss. Sie gab ihn. Um drei Uhr pflegte Diederich aus dem Cafe ins Laboratorium zurueckzukehren. Statt dessen war er schon um zwei Uhr wieder in seinem Zimmer. Richtig kam sie noch vor drei. "Wir haben es beide nicht erwarten koennen! Wie wir uns liebhaben!" Es war schoener als das erstemal, viel schoener. Keine Traene mehr, keine Furcht; und die Sonne schien herein. Diederich breitete Agnes' Haar in der Sonne aus und badete sein Gesicht darin. Sie blieb, bis es fast schon zu spaet war, die Einkaeufe zu machen, die sie zu Hause vorgeschuetzt hatte. Sie musste laufen. Diederich, der mitlief, war sehr besorgt, dass es ihr schaden koenne. Aber sie lachte, sah rosig aus und nannte ihn ihren Baeren. Immer endeten nun so die Tage, an denen sie kam. Immer waren sie gluecklich. Herr Goeppel stellte fest, dass es Agnes besser gehe als je, und das verjuengte ihn selbst. Daher wurden auch die Sonntage jedesmal heiterer. Es dauerte bis abends, dann ward Punsch gemacht, Diederich musste Schubert spielen, oder er und der Schwager sangen Burschenlieder und Agnes begleitete sie. Manchmal sahen sie sich nacheinander um, beiden war zumut, als werde ihr Glueck gefeiert. Es kam vor, dass im Laboratorium der Diener zu Diederich hintrat und ihm meldete, draussen sei eine Dame. Er stand sofort auf, stolz erroetend unter den verstaendnisvollen Blicken der Kollegen. Und dann bummelten sie, gingen ins Cafe, ins Panoptikum; und da Agnes gern Bilder sah, erfuhr Diederich auch, dass es Kunstausstellungen gab. Agnes liebte es, vor einem Bild, das ihr gefiel, einer sanften, festtaegigen Landschaft aus schoeneren Laendern, lange stehenzubleiben, mit halbgeschlossenen Augen, und Traeume auszutauschen mit Diederich. "Sieh nur recht hin, dann merkst du, das ist kein Rahmen, es ist ein Tor mit goldenen Stufen, die gehen wir hinunter und ueber den Weg, und biegen die Weissdornbuesche weg und steigen in den Kahn. Fuehlst du wohl, wie er schaukelt? Das kommt, weil wir die Hand durch das Wasser schleifen, es ist so warm. Drueben am Berg, der weisse Punkt, du weisst schon, es ist unser Haus, dahin fahren wir. Siehst du, siehst du?" "Ja, ja", sagte Diederich voll Eifer. Er kniff die Lider ein und sah alles, was Agnes wollte. Er geriet so sehr in Feuer, dass er ihre Hand nahm, um sie zu trocknen. Dann setzten sie sich in einen Winkel und sprachen von den Reisen, die sie machen wollten, dem sorgenlosen Glueck in sonniger Ferne, von Liebe ohne Ende. Diederich glaubte, was er sagte. Im Grunde wusste er wohl, dass er bestimmt sei, zu arbeiten und ein praktisches Leben zu fuehren, ohne viel Musse fuer Ueberschwenglichkeiten. Aber was er hier sagte, war von einer hoeheren Wahrheit als alles, was er wusste. Der eigentliche Diederich, der, der er haette sein sollen, sprach wahr. - Aber Agnes: wie sie nun aufstanden und gingen, war sie blass und schien muede. Ihre schoenen blonden Augen hatten einen Glanz, der Diederich beklommen machte, und sie fragte leise und zitternd: "Wenn unser Kahn nun umgeschlagen waere?" "Dann haette ich dich gerettet!" sagte Diederich entschlossen. "Aber es ist weit vom Ufer, und das Wasser ist schrecklich tief." Da er ratlos war: "Wir haetten ertrinken muessen. Sag', waerst du gern mit mir gestorben?" Diederich sah sie an; dann schloss er die Augen. "Ja", sagte er mit einem Seufzer. Nachher aber bereute er ein solches Gespraech. Er hatte wohl gemerkt, warum Agnes ploetzlich in eine Droschke steigen und heimfahren musste. Sie hatte krampfhafte Roete bis in die Stirn gehabt, und er sollte nicht sehen, wie sie hustete. Den ganzen Nachmittag bereute Diederich nun. Solche Sachen waren ungesund, fuehrten zu nichts und machten Ungelegenheiten. Sein Professor hatte schon von den Besuchen der Dame erfahren. Es ging nicht laenger, dass sie ihn wegen jeder Laune von seiner Arbeit wegholte. Er setzte es ihr schonend auseinander. "Du hast wohl recht", sagte sie darauf. "Ordentliche Menschen brauchen feste Stunden. Aber wenn ich nun um halb sechs zu dir kommen soll, und am meisten geliebt hab' ich dich schon um vier?" Er fuehlte Spott heraus, vielleicht sogar Geringschaetzung, und ward grob. Eine Geliebte, die ihn an seiner Karriere hindern wollte, koenne er ueberhaupt nicht brauchen. So habe er sich die Sache nicht vorgestellt. Da bat Agnes um Verzeihung. Sie wollte ganz bescheiden werden und in seinem Zimmer auf ihn warten. Wenn er noch zu tun hatte, oh! er brauchte keine Ruecksicht zu nehmen. Das beschaemte Diederich, er ward weich und ueberliess sich, zusammen mit Agnes, den Klagen ueber eine Welt, in der es nicht nur Liebe gab. "Muss es denn sein?" fragte Agnes. "Du hast ein wenig Geld, ich auch. Warum Karriere machen und dich abhetzen? Wir koennten es so gut haben." Diederich sah es ein - nachtraeglich aber nahm er ihr es uebel. Nun liess er sie warten, halb mit Absicht. Sogar den Besuch politischer Versammlungen erklaerte er fuer eine Pflicht, die der Zusammenkunft mit Agnes vorangehe. Eines Abends im Mai, wie er verspaetet heimkam, traf er vor der Tuer einen jungen Mann in Einjaehrigenuniform, der ihn zoegernd ansah. "Herr Diederich Hessling?" - "Ach ja," stammelte Diederich, "Sie - du - Sie sind wohl Herr Wolfgang Buck?" Der juengste Sohn des grossen Mannes von Netzig hatte sich endlich entschlossen, dem Befehl seines Vaters zu folgen und Diederich aufzusuchen. Diederich nahm ihn mit hinauf, er fand so schnell keinen Vorwand, um ihn zu entfernen, und drinnen sass Agnes! Im Flur sprach er laut, damit sie es hoere und sich verstecke. Mit Bangen oeffnete er. Im Zimmer war niemand; auch ihr Hut lag nicht auf dem Bett; aber Diederich wusste wohl: sie war noch soeben dagewesen. Er sah es dem Stuhl an, der nicht ganz am Fleck stand, er fuehlte es an der Luft, die noch leise zu schwingen schien vom Hindurchstreifen ihres Kleides. Sie musste in dem fensterlosen kleinen Gelass sein, wo sein Waschtisch stand. Er schob einen Sessel davor und murrte, unwirsch vor Verlegenheit, ueber die Wirtin, die nicht aufraeume. Wolfgang Buck meinte, er komme wohl ungelegen. "O nein!" versicherte Diederich. Er lud den Gast zum Sitzen ein und brachte Kognak. Buck entschuldigte sich wegen der ungewoehnlichen Stunde; der Dienst lasse ihm keine Wahl. "Das kennen wir", sagte Diederich; und um Fragen zuvorzukommen, berichtete er sofort, dass ein Jahr schon hinter ihm liege. Er sei begeistert vom Militaer, es sei das Wahre. Wer ganz dabei bleiben koennte! Leider riefen ihn Familienpflichten. Buck laechelte, ein weiches, skeptisches Laecheln, das Diederich missfiel. "Nun ja, die Offiziere: man ist wenigstens unter Leuten mit guten Manieren." "Sie verkehren mit ihnen?" fragte Diederich, und er meinte es hoehnisch. Aber Buck erklaerte einfach, dass er zuweilen in die Offiziersmesse geladen werde. Er zuckte die Achseln. "Ich gehe hin, weil ich es fuer nuetzlich halte, mich in allen Lagern umzusehen. Andererseits verkehre ich viel mit Sozialisten." Er laechelte wieder. "Manchmal moechte ich naemlich General werden und manchmal Arbeiterfuehrer. Auf welche Seite ich schliesslich fallen werde, darauf bin ich selbst neugierig." Und er trank das zweite Glas Kognak aus. "Ein ekelhafter Mensch", dachte Diederich. "Und Agnes in der Dunkelkammer." Er sagte: "Mit Ihren Mitteln steht es Ihnen ja frei, sich in den Reichstag waehlen zu lassen oder was Ihnen sonst Spass macht. Ich bin auf praktische Arbeit angewiesen. Die Sozialdemokratie betrachte ich uebrigens als meinen Feind, denn sie ist der Feind des Kaisers." "Wissen Sie das ganz genau?" fragte darauf Buck. "Ich traue eher dem Kaiser eine heimliche Liebe fuer die Sozialdemokratie zu. Er waere gern selber der erste Arbeiterfuehrer geworden. Sie haben nur nicht gewollt." Diederich empoerte sich. Das sei beleidigend fuer Seine Majestaet. Aber Buck liess sich nicht stoeren. "Erinnern Sie sich nicht, wie er Bismarck gegenueber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militaerischen Schutz entziehen? Er hat, wenigstens anfangs, gerade solche Rancuene gegen die Reichen gehabt wie die Arbeiter - wenn auch natuerlich aus abweichenden Gruenden, weil er sich naemlich schwer damit abfindet, dass auch andere Macht haben." Den Ausrufen, die in Diederichs Mienen standen, kam Buck zuvor. "Glauben Sie bitte nicht," sagte er lebhafter, "dass Antipathie aus mir spricht. Es ist im Gegenteil Zaertlichkeit: eine Art feindlicher Zaertlichkeit, wenn Sie wollen." "Verstehe ich nicht", sagte Diederich. "Nun ja: wie man sie fuer jemand hat, bei dem man seine eigenen Fehler wiederfindet, oder nennen Sie es Tugenden. Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, dass wir naemlich unsere Persoenlichkeit ausleben moechten und doch ganz gut fuehlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen moechten. Er jedenfalls moechte es sich ableugnen. Und wenn einem solche Unmenge Macht in den Schoss gefallen ist, waere es auch wirklich Selbstmord, sich nicht zu ueberschaetzen. Aber in tiefster Seele hat er sicher seine Zweifel an der Rolle, die er sich zumutet." "Rolle?" fragte Diederich. Buck merkte es gar nicht. "Denn die kann ihn weit fuehren, da sie in der Welt, wie sie heute nun einmal ist, verdammt paradox wirken muss. Diese Welt erwartet von keinem einzelnen irgend mehr als von seinem Nachbarn. Auf Niveau kommt es an, nicht auf Auszeichnung, und am allerwenigsten auf grosse Maenner." "Erlauben Sie!" Diederich warf sich in die Brust. "Und das Deutsche Reich, haetten wir das ohne grosse Maenner? Hohenzollern sind immer grosse Maenner." - Buck verzog schon wieder den Mund, wehmuetig und skeptisch. "Dann muessen sie sich in acht nehmen. Und wir anderen auch. Der Kaiser steht, auf seine Verhaeltnisse uebertragen, vor derselben Frage wie ich. Soll ich General werden und mein ganzes Leben auf einen Krieg einrichten, der voraussichtlich nie mehr gefuehrt werden wird? Oder ein womoeglich genialer Volksfuehrer, waehrend das Volk doch schon so weit ist, dass es auf die Genies verzichten kann? Beides waere Romantik, und Romantik fuehrt bekanntlich zum Bankerott." Buck trank zwei Kognaks nacheinander. "Was soll ich also werden?" "Ein Alkoholiker", dachte Diederich. Er fragte sich, ob es nicht seine Pflicht sei, Buck einen Krach zu machen. Aber Buck trug Uniform! Auch wuerde der Laerm vielleicht Agnes hervorgescheucht haben, und was konnte dann alles entstehen! Immerhin beschloss er, sich Bucks Aeusserungen genau zu merken. Dachte der Mensch mit solchen Gesinnungen Karriere zu machen? Diederich erinnerte sich, dass auf der Schule Bucks deutsche Aufsaetze, die zu geistreich waren, ihm ein unerklaertes, aber tiefes Misstrauen eingegeben hatten. "Stimmt," dachte er, "so ist er geblieben. Ein Schoengeist. Die ganze Familie ist so." Die Frau des alten Buck war eine Juedin gewesen, die Theater gespielt hatte. Und Diederich fuehlte sich nachtraeglich gedemuetigt durch das herablassende Wohlwollen des alten Buck beim Begraebnis seines Vaters. Auch der junge demuetigte ihn, fortwaehrend und mit allem: mit seinen ueberlegenen Redensarten, seinen Manieren, seinem Verkehr bei den Offizieren. War er ein Herr von Barnim? Er war auch nur aus Netzig. "Ich hasse die ganze Familie!" Und Diederich betrachtete aus gekniffenen Lidern dies fleischige Gesicht mit der weich gebogenen Nase und den feucht glaenzenden Augen, die sannen. Buck stand auf. "Nun, wir sehen uns zu Hause wieder. Naechstes oder uebernaechstes Semester mache ich mein Examen, und was bleibt dann weiter uebrig, als Rechtsanwalt spielen in Netzig ... Und Sie?" fragte er. Diederich erklaerte streng, dass er seine Zeit nicht zu verlieren und noch im Sommer seine Doktorarbeit abzuschliessen denke. Damit fuehrte er Buck hinaus. "Ein dummer Kerl bist du doch nur", dachte er. "Merkst gar nicht, dass ich ein Maedchen bei mir habe." Er kehrte zurueck, froh seiner Ueberlegenheit ueber Buck und auch ueber Agnes, die im Dunkeln gewartet und nicht gemuckt hatte. Wie er aber die Tuer oeffnete, hing sie ueber einem Stuhl, ihre Brust ging heftig, und mit dem Taschentuch unterdrueckte sie das Keuchen. Sie sah ihm entgegen, aus geroeteten Augen. Er sah: sie war da drinnen fast erstickt, und sie hatte geweint - indes er hier draussen getrunken und unnuetzes Zeug geredet hatte. Seine erste Regung war masslose Reue. Sie liebte ihn! Da sass sie und liebte ihn sehr, dass sie alles ertrug! Er war im Begriff, die Arme zu erheben, vor sie hinzustuerzen und sie weinend um Verzeihung zu bitten. Rechtzeitig hielt er sich zurueck aus Furcht vor der Szene und der sentimentalen Stimmung nachher, die ihn wieder mehrere Arbeitstage kostete und ihr die Oberhand gab. Er tat ihr nicht den Willen! Denn natuerlich uebertrieb sie absichtlich. So kuesste er sie fluechtig auf die Stirn und sagte: "Du bist schon da? Ich hab' dich gar nicht kommen gesehen." Sie zuckte auf, wie um etwas zu erwidern, aber sie schwieg. Darauf erklaerte er, es sei gerade jemand fortgegangen. "So ein Judenbengel, der sich aufspielt! Einfach ekelhaft!" Diederich lief im Zimmer umher. Um Agnes nicht ansehen zu muessen, lief er immer schneller und redete immer heftiger. "Das sind unsere schlimmsten Feinde! Die mit ihrer sogenannten feinen Bildung, die alles antasten, was uns Deutschen heilig ist! Solch ein Judenbengel kann froh sein, dass wir ihn dulden. Soll er seine Pandekten bueffeln und die Schnauze halten. Auf seine schoengeistigen Schmoeker huste ich!" schrie er noch lauter, mit der Absicht, auch Agnes zu kraenken. Da sie nicht antwortete, nahm er einen neuen Anlauf. "Das kommt aber alles, weil jeder mich jetzt zu Hause findet. Immer muss ich deinetwegen auf der Bude hocken!" Agnes sagte schuechtern: "Wir haben uns schon sechs Tage nicht gesehen. Sonntag bist du wieder nicht gekommen. Ich fuerchte, du hast mich nicht mehr lieb." Er blieb vor ihr stehen. Von oben herab: "Mein liebes Kind, dass ich dich liebhabe, brauch' ich dir wohl wirklich nicht mehr zu versichern. Aber eine andere Frage ist es, ob ich darum auch Lust habe, jeden Sonntag deinen Tanten beim Haekeln zuzusehen und mit deinem Vater ueber Politik zu reden, wovon er nichts versteht." Agnes senkte den Kopf. "Frueher war es so schoen. Du standest dich schon so gut mit Papa." Diederich drehte ihr den Ruecken zu und sah aus dem Fenster. Das war es eben: er fuerchtete zu gut zu stehen mit Herrn Goeppel. Durch seinen Buchhalter, den alten Soetbier, wusste er, dass Goeppels Geschaeft bergab ging. Seine Zellulose taugte nichts mehr, Soetbier bezog sie nicht mehr von ihm. Da waere ein Schwiegersohn wie Diederich ihm freilich gelegen gekommen. Diederich fuehlte sich umgarnt von diesen Leuten. Auch von Agnes! Er hatte sie im Verdacht, mit dem Alten zusammenzustecken. Entruestet wandte er sich ihr wieder zu. "Und dann, liebes Kind, ehrlich gestanden: was wir beide tun, nicht wahr, das ist unsere Sache, aber deinen Vater lassen wir lieber aus dem Spiel. Beziehungen wie die unseren soll man mit Familienfreundschaft nicht verquicken. Mein sittliches Gefuehl verlangt da reinliche Scheidung." Ein Augenblick verging, dann stand Agnes auf, als habe sie jetzt begriffen. Sie war tief erroetet. Sie ging zur Tuer. Diederich holte sie ein. "Aber Agnes, so hab' ich es doch nicht gemeint. Es war doch nur, weil ich dich viel zu sehr achte -. Und ich kann ja auch wiederkommen Sonntag." Sie liess ihn reden, mit unbewegter Miene. "Nun sei doch wieder gemuetlich", bat er. "Du hast noch nicht mal deinen Hut abgenommen." Sie tat es. Er verlangte, sie solle sich auf den Diwan setzen, und sie setzte sich. Sie kuesste ihn auch, wie er es wollte. Aber indes ihre Lippen laechelten und kuessten, blieben ihre Augen starr und unbeteiligt. Ploetzlich riss sie ihn in ihre Arme: er erschrak, er wusste nicht, ob es Hass war. Aber dann fuehlte er sich heisser geliebt als je. "Heute war es aber wirklich schoen. Was, meine kleine suesse Agnes?" sagte Diederich, zufrieden und gutmuetig. "Adieu", sagte sie, hastend nach Schirm und Beutel, waehrend er sich erst ankleidete. "Du hast es aber eilig." - "Weiter kann ich wohl nichts fuer dich tun." Sie war schon bei der Tuer - ploetzlich fiel sie mit der Schulter gegen den Pfosten und ruehrte sich nicht mehr. "Was ist denn los?" Wie Diederich naeher kam, sah er sie schluchzen. Er beruehrte sie. "Ja, was hast du denn?" Da ward ihr Weinen laut und krampfhaft. Es hoerte nicht auf. "Aber Agnes," sagte Diederich von Zeit zu Zeit, "was ist auf einmal geschehen, wir waren doch so vergnuegt." Und ganz ratlos: "Hab' ich dir was getan?" Zwischen den Krisen und halb erstickt, brachte sie hervor: "Ich kann nicht. Entschuldige." Er trug sie auf den Diwan. Als es endlich vorbei war, schaemte Agnes sich. "Verzeih! Ich kann nicht dafuer." - "Kann denn ich dafuer?" - "Nein, nein. Es sind die Nerven. Verzeih!" Mitleidig und geduldig brachte er sie bis zu einem Wagen. Nachtraeglich aber erschien ihm auch der Anfall als halbe Komoedie und als eins der Mittel, die ihn endgueltig einfangen sollten. Das Gefuehl verliess ihn nicht mehr, dass Raenke gesponnen wurden gegen seine Freiheit und seine Zukunft. Er wehrte sich dagegen vermittels schroffen Auftretens, Betonung seiner maennlichen Selbstaendigkeit und durch Kaelte, sobald die Stimmung weich ward. Sonntags bei Goeppels war er auf seiner Hut, wie in Feindesland: korrekt und unzugaenglich. Wann seine Arbeit denn nun fertig werde? fragten sie. Er koenne die Loesung morgen finden oder erst in zwei Jahren, das wisse er selbst nicht. Er betonte, dass er auch kuenftig finanziell abhaengig von seiner Mutter bleibe. Er werde noch lange fuer nichts Zeit haben als einzig fuer das Geschaeft. Und da Herr Goeppel die idealen Werte des Lebens zu bedenken gab, lehnte Diederich barsch ab. "Noch gestern hab' ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keinen Sparren und lass' mir nichts vormachen." Wenn er nach solchen Worten Agnes' stummen und betruebten Blick auf sich fuehlte, hatte er wohl einen Augenblick die Empfindung, als habe nicht er selbst gesprochen, als gehe er im Nebel, rede falsch und handle wider Willen. Aber das verging. Agnes kam, sooft er sie bestellte, und ging fort, wenn es Zeit fuer ihn war, zu arbeiten oder zu kneipen. Sie verfuehrte ihn nicht mehr zu Traeumereien vor Bildern, seit er einmal an einem Wurstgeschaeft angehalten und ihr erklaert hatte, dass sei fuer ihn der schoenste Kunstgenuss. Ihm selbst fiel es endlich auf das Herz, wie selten sie sich nur noch sahen. Er warf ihr vor, dass sie nicht darauf dringe, oefter zu kommen. "Frueher warst du ganz anders." "Ich muss warten", sagte sie. "Worauf?" "Dass auch du wieder so wirst. Oh! Ich weiss ganz sicher, es wird kommen." Er schwieg aus Furcht vor Auseinandersetzungen. Dennoch kam es, wie sie gesagt hatte. Seine Arbeit war endlich beendet und gutgeheissen, er hatte nur noch eine belanglose muendliche Pruefung zu bestehen und war in der gehobenen Stimmung einer Lebenswende. Wie Agnes ihm ihren Glueckwunsch brachte und Rosen dazu, brach er in Traenen aus und sagte, dass er sie immer, immer liebhaben werde. Sie berichtete, dass Herr Goeppel soeben eine mehrtaegige Geschaeftsreise antrete. "Und nun ist das Wetter so wunderschoen ..." Diederich fiel sofort ein: "Das muessen wir benutzen! Solche Gelegenheit haben wir noch nie gehabt!" Sie beschlossen, aufs Land hinaus zu fahren. Agnes wusste von einem Ort namens Mittenwalde; es musste einsam dort sein und romantisch wie der Name. "Den ganzen Tag werden wir beisammen sein!" - "Und die Nacht auch", setzte Diederich hinzu. Schon der Bahnhof, von dem man abfuhr, war entlegen und der Zug ganz klein und altmodisch. Sie blieben allein in ihrem Wagen; es dunkelte langsam, der Schaffner zuendete ihnen eine truebe Lampe an, und sie sahen, eng umschlungen, stumm und mit grossen Augen hinaus in das flache, eintoenige Ackerland. Da hinausgehen, zu Fuss, weit fort, und sich verlieren in der guten Dunkelheit! Bei einem Dorf mit einer Handvoll Haeuser waeren sie fast ausgestiegen. Der Schaffner holte sie jovial zurueck; ob sie denn auf Stroh uebernachten wollten. Und dann langten sie an. Das Wirtshaus hatte einen grossen Hof, ein weites Gastzimmer mit Petroleumlampen unter der Balkendecke und einen biederen Wirt, der Agnes "gnaedige Frau" nannte und schlaue slawische Augen dazu machte. Sie waren voll heimlichen Einverstaendnisses und befangen. Nach dem Essen waeren sie gern gleich hinaufgegangen, wagten es aber nicht und blaetterten gehorsam in den Zeitschriften, die der Wirt ihnen hinlegte. Wie er den Ruecken wandte, warfen sie einander einen Blick zu, und, husch, waren sie auf der Treppe. Noch war kein Licht im Zimmer, die Tuer stand noch offen, und schon lagen sie einander in den Armen. Ganz frueh am Morgen schien die Sonne herein. Im Hof drunten pickten Huehner und flatterten auf den Tisch vor der Laube. "Dort wollen wir fruehstuecken!" Sie gingen hinab. Wie herrlich warm! Aus der Scheuer duftete es koestlich nach Heu. Kaffee und Brot schmeckten ihnen frischer als sonst. So frei war einem um das Herz, das ganze Leben stand offen. Stundenweit wollten sie gehen; der Wirt musste die Strassen und Doerfer nennen. Sie lobten freudig sein Haus und seine Betten. Sie seien wohl auf der Hochzeitsreise? "Stimmt" - und sie lachten herzhaft. Die Pflastersteine der Hauptstrasse streckten ihre Spitzen nach oben, und die Julisonne faerbte sie bunt. Die Haeuser waren hoeckrig, schief und so klein, dass die Strasse zwischen ihnen sich ausnahm wie ein Feld mit Steinen. Die Glocke des Kraemers klapperte lange hinter den Fremden her. Wenige Leute, halb staedtisch gekleidet, schlichen durch den Schatten und wandten sich um nach Agnes und Diederich, die stolze Gesichter machten, denn sie waren die Elegantesten hier. Agnes entdeckte das Modengeschaeft mit den Hueten der feinen Damen. "Nicht zu glauben! Das hat man in Berlin vor drei Jahren getragen!" Dann traten sie durch ein Tor, das wacklig aussah, in das Land hinaus. Die Felder wurden gemaeht. Der Himmel war blau und schwer, die Schwalben schwammen darin wie in traegem Wasser. Die Bauernhaeuser dort drueben waren eingetaucht in heisses Flimmern, und ein Wald stand schwarz, mit blauen Wegen. Agnes und Diederich fassten sich bei den Haenden, und ohne Verabredung fingen sie zu singen an: ein Lied fuer wandernde Kinder, das sie noch aus der Schule kannten. Diederich machte seine Stimme tief, damit Agnes ihn bewundere. Als sie nicht weiter wussten, wandten sie einander die Gesichter zu und kuessten sich, im Gehen. "Jetzt seh' ich erst recht, wie huebsch du bist", sagte Diederich und sah zaertlich in ihr rosiges Gesicht, mit den blonden Wimpern um diese blonden, goldgestirnten Augen. "Der Sommer steht mir gut" - und Agnes atmete frei auf, dass ihre Hemdbluse geschwellt ward. Schlank ging sie dahin, mit schmalen Hueften und dem blauen Schleier, der ihr nachwehte. Diederich hatte es zu warm, er zog den Rock aus, dann auch die Weste, und endlich gestand er, dass er sich Schatten wuensche. Sie fanden welchen, am Rand eines Feldes, worauf noch das Korn stand, und unter einem Akazienbusch, der noch duftete. Agnes setzte sich und legte Diederichs Kopf in ihren Schoss. Sie spielten noch miteinander und scherzten: ploetzlich merkte sie, dass er einschlief. Er wachte auf, sah um sich, und als er Agnes' Gesicht fand, erglaenzte er selig. "Lieber", sagte sie. "Was du fuer ein gutes, dummes Gesicht machst." - "Erlaub' mal! Ich habe doch hoechstens fuenf Minuten - nein, wahrhaftig, eine Stunde hab' ich geschlafen. Hast du dich gelangweilt?" Aber sie war erstaunter als er, dass so viel Zeit vergangen war. Seinen Kopf zog er unter der Hand hervor, die sie ihm auf das Haar gelegt hatte, als er einschlief. Zwischen den Feldern gingen sie zurueck. In einem lag eine dunkle Masse; und als sie durch die Halme spaehten, war es ein alter Mann mit einer Pelzkappe, rostroter Jacke und Samthosen, die auch schon roetlich waren. Seinen Bart hatte er sich, zusammengekruemmt, um die Knie gewickelt. Sie bueckten sich tiefer, um ihn zu erkennen. Da bemerkten sie, dass er sie schon laengst aus schwarzen Funkelaugen ansah. Unwillkuerlich schritten sie schneller aus, und in den Blicken, die sie einander zuwandten, stand Maerchengrauen. Sie blickten umher: sie waren in einem weiten, fremden Land, die kleine Stadt dort hinten schlief fremdartig in der Sonne, und der Himmel sah ihnen aus, als seien sie Tag und Nacht gereist. Wie abenteuerlich das Mittagessen in der Laube des Wirtshauses, mit der Sonne, den Huehnern, dem offenen Kuechenfenster, aus dem Agnes sich die Teller reichen liess. Wo war die buergerliche Ordnung der Bluecherstrasse, wo Diederichs angestammter Kneiptisch? "Ich gehe nicht wieder fort von hier", erklaerte Diederich. "Dich lass' ich auch nicht fort." Und Agnes: "Warum denn auch? Ich schreibe meinem Papa und lass' es ihm durch meine Freundin schicken, die in Kuestrin verheiratet ist. Dann glaubt er, ich bin dort." Spaeter gingen sie nochmals aus, nach der anderen Seite, wo Wasser floss und der Horizont von den Fluegeln dreier Windmuehlen umsegelt ward. Im Kanal lag ein Boot; sie mieteten es und schwammen dahin. Ein Schwan kam ihnen entgegen. Der Schwan und ihr Boot glitten lautlos aneinander vorueber. Unter herniederhaengenden Bueschen legte es von selbst an - und Agnes fragte unvermittelt nach Diederichs Mutter und seinen Schwestern. Er sagte, dass sie immer gut zu ihm gewesen seien, und dass er sie liebhabe. Er wollte sich die Bilder der Schwestern schicken lassen, sie waren huebsch geworden; oder vielleicht nicht huebsch, aber so anstaendig und sanft. Die eine, Emmi, las Gedichte, wie Agnes. Diederich wollte fuer beide sorgen und sie verheiraten. Seine Mutter aber, die behielt er bei sich, denn ihr hatte er alles Gute im Leben verdankt, bis Agnes gekommen war. Und er erzaehlte von den Daemmerstunden, den Maerchen unter den Weihnachtsbaeumen seiner Kindheit und sogar von dem Gebet "aus dem Herzen". Agnes hoerte zu, ganz versunken. Endlich seufzte sie auf. "Deine Mutter moechte ich kennenlernen. Meine hab' ich nicht gekannt." Er kuesste sie, mitleidig, achtungsvoll und mit einer dunklen Empfindung von schlechtem Gewissen. Er fuehlte: jetzt hatte er ein Wort zu sprechen, das sie ganz und gar fuer immer troesten musste. Aber er schob es hinaus, er konnte nicht. Agnes sah ihn tief an. "Ich weiss," sagte sie langsam, "dass du im Herzen ein guter Mensch bist. Du musst nur manchmal anders tun." Darueber erschrak er. Dann sagte sie, als entschuldigte sie sich: "Heute hab ich gar keine Furcht vor dir." "Hast du denn sonst Furcht?" fragte er reumuetig. Sie sagte: "Ich habe mich immer gefuerchtet, wenn die Leute recht hochgemut und lustig waren. Bei meinen Freundinnen frueher war es mir oft, als koennte ich mit ihnen nicht Schritt halten, und sie muessten es merken und mich verachten. Sie merkten es aber nicht. Schon als Kind: ich hatte eine Puppe mit grossen blauen Glasaugen, und als meine Mutter gestorben war, musste ich nebenan bei der Puppe sitzen. Sie sah mich immer starr an mit ihren aufgerissenen harten Augen, die sagten mir: Deine Mutter ist tot, jetzt werden dich alle so ansehen wie ich. Gerne haette ich sie auf den Ruecken gelegt, damit sie die Augen schloss. Aber ich wagte es nicht. Haette ich denn auch die Menschen auf den Ruecken legen koennen? Alle haben solche Augen, und manchmal -" sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, "manchmal sogar du." Der Hals war ihm zugeschnuert, er tastete ueber ihren Nacken, und seine Stimme schwankte. "Agnes! Suesse Agnes, du weisst gar nicht, wie ich dich liebhabe ... Ich hab' Furcht vor dir gehabt, ja, ich! Drei Jahre lang hab' ich mich nach dir gesehnt, aber du warst zu schoen fuer mich, zu fein, zu gut ..." Sein ganzes Herz schmolz; er sagte alles, was er ihr nach ihrem ersten Besuch geschrieben hatte, in dem Brief, der noch in seinem Schreibtisch lag. Sie hatte sich aufgerichtet und hoerte ihm zu, entzueckt, die Lippen geoeffnet. Sie jubelte leise: "Ich wusste es, so bist du, du bist wie ich!" "Wir gehoeren zusammen", sagte Diederich und presste sie an sich; aber er war erschrocken ueber seinen Ausruf: "Jetzt wartet sie," dachte er, "jetzt soll ich sprechen." Er wollte es, aber er fuehlte sich gelaehmt. Der Druck seiner Arme auf ihrem Ruecken ward immer kraftloser ... Sie bewegte sich: er wusste, nun wartete sie nicht mehr. Und sie loesten sich voneinander, ohne sich anzusehen. Diederich schlug ploetzlich die Haende vor das Gesicht und schluchzte. Sie fragte nicht, weshalb; sie strich ihm troestend ueber das Haar. Das waehrte lange. Ueber ihn hinweg, ins Leere, sagte Agnes: "Hab' ich denn geglaubt, dass es dauern wuerde? Es musste schlimm enden, weil es so schoen war." Er fuhr auf, verzweifelt. "Es ist doch nicht aus!" Sie fragte: "Glaubst du an das Glueck?" "Wenn ich dich verlieren soll, nicht mehr!" Sie murmelte: "Du wirst fortgehen, hinaus in das Leben und mich vergessen." "Lieber sterben!" - und er zog sie an sich. Sie fluesterte an seiner Wange: "Sieh, wie breit hier das Wasser ist, ein See. Unser Boot hat sich von selbst losgemacht und uns hinausgefuehrt. Weisst du noch, jenes Bild? Und der See, auf dem wir schon einmal im Traum fuhren? Wohin wohl?" Und noch leiser: "Wohin mit uns?" Er antwortete nicht mehr. Ganz umschlungen und die Lippen aufeinander, senkten sie sich rueckwaerts immer tiefer ueber das Wasser. Draengte sie ihn? Zog er sie? Niemals waren sie so sehr eins gewesen. Diederich fuehlte: nun war es gut. Er war, mit Agnes zu leben, nicht edel genug gewesen, nicht glaeubig, nicht tapfer genug. Jetzt hatte er sie eingeholt, nun war es gut. Ploetzlich, ein Stoss: sie schnellten in die Hoehe. Diederich hatte so viel Kraft gebraucht, dass Agnes von ihm fort und zu Boden fiel. Er strich sich ueber die Stirn. "Was haben wir denn da?" - Noch kalt vom Schrecken und als sei er beleidigt, sah er weg von ihr. "So unvorsichtig darf man nicht sein beim Bootfahren." Er liess sie allein aufstehen, griff sogleich nach den Rudern und fuhr zurueck. Agnes hielt das Gesicht nach dem Ufer gewendet. Einmal wollte sie zu ihm hinsehen; aber sein Blick traf sie so misstrauisch und hart, dass sie zusammenfuhr. In der sinkenden Daemmerung gingen sie, immer schneller, die Landstrasse zurueck. Zuletzt liefen sie fast. Und erst als es dunkel genug war, dass sie ihre Gesichter nicht mehr deutlich erkannten, sprachen sie. Morgen frueh kam Herr Goeppel vielleicht heim. Agnes musste heim ... Wie sie beim Wirtshaus ankamen, pfiff in der Ferne schon der Zug. "Nicht mal mehr essen kann man!" sagte Diederich mit kuenstlicher Unzufriedenheit. Hals ueber Kopf die Sachen holen, zahlen und fort. Der Zug fuhr ab, kaum dass sie drin waren. Ein Glueck, dass sie Atem zu schoepfen und die eiligen Geschaefte der letzten Viertelstunde zu besprechen hatten. Das letzte Wort darueber war gefallen, und nun sass jeder da, allein bei trueber Lampe und betaeubt wie nach einem grossen Misserfolg. Das dunkle Land da draussen, hatte es einmal gelockt und Gutes versprochen? Das sollte erst gestern gewesen sein? Man fand nicht zurueck. Kamen nicht endlich die Lichter der Stadt und befreiten einen? Bei der Ankunft waren sie darueber einig, dass es sich nicht verlohne, in denselben Wagen zu steigen. Diederich nahm die Trambahn. Haende und Augen streiften sich nur. "Uff!" machte Diederich, als er allein war. "Das waere erledigt." Er sagte sich: "Es haette ebensogut schief gehen koennen." Und mit Empoerung: "So eine hysterische Person!" Sich selbst wuerde sie sicher am Boot festgehalten haben. Er haette das Bad allein nehmen muessen. Auf den ganzen Trick war sie doch nur verfallen, weil sie durchaus geheiratet werden wollte! "Die Weiber sind zu gerissen, und sie haben keine Hemmungen, da kommt unsereiner nun mal nicht mit. Diesmal hat sie mich, weiss Gott, noch aerger an der Nase herumgefuehrt als damals mit Mahlmann. Na, mir soll es eine Lehre fuer das Leben sein. Nun aber Schluss!" Und festen Schrittes ging er zu den Neuteutonen. Fortan verbrachte er jeden Abend dort, und am Tage bueffelte er fuer das muendliche Examen, aber zur Vorsicht nicht zu Hause, sondern im Laboratorium. Wenn er dann heimkam, ward ihm das Steigen der Stockwerke schwer, er musste sich gestehen, dass er Herzklopfen habe. Zoegernd oeffnete er die Zimmertuer: - nichts; und nachdem ihm anfangs leichter geworden war, kam es schliesslich doch jedesmal dazu, dass er die Wirtin fragte, ob jemand dagewesen sei. Niemand war dagewesen. Nach vierzehn Tagen aber kam ein Brief. Er hatte ihn geoeffnet, bevor er es bedachte. Dann wollte er ihn ungelesen in den Schreibtisch werfen - zog ihn aber wieder hervor und hielt ihn weit fort vom Gesicht. Hastig, mit misstrauischen Augen griff er hier und da eine Zeile heraus. "Ich bin so ungluecklich ..." "Kennen wir!" antwortete Diederich. "Ich wage mich nicht zu Dir ..." "Dein Glueck!" "Es ist schrecklich, dass wir uns fremd geworden sind ..." "Wenigstens siehst du es ein." "Verzeih mir, was geschehen ist, oder ist nichts geschehen?..." "Gerade genug!" "Ich kann nicht weiterleben ..." "Faengst du schon wieder an?" Und er schleuderte das Blatt endgueltig in die Lade, zu jenem anderen, das er in einer zuchtlosen Nacht mit Ueberschwenglichkeiten bedeckt und zum Glueck nicht abgeschickt hatte. Eine Woche spaeter aber, wie er in der Nacht heimkam, hoerte er hinter sich Schritte, die besonders klangen. Er fuhr herum: eine Gestalt blieb stehen, die Haende ein wenig erhoben und leer vor sich hingehalten. Noch waehrend er das Haustor aufschloss und eintrat, sah er sie im Halbdunkel dastehen. Im Zimmer machte er kein Licht. Er schaemte sich, indes sie aus dem Dunkel hinaufspaehte, das Zimmer zu beleuchten, das ihr gehoert hatte. Es regnete. Wie viele Stunden hatte sie gewartet? Gewiss stand sie noch immer dort, mit ihrer letzten Hoffnung. Das war nicht auszuhalten! Er wollte das Fenster aufreissen - und wich zurueck. Einmal fand er sich ploetzlich auf der Treppe, mit dem Hausschluessel in der Hand. Gerade gelang es ihm noch, umzukehren. Darauf schloss er ab und zog sich aus. "Mehr Haltung, mein Lieber!" Denn diesmal waere man aus der Sache nicht mehr leicht herausgekommen. Das Maedel war zweifellos zu bedauern, aber schliesslich hatte sie es gewollt. "Vor allem habe ich Pflichten gegen mich selbst." - Am Morgen, schlecht ausgeschlafen, nahm er es ihr sogar sehr uebel, dass sie noch einmal versucht hatte, ihn aus seiner Bahn zu reissen. Jetzt, da sie wusste, dass die Pruefung bevorstand! Solche Gewissenlosigkeit sah ihr aehnlich. Und durch die naechtliche Szene, diese Bettlerrolle im Regen, hatte ihre Gestalt nachtraeglich etwas Verdaechtiges und Unheimliches bekommen. Er betrachtete sie als endgueltig gesunken. "Auf keinen Fall mehr das geringste!" beteuerte er sich, und er beschloss, noch fuer den kurzen Rest seines Aufenthaltes die Wohnung zu wechseln: "selbst wenn es mit einem Geldopfer verbunden sein sollte." Gluecklicherweise suchte ein Kollege grade ein Zimmer; Diederich verlor nichts und zog sofort um, weit hinauf nach dem Norden. Kurz darauf bestand er sein Examen. Die Neuteutonia feierte ihn mit einem Fruehschoppen, der bis gegen Abend dauerte. Zu Hause ward ihm gesagt, dass in seinem Zimmer ein Herr auf ihn warte. "Es wird Wiebel sein," dachte Diederich, "er muss mir doch Glueck wuenschen." Und von Hoffnung geschwellt: "Vielleicht ist es der Assessor von Barnim?" Er oeffnete, und er prallte zurueck. Denn da stand Herr Goeppel. Auch er fand nicht gleich Worte. "Nanu, im Frack?" sagte er dann, und zoegernd: "Waren Sie vielleicht bei mir?" "Nein", sagte Diederich und erschrak aufs neue. "Ich habe nur meine Doktorpruefung gemacht." Goeppel erwiderte: "Ach so, ich gratuliere." Dann brachte Diederich hervor: "Wie haben Sie denn meine neue Adresse gefunden?" Und Goeppel antwortete: "Ihrer frueheren Wirtin haben Sie sie allerdings nicht gesagt. Aber es gibt ja auch sonst noch Mittel." Darauf sahen sie einander an. Goeppels Stimme war ruhig gewesen, aber Diederich fuehlte schreckliche Drohungen darin. Er hatte den Gedanken an die Katastrophe immer hinausgeschoben, und jetzt war sie da. Er musste sich setzen. "Naemlich," begann Goeppel, "ich komme, weil es Agnes gar nicht gut geht." "Oh!" machte Diederich mit verzweifelter Heuchelei. "Was fehlt ihr denn?" Herr Goeppel wiegte bekuemmert den Kopf. "Das Herz will nicht; aber es sind natuerlich nur die Nerven ... Natuerlich", wiederholte er, nachdem er vergeblich gewartet hatte, dass Diederich es wiederhole. "Und nun wird sie mir melancholisch vor Langeweile, und ich moechte sie aufheitern. Ausgehen darf sie nicht. Aber kommen Sie doch mal wieder zu uns, morgen ist Sonntag." "Gerettet!" fuehlte Diederich. "Er weiss nichts." Vor Freude ward er zum Diplomaten, er kratzte sich den Kopf. "Ich hatte es mir schon fest vorgenommen. Aber jetzt muss ich dringend nach Haus, unser alter Geschaeftsfuehrer ist krank. Nicht mal meinen Professoren kann ich Abschiedsbesuche machen, morgen frueh reise ich gleich ab." Goeppel legte ihm die Hand auf das Knie. "Sie sollten es sich ueberlegen, Herr Hessling. Seinen Freunden schuldet man manchmal auch was." Er sprach langsam und hatte einen so eindringlichen Blick, dass Diederich wegsehen musste. "Wenn ich nur koennte", stammelte er; Goeppel sagte: "Sie koennen. Ueberhaupt koennen Sie alles, was hier in Frage kommt." "Wieso?" Diederich erstarrte im Innern. "Sie wissen wohl, wieso", sagte der Vater; und nachdem er seinen Stuhl ein Stueck zurueckgeschoben hatte: "Sie denken doch hoffentlich nicht, dass Agnes mich hergeschickt hat? Im Gegenteil, ich hab' ihr versprechen muessen, dass ich gar nichts tue und Sie ganz in Ruhe lasse. Aber dann hab' ich mir ueberlegt, dass es doch eigentlich zu dumm waere, wenn wir beide noch lange umeinander herum gehen wollten, so wie wir uns kennen, und wie ich Ihren seligen Vater gekannt habe, und bei unserer Geschaeftsverbindung und so weiter." Diederich dachte: "Die Geschaeftsverbindung ist geloest, mein Bester." Er wappnete sich. "Ich gehe gar nicht um Sie herum, Herr Goeppel." "Na also. Dann ist ja alles in Ordnung. Ich verstehe wohl: der Sprung in die Ehe, den tut kein junger Mann, besonders heute, ohne erst mal zu scheuen. Aber wenn die Geschichte so glatt liegt wie hier, nicht wahr? Unsere Branchen greifen ineinander, und wenn Sie Ihr vaeterliches Geschaeft ausdehnen wollen, kommt Ihnen Agnes' Mitgift sehr gelegen." Und in einem Atem weiter, indes seine Augen abirrten: "Momentan kann ich zwar nur zwoelftausend Mark fluessig machen, aber Zellulose kriegen Sie, soviel Sie wollen." "Siehst du wohl?" dachte Diederich. "Und die zwoelftausend muesstest du dir auch pumpen - wenn du sie noch kriegst." - "Sie haben mich missverstanden, Herr Goeppel", erklaerte er. "Ich denke nicht ans Heiraten. Dazu waeren zu grosse Geldmittel noetig." Herr Goeppel sagte mit angstvollen Augen und lachte dabei: "Ich kann noch ein uebriges tun ..." "Lassen Sie nur", sagte Diederich, vornehm abwehrend. Goeppel ward immer ratloser. "Ja, was wollen Sie dann ueberhaupt?" "Ich? Gar nichts. Ich dachte, Sie wollten was, weil Sie mich besuchen." Goeppel gab sich einen Ruck. "Das geht nicht, lieber Hessling. Nach dem, was nun mal vorgefallen ist. Und besonders, da es schon so lange dauert." Diederich mass den Vater, er zog die Mundwinkel herab. "Sie wussten es also?" "Nicht sicher", murmelte Goeppel. Und Diederich, von oben: "Das haette ich auch merkwuerdig gefunden." "Ich habe eben Vertrauen gehabt zu meiner Tochter." "So irrt man sich", sagte Diederich, zu allem entschlossen, womit er sich wehren konnte. Goeppels Stirn fing an, sich zu roeten. "Zu Ihnen hab' ich naemlich auch Vertrauen gehabt." "Das heisst: Sie hielten mich fuer naiv." Diederich schob die Haende in die Hosentaschen und lehnte sich zurueck. "Nein!" Goeppel sprang auf. "Aber ich hielt Sie nicht fuer den Schubbejack, der Sie sind!" Diederich erhob sich mit formvoller Ruhe. "Geben Sie Satisfaktion?" fragte er. Goeppel schrie: "Das moechten Sie wohl! Die Tochter verfuehren und den Vater abschiessen! Dann ist Ihre Ehre komplett!" "Davon verstehen Sie nichts!" Auch Diederich fing an, sich aufzuregen. "Ich habe Ihre Tochter nicht verfuehrt. Ich habe getan, was sie wollte, und dann war sie nicht mehr loszuwerden. Das hat sie von Ihnen." Mit Entruestung: "Wer sagt mir, dass Sie sich nicht von Anfang an mit ihr verabredet haben? Dies ist eine Falle!" Goeppel hatte ein Gesicht, als wollte er noch lauter schreien. Ploetzlich erschrak er, und mit seiner gewoehnlichen Stimme, nur dass sie zitterte, sagte er: "Wir geraten zu sehr in Feuer, dafuer ist die Sache zu wichtig. Ich habe Agnes versprochen, dass ich ruhig bleiben will." Diederich lachte hoehnisch auf. "Sehen Sie, dass Sie schwindeln? Vorhin sagten Sie, Agnes weiss gar nicht, dass Sie hier sind." Der Vater laechelte entschuldigend. "Im guten einigt man sich schliesslich immer. Nicht wahr, mein lieber Hessling?" Aber Diederich fand es gefaehrlich, wieder gut zu werden. "Der Teufel ist Ihr lieber Hessling!" schrie er. "Fuer Sie heiss' ich Herr Doktor!" "Ach so", machte Goeppel, ganz starr. "Es ist wohl das erstemal, dass jemand Herr Doktor zu Ihnen sagen muss? Na, auf die Gelegenheit koennen Sie stolz sein." "Wollen Sie vielleicht auch noch meine Standesehre antasten?" Goeppel wehrte ab. "Gar nichts will ich antasten. Ich frage mich nur, was wir Ihnen getan haben, meine Tochter und ich. Muessen Sie denn wirklich so viel Geld mithaben?" Diederich fuehlte sich erroeten. Um so entschlossener ging er vor. "Wenn Sie es durchaus hoeren wollen: mein moralisches Empfinden verbietet mir, ein Maedchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe bringt." Sichtlich wollte Goeppel sich nochmals empoeren; aber er konnte nicht mehr, er konnte nur noch das Schluchzen unterdruecken. "Wenn Sie heute nachmittag den Jammer gesehen haetten! Sie hat es mir gestanden, weil sie es nicht mehr aushielt. Ich glaube, nicht mal mich liebt sie mehr: nur Sie. Was wollen Sie denn, Sie sind doch der erste." "Weiss ich das? Vor mir verkehrte bei Ihnen ein Herr namens Mahlmann." Und da Goeppel zurueckwich, als sei er vor die Brust gestossen: "Nun ja, kann man das wissen? Wer einmal luegt, dem glaubt man nicht." Er sagte noch: "Kein Mensch kann von mir verlangen, dass ich so eine zur Mutter meiner Kinder mache. Dafuer hab' ich zuviel soziales Gewissen." Damit drehte er sich um. Er hockte nieder und legte Sachen in den Koffer, der geoeffnet dastand. Hinter sich hoerte er den Vater nun wirklich schluchzen - und Diederich konnte nicht hindern, dass er selbst geruehrt ward: durch die edel maennliche Gesinnung, die er ausgesprochen hatte, durch Agnes' und ihres Vaters Unglueck, das zu heilen ihm die Pflicht verbot, durch die schmerzliche Erinnerung an seine Liebe und all diese Tragik des Schicksals ... Er hoerte, gespannten Herzens, wie Herr Goeppel die Tuer oeffnete und schloss, hoerte ihn ueber den Korridor schleichen und das Geraeusch der Flurtuer. Nun war es aus - und da liess Diederich sich vornueber fallen und weinte heftig in seinen halbgepackten Koffer hinein. Am Abend spielte er Schubert. Damit war dem Gemuet Genuege getan, man musste stark sein. Diederich hielt sich vor, ob etwa Wiebel jemals so sentimental geworden waere. Sogar ein Knote ohne Komment, wie Mahlmann, hatte Diederich eine Lektion in ruecksichtsloser Energie erteilt. Dass auch die anderen in ihrem Innern vielleicht doch weiche Stellen haben koennten, erschien ihm im hoechsten Grade unwahrscheinlich. Nur er war, von seiner Mutter her, damit behaftet; und ein Maedel wie Agnes, die gerade so verrueckt war wie seine Mutter, wuerde ihn ganz untauglich gemacht haben fuer diese harte Zeit. Diese harte Zeit: bei dem Wort sah Diederich immer die Linden mit dem Gewimmel von Arbeitslosen, Frauen, Kindern, von Not, Angst, Aufruhr - und das alles gebaendigt, bis zum Hurraschreien gebaendigt durch die Macht, die allumfassende, unmenschliche Macht, die mitten darin ihre Hufe wie auf Koepfe setzte, steinern und blitzend. "Nichts zu machen", sagte er sich, in begeisterter Unterwerfung. "So muss man sein!" Um so schlimmer fuer die, die nicht so waren: sie kamen eben unter die Hufe. Hatten Goeppels, Vater und Tochter, irgendeine Forderung an ihn? Agnes war grossjaehrig, und ein Kind hatte er ihr nicht gemacht. Also? "Ich waere ein Narr, wenn ich zu meinem Schaden etwas taete, wozu ich nicht gezwungen werden kann. Mir schenkt auch keiner was." Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war. Die Korporation, der Waffendienst und die Luft des Imperialismus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht. Er versprach sich, zu Haus in Netzig seine wohlerworbenen Grundsaetze zur Geltung zu bringen und ein Bahnbrecher zu sein fuer den Geist der Zeit. Um diesen Vorsatz auch aeusserlich an seiner Person kenntlich zu machen, begab er sich am Morgen darauf in die Mittelstrasse zum Hoffriseur Haby und nahm eine Veraenderung mit sich vor, die er an Offizieren und Herren von Rang jetzt immer haeufiger beobachtete. Sie war ihm bislang nur zu vornehm erschienen, um nachgeahmt zu werden. Er liess vermittels einer Bartbinde seinen Schnurrbart in zwei rechten Winkeln hinauffuehren. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel kaum wieder. Der von Haaren entbloesste Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas katerhaft Drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht. III. Um weiteren Belaestigungen durch die Familie Goeppel aus dem Wege zu gehen, reiste er sogleich ab. Die Hitze machte das Kupee zu einem unheimlichen Aufenthalt. Diederich, der allein war, zog nacheinander den Rock, die Weste und die Schuhe aus. Einige Stationen vor Netzig stieg noch jemand ein: zwei fremd aussehende Damen, die durch den Anblick von Diederichs Flanellhemd beleidigt schienen. Er seinerseits fand sie widerwaertig elegant. Sie unternahmen es, in einer unverstaendlichen Sprache eine Beschwerde an ihn zu richten, worauf er die Achseln zuckte und die Fuesse in den Socken auf die Bank legte. Sie hielten sich die Nase zu und stiessen Hilferufe aus. Der Schaffner erschien, der Zugfuehrer selbst, aber Diederich hielt ihnen sein Billett zweiter Klasse hin und verteidigte sein Recht. Er gab dem Beamten sogar zu verstehen, er moege sich nur nicht die Zunge verbrennen, man koenne nie wissen, mit wem man es zu tun habe. Als er dann den Sieg erstritten hatte und die Damen abgezogen waren, kam statt ihrer eine andere. Diederich sah ihr entschlossen entgegen, aber sie zog einfach aus ihrem Beutel eine Wurst und ass sie aus der Hand, wobei sie ihm zulaechelte. Da ruestete er ab, erwiderte, breit glaenzend, ihre Sympathie und sprach sie an. Es stellte sich heraus, dass sie aus Netzig war. Er nannte seinen Namen, woraus sie frohlockte, sie seien alte Bekannte! "Nun?" Diederich betrachtete sie forschend: das dicke, rosige Gesicht mit dem fleischigen Mund und der kleinen, frech eingedrueckten Nase; das weissliche Haar, nett glatt und ordentlich, den Hals, der jung und fett war, und in den Halbhandschuhen die Finger, die die Wurst hielten und selbst rosigen Wuerstchen glichen. "Nein," entschied er, "kennen tu' ich Sie nicht, aber kolossal appetitlich sind Sie. Wie ein frischgewaschenes Schweinchen." Und er griff ihr um die Taille. Im selben Augenblick hatte er eine Ohrfeige. "Die sitzt", sagte er und rieb sich. "Haben Sie mehr solche zu vergeben?" - "Es langt fuer alle Frechmoepse." Sie lachte aus der Kehle und zwinkerte ihn mit ihren kleinen Augen unzuechtig an. "Ein Stueck Wurst koennen Sie haben, aber sonst nichts." Ohne zu wollen, verglich er ihre Art, sich zu wehren, mit Agnes' Hilflosigkeit, und er sagte sich: "So eine koennte man getrost heiraten." Schliesslich nannte sie selbst ihren Vornamen, und als er noch immer nicht weiterfand, fragte sie nach seinen Schwestern. Ploetzlich rief er: "Guste Daimchen!" Und beide schuettelten sich vor Freude. "Sie haben mir doch immer Knoepfe geschenkt von den Lumpen in Ihrer Papierfabrik. Das vergess' ich Ihnen nie, Herr Doktor! Wissen Sie, was ich mit den Knoepfen gemacht hab'? Die hab' ich gesammelt, und wenn meine Mutter mir mal Geld fuer Knoepfe gab, hab' ich mir Bonbons gekauft." "Praktisch sind Sie auch!" Diederich war entzueckt. "Und dann sind Sie immer zu uns ueber die Gartenmauer geklettert, Sie kleine Goere. Hosen hatten Sie meistenteils keine an, und wenn der Rock 'raufrutschte, kriegte man hinten was zu sehen." Sie kreischte; ein feiner Mann habe fuer so was kein Gedaechtnis. "Jetzt muss es aber noch schoener geworden sein", setzte Diederich noch hinzu. Sie ward ploetzlich ernst. "Jetzt bin ich verlobt." Mit dem Wolfgang Buck war sie verlobt! Diederich verstummte, mit enttaeuschter Miene. Dann erklaerte er zurueckhaltend, er kenne Buck. Sie sagte vorsichtig: "Sie meinen wohl, er ist ein bisschen ueberspannt? Aber die Bucks sind auch eine sehr feine Familie. Na ja, in anderen Familien ist wieder mehr Geld", setzte sie hinzu. Hierdurch betroffen, sah Diederich sie an. Sie zwinkerte. Er wollte eine Frage stellen; aber er hatte den Mut verloren. Kurz vor Netzig fragte Fraeulein Daimchen: "Und Ihr Herz, Herr Doktor, ist noch frei?" "Um die Verlobung bin ich noch herumgekommen." Er nickte gewichtig. "Ach! Das muessen Sie mir erzaehlen", rief sie. Aber sie fuhren schon ein. "Wir sehen uns hoffentlich bald wieder", schloss Diederich. "Ich kann Ihnen nur sagen, ein junger Mann kommt manchmal in verdammt brenzlige Sachen hinein. Fuer ein Ja oder Nein ist das Leben verpfuscht." Seine beiden Schwestern standen am Bahnhof. Wie sie Guste Daimchen erblickten, verzogen sie zuerst das Gesicht, dann aber stuerzten sie herbei und halfen das Gepaeck tragen. Sie erklaerten ihren Eifer, kaum dass sie mit Diederich allein waren. Guste hatte naemlich geerbt, sie war Millionaerin! Darum also! Er war erschrocken vor Hochachtung. Die Schwestern erzaehlten das Naehere. Ein alter Verwandter in Magdeburg hatte Guste all das Geld vermacht, dafuer, dass sie ihn gepflegt hatte. "Und sie hat es sich verdient," bemerkte Emmi, "er soll zuletzt furchtbar unappetitlich gewesen sein." Magda setzte hinzu: "Und sonst kann man sich natuerlich auch noch allerlei denken, denn Guste war doch ein ganzes Jahr mit ihm allein." Sofort bekam Diederich einen roten Kopf. "So was sagt ein junges Maedchen nicht!" schrie er entruestet; und als Magda beteuerte, das sagten auch Inge Tietz, Meta Harnisch und ueberhaupt alle: "Dann fordere ich euch energisch auf, dem Gerede entgegenzutreten." Es entstand eine Pause; darauf sagte Emmi: "Guste ist naemlich schon verlobt." - "Das weiss ich", knurrte Diederich. Bekannte kamen ihnen entgegen, Diederich hoerte sich "Herr Doktor" nennen, erglaenzte stolz dabei und ging weiter zwischen Emmi und Magda, die von der Seite seine neue Barttracht bewunderten. Zu Hause empfing Frau Hessling den Sohn mit ausgebreiteten Armen und einem Aufschrei, wie von einer Verschmachtenden, die gerade noch gerettet wird. Und was Diederich nicht vorausgesehen hatte: auch er weinte. Auf einmal empfand er die feierliche Schicksalsstunde, in der er das erstemal als wirkliches Haupt der Familie ins Zimmer trat, "fertig", mit dem Doktortitel ausgezeichnet und bestimmt, Fabrik und Familie nach seiner ueberlegenen Einsicht zu lenken. Er gab Mutter und Schwestern die Haende, allen zugleich, und sagte mit ernster Stimme: "Ich werde mir immer bewusst bleiben, dass ich meinem Gott fuer euch Rechenschaft schulde." Aber Frau Hessling war in Unruhe. "Bist du bereit, mein Sohn?" fragte sie. "Unsere Leute erwarten dich." Diederich trank sein Bier aus und ging, an der Spitze der Seinen, hinunter. Der Hof war sauber gescheuert, den Eingang der Fabrik umrahmten Kraenze und beschrieben eine Schleife um die Inschrift "Willkommen!" Davor stand der alte Buchhalter Soetbier und sagte: "Na guten Tag, Herr Doktor. Ich bin nicht 'raufgekommen, weil ich noch was zu tun hatte." "Heute haetten Sie das auch lassen koennen", erwiderte Diederich und ging an Soetbier vorbei. Drinnen im Lumpensaal fand er die Leute. Alle standen sie in einem Haufen zusammen: die zwoelf Arbeiter, die die Papiermaschine, den Hollaender und die Schneidemaschine bedienten, und die drei Kontoristen, samt den Frauen, deren Taetigkeit das Sortieren der Lumpen war. Die Maenner raeusperten sich, man fuehlte eine Pause, bis mehrere der Frauen ein kleines Maedchen hinausschoben, das einen Blumenstrauss vor sich hinhielt und mit einer Klarinettenstimme dem Herrn Doktor Glueck und Willkommen wuenschte. Diederich nahm mit gnaediger Miene den Strauss; nun war es an ihm, sich zu raeuspern. Er wandte sich nach den Seinen um, dann sah er den Leuten scharf in die Augen, allen nacheinander, auch dem schwarzbaertigen Maschinenmeister, obwohl der Blick des Mannes ihm peinlich war - und begann: "Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, dass hier kuenftig forsch gearbeitet wird. Ich bin gewillt, mal Zug in den Betrieb zu bringen. In der letzten Zeit, wo hier der Herr gefehlt hat, da hat mancher von euch vielleicht gedacht, er kann sich auf die Baerenhaut legen. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum, ich sage das besonders fuer die alten Leute, die noch von meinem seligen Vater her dabei sind." Mit erhobener Stimme, noch schneidiger und abgehackter; und dabei sah er den alten Soetbier an: "Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich fuehre euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich." Er versuchte, seine Augen blitzen zu lassen, sein Schnurrbart straeubte sich noch hoeher. "Einer ist hier der Herr, und das bin ich. Gott und meinem Gewissen allein schulde ich Rechenschaft. Ich werde euch stets mein vaeterliches Wohlwollen entgegenbringen, Umsturzgelueste aber scheitern an meinem unbeugsamen Willen. Sollte sich ein Zusammenhang irgendeines von euch -" Er fasste den schwarzbaertigen Maschinenmeister ins Auge, der ein verdaechtiges Gesicht machte. "- mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so zerschneide ich zwischen ihm und mir das Tischtuch. Denn fuer mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Feind meines Betriebes und Vaterlandsfeind ... So, nun geht wieder an eure Arbeit und ueberlegt euch, was ich euch gesagt habe." Er machte schroff kehrt und ging schnaufend davon. In dem Schwindelgefuehl, das seine starken Worte ihm erregt hatten, erkannte er kein einziges Gesicht mehr. Die Seinen folgten ihm, bestuerzt und ehrfurchtsvoll, indes die Arbeiter einander noch lange stumm ansahen, bevor sie nach den Bierflaschen griffen, die zur Feier des Tages bereitstanden. Droben legte Diederich vor Mutter und Schwestern seine Plaene dar. Die Fabrik war zu vergroessern, das hintere Nachbarhaus anzukaufen. Man musste konkurrenzfaehig werden. Der Platz an der Sonne! Der alte Kluesing, draussen in der Papierfabrik Gausenfeld, bildete sich wohl ein, er werde ewig das ganze Geschaeft machen?... Endlich tat Magda die Frage, woher er denn das Geld nehmen wolle; aber Frau Hessling schnitt ihr das vorlaute Wort ab. "Dein Bruder weiss das besser als wir." Vorsichtig setzte sie hinzu: "Manches Maedchen waere gluecklich, wenn sie sein Herz gewinnen koennte" - und sie hielt, seines Zornes gewaertig, die Hand vor den Mund. Aber Diederich erroetete nur. Da wagte sie, ihn zu umarmen. "Es waere mir ja ein so entsetzlicher Schmerz," schluchzte sie, "wenn mein Sohn, mein lieber Sohn, aus dem Hause ginge. Fuer eine Witwe ist es doppelt schwer. Die Frau Oberinspektor Daimchen kriegt es nun auch zu fuehlen, denn ihre Guste heiratet ja den Wolfgang Buck." "Oder auch nicht", sagte Emmi, die Aeltere. "Denn der Wolfgang soll doch was mit einer Schauspielerin haben." Frau Hessling vergass ganz, die Tochter zu berufen. "Aber wo doch so viel Geld da ist! Eine Million, sagen die Leute!" Diederich stiess verachtungsvoll hervor, den Buck kenne er, der sei nicht normal. "Es liegt wohl in der Familie. Der Alte hat doch auch schon eine Schauspielerin geheiratet." "Man sieht die Folgen", sagte Emmi. "Denn von seiner Tochter, der Frau Lauer, hat man sich allerlei erzaehlt." "Kinder!" bat Frau Hessling aengstlich. Aber Diederich beruhigte sie. "Lass nur, Mutter, es wird Zeit, dass man der Katze die Schelle umhaengt. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Bucks ihre Stellung hier in der Stadt schon laengst nicht mehr verdienen. Sie sind eine verrottete Familie." "Die Frau von Moritz, dem Aeltesten," sagte Magda, "ist einfach eine Baeuerin. Neulich waren sie mal in der Stadt, er ist auch schon ganz verbauert." Emmi empoerte sich. "Na, und der Bruder des alten Herrn Buck? Immer elegant, und die fuenf unverheirateten Toechter! Sie lassen sich Suppe aus der Volkskueche holen, ich weiss es positiv." "Die Volkskueche hat ja der Herr Buck gegruendet", erklaerte Diederich. "Und die Fuersorge fuer die entlassenen Straeflinge auch, und was sonst noch. Ich moechte wissen, wann er eigentlich Zeit hat, an seine eigenen Geschaefte zu denken." "Es wuerde mich nicht wundern," sagte Frau Hessling, "wenn nicht mehr viel da waere. Obwohl ich vor dem Herrn Buck natuerlich die groesste Hochachtung habe, er ist doch so angesehen." Diederich lachte bitter. "Warum eigentlich? In der Verehrung des alten Buck sind wir aufgezogen worden. Der grosse Mann von Netzig! Im Jahre achtundvierzig zum Tode verurteilt!" "Das ist aber auch ein historisches Verdienst, sagte dein Vater immer." "Verdienst?" schrie Diederich. "Wenn ich nur weiss, einer ist gegen die Regierung, ist er fuer mich schon erledigt. Und Hochverrat soll ein Verdienst sein?" Und er stuerzte sich, vor den erstaunten Frauen, in die Politik. Diese alten Demokraten, die noch immer das Regiment fuehrten, waren nachgerade die Schmach von Netzig! Schlapp, unpatriotisch, mit der Regierung zerfallen! Ein Hohn auf den Zeitgeist! Weil im Reichstag der alte Landgerichtsrat Kuehlemann sass, ein Freund des beruechtigten Eugen Richter, darum stockte hier das Geschaeft, und niemand kriegte Geld. Natuerlich, fuer so ein freisinniges Nest gab es weder Bahnanschluesse noch Militaer. Kein Zuzug, kein Betrieb! Die Herren im Magistrat, immer dieselben paar Familien, das kannte man, die schoben sich untereinander die Auftraege zu, und fuer andere Leute war nichts da. Die Papierfabrik Gausenfeld hatte saemtliche Lieferungen an die Stadt, denn auch ihr Besitzer Kluesing gehoerte zu der Bande des alten Buck! Magda wusste noch etwas. "Neulich ist die Liebhabervorstellung im Buergerkraenzchen abgesagt worden, weil dem Herrn Buck seine Tochter, Frau Lauer, krank war. Das ist doch Popismus." "Nepotismus heisst es", sagte Diederich streng. Er rollte die Augen. "Und dabei ist der Herr Lauer ein Sozialist. Aber der Herr Buck mag sich hueten! Wir werden ihm auf die Finger sehen!" Frau Hessling hob flehend die Haende. "Mein lieber Sohn, wenn du jetzt in der Stadt deine Besuche machst, versprich mir, dass du auch zum Herrn Buck gehst. Er ist nun mal so einflussreich." Aber Diederich versprach nichts. "Andere wollen auch 'ran!" rief er. Trotzdem schlief er in dieser Nacht unruhig. Schon um sieben ging er in die Fabrik hinunter und schlug sofort Laerm, weil noch die Bierflaschen von gestern umherlagen. "Hier wird nicht gesoffen, hier ist keine Kneipe. Herr Soetbier, das steht doch wohl im Reglement." - "Reglement?" sagte der alte Buchhalter. "Wir haben gar keins." Diederich war sprachlos; er schloss sich mit Soetbier ins Kontor ein. "Kein Reglement? Dann wundert mich allerdings gar nichts mehr. Was sind das fuer laecherliche Bestellungen, mit denen Sie sich da abgeben?" - und er warf die Briefe auf dem Pult umher. "Es scheint hoechste Zeit gewesen zu sein, dass ich eingreife. Das Geschaeft versumpft in Ihren Haenden." "Versumpfen, junger Herr?" "Ich bin fuer Sie der Herr Doktor!" Und er verlangte, dass man einfach alle anderen Fabriken unterbieten solle. "Das halten wir nicht aus", sagte Soetbier. "Ueberhaupt waeren wir gar nicht imstande, so grosse Auftraege auszufuehren wie Gausenfeld." "Und Sie wollen ein Geschaeftsmann sein? Dann stellen wir eben mehr Maschinen ein." "Das kostet Geld", sagte Soetbier. "Dann nehmen wir welches auf! Ich werde hier Schneid hineinbringen. Sie sollen sich wundern. Wenn Sie mich nicht unterstuetzen wollen, mache ich es allein." Soetbier wiegte den Kopf. "Mit Ihrem Vater, junger Herr, war ich immer einig. Wir haben zusammen das Geschaeft in die Hoehe gebracht." "Jetzt ist eine andere Zeit, merken Sie sich das. Ich bin mein eigener Geschaeftsfuehrer." Soetbier seufzte: "Das ist die stuermische Jugend" - indes Diederich schon die Tuer zuwarf. Er durchmass den Raum, worin die mechanische Trommel, laut schlagend, die Lumpen in Chlor wusch, und wollte das Zimmer des grossen Kochhollaenders betreten. Im Eingang kam ihm unvermutet der schwarzbaertige Maschinenmeister entgegen. Diederich zuckte zusammen, fast haette er dem Arbeiter Platz gemacht. Dafuer rannte er ihn mit der Schulter beiseite, bevor der Mann ausweichen konnte. Schnaufend sah er der Arbeit des Hollaenders zu, dem Drehen der Walze, dem Schneiden der Messer, das den Stoff in Fasern zerteilte. Grinsten ihn die Leute, die die Maschine bedienten, nicht etwa von der Seite an, weil er vor dem schwarzen Kerl erschrocken war? "Der Kerl ist ein frecher Hund! Er muss 'raus!" Ein animalischer Hass stieg in Diederich herauf, der Hass seines blonden Fleisches gegen den mageren Schwarzen, den Menschen von einer anderen Rasse, die er gern fuer niedriger gehalten haette und die ihm unheimlich schien. Diederich fuhr auf. "Die Walze ist falsch gestellt, die Messer arbeiten schlecht!" Da die Leute ihn nur ansahen, schrie er: "Maschinenmeister!" Und als der Schwarzbaertige eintrat: "Sehen Sie sich die Schweinerei mal an! Die Walze ist viel zu tief auf die Messer gesenkt, sie zerschneiden mir das ganze Zeug. Ich mache Sie verantwortlich fuer den Schaden!" Der Mann beugte sich ueber die Maschine. "Schaden ist keiner da", sagte er ruhig, aber Diederich wusste schon wieder nicht, ob er unter seinem schwarzen Bart nicht feixte. Der Blick des Maschinenmeisters hatte etwas duester Hoehnisches, Diederich ertrug ihn nicht, er gab es auf zu blitzen und warf nur die Arme. "Ich mache Sie verantwortlich!" "Was ist denn los?" fragte Soetbier, der den Laerm gehoert hatte. Dann erklaerte er dem Herrn, dass der Stoff durchaus nicht zu kleinfaserig geschnitten werde, und dass es immer so gemacht worden sei. Die Arbeiter nickten mit den Koepfen, der Maschinenmeister stand gelassen dabei. Diederich fuehlte sich einem Kompetenzstreit nicht gewachsen, er schrie noch: "Dann wird es kuenftig gefaelligst anders gemacht!" und kehrte ploetzlich um. Er gelangte in den Lumpensaal, und er gab sich Haltung, indem er fachkundig die Frauen ueberwachte, die auf den Siebplatten der langen Tische die Lumpen sortierten. Als eine kleine dunkelaeugige es unternahm, ihn aus ihrem bunten Kopftuch heraus ein wenig anzulaecheln, prallte sie gegen eine so harte Miene, dass sie erschrak und sich duckte. Farbige Fetzen quollen aus den Saecken, das Getuschel der Frauen verstummte unter dem Blick des Herrn, und in der warmen, dumpfigen Luft war nichts mehr zu vernehmen als das leise Rattern der Sensen, die in die Tische gerammt, die Knoepfe abschnitten. Aber Diederich, der die Heizungsrohre untersuchte, hoerte etwas Verdaechtiges. Er beugte sich hinter einen Haufen Saecke - und fuhr zurueck, erroetet und mit zitterndem Schnurrbart. "Nun hoert alles auf!" schrie er, "'rauskommen!" Ein junger Arbeiter kroch hervor. "Das Frauenzimmer auch!" schrie Diederich. "Wird's bald?" Und, als endlich das Maedchen sich zeigte, stemmte er die Faeuste in die Hueften. Hier ging es ja heiter zu! Seine Fabrik war nicht nur eine Kneipe, sondern noch ganz was anderes! Er zeterte, dass alles zusammenlief. "Na, Herr Soetbier, dies ist wohl auch immer so gemacht worden? Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Erfolgen. Also die Leute sind gewohnt, die Arbeitszeit zu benutzen, um sich hinter den Saecken zu amuesieren. Wie kommt der Mann hier herein?" Es sei seine Braut, sagte der junge Mensch. "Braut? Hier gibt es keine Braut, hier gibt es nur Arbeiter. Ihr beide stehlt mir die Arbeitszeit, die ich euch bezahle. Ihr seid Schweine und ausserdem Diebe. Ich schmeiss' euch 'raus, und ich zeig' euch an, wegen oeffentlicher Unzucht!" Er sah herausfordernd umher. "Deutsche Zucht und Sitte verlang' ich hier. Verstanden?" Da traf er den Maschinenmeister. "Und ich werde sie durchfuehren, auch wenn Sie da ein Gesicht schneiden!" schrie er. "Ich habe kein Gesicht geschnitten", sagte der Mann ruhig. Aber Diederich war nicht laenger zu halten. Endlich konnte er ihm etwas nachweisen! "Ihr Benehmen ist mir schon laengst verdaechtig! Sie tun Ihren Dienst nicht, sonst haette ich die beiden Leute nicht abgefasst." "Ich bin kein Aufpasser", warf der Mann dazwischen. "Sie sind ein widersetzlicher Bursche, der die ihm unterstellten Leute an Zuchtlosigkeit gewoehnt. Sie arbeiten fuer den Umsturz! Wie heissen Sie ueberhaupt?" "Napoleon Fischer", sagte der Mann. Diederich stockte. "Nap-. Auch das noch! Sie sind Sozialdemokrat?" "Jawohl." "Dachte ich mir. Sie sind entlassen." Er wandte sich nach den Leuten um: "Merkt euch das!" - und verliess schroff den Raum. Auf dem Hof lief Soetbier ihm nach. "Junger Herr!" Er war in grosser Aufregung und wollte nichts sagen, bevor sie nicht die Tuer des Privatkontors hinter sich geschlossen hatten. "Junger Herr," sagte der Buchhalter, "das geht nicht, der Mann ist ein Organisierter." - "Deswegen soll er 'raus", erwiderte Diederich. Soetbier setzte auseinander, dass das nicht gehe, weil dann alle die Arbeit niederlegen wuerden. Diederich wollte es nicht begreifen. Waren denn alle organisiert? Nein. Nun also. Aber, erklaerte Soetbier, sie hatten Furcht vor den Roten, sogar auf die alten Leute war kein Verlass mehr. "Ich schmeiss' sie 'raus!" rief Diederich. "Samt und sonders, mit Kind und Kegel!" "Wenn wir dann nur andere kriegten", sagte Soetbier und sah unter seinem gruenen Augenschirm mit einem duennen Laecheln dem jungen Herrn zu, der vor Zorn gegen die Moebel anrannte. Er schrie: "Bin ich in meiner Fabrik der Herr oder nicht? Dann will ich doch sehen -" Soetbier liess ihn austoben, dann sagte er: "Herr Doktor brauchen dem Fischer gar nichts zu sagen, er geht uns nicht fort, er weiss ja, dass wir davon zu viele Scherereien haetten." Diederich baeumte sich nochmals auf. "So. Ich brauch' ihn also nicht zu bitten, dass er die Gnade hat und bleibt? Der Herr Napoleon! Ich brauch' ihn nicht fuer Sonntag zum Mittagessen einzuladen? Es waere auch zuviel Ehre fuer mich!" Der Kopf war ihm rot angeschwollen, er fand das Zimmer zu eng und riss die Tuer auf. Der Maschinenmeister ging eben vorbei. Diederich sah ihm nach, der Hass gab ihm deutlichere Sinneseindruecke als sonst, er bemerkte gleichzeitig die krummen, mageren Beine des Menschen, seine knochigen Schultern mit den Armen, die vornueberhingen - und nun der Maschinenmeister mit den Leuten sprach, sah er seine starken Kiefern arbeiten unter dem duennen schwarzen Bart. Wie Diederich dies Mundwerk hasste, und diese knotigen Haende! Der schwarze Kerl war laengst vorueber, und seine Ausduenstung roch Diederich noch immer. "Sehn Sie mal, Soetbier, die Vorderflossen haengen ihm bis an den Boden. Gleich wird er auf allen vieren laufen und Nuesse fressen. Dem Affen werden wir ein Bein stellen, verlassen Sie sich darauf! Napoleon! So ein Name ist allein schon eine Provokation. Aber er soll sich zusammennehmen, denn so viel weiss ich, dass einer von uns beiden -" Diederich rollte die Augen: "- auf dem Platz bleiben wird." Erhobenen Hauptes verliess er die Fabrik. Im schwarzen Rock machte er sich auf, um den wichtigsten Herren der Stadt die Aufmerksamkeit seines Besuches zu erweisen. Von der Meisestrasse konnte er, um zum Buergermeister Doktor Scheffelweis in die Schweinichenstrasse zu gelangen, einfach der Wuchererstrasse folgen, die jetzt Kaiser-Wilhelm-Strasse hiess. Er wollte es auch; im entscheidenden Augenblick aber, wie auf eine Verabredung, die er vor sich selbst geheimgehalten haette, bog er dennoch in die Fleischhauergrube ein. Die zwei Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den Fuessen der ganzen Stadt und von den Vorgaengern dieser Fuesse. Der Klingelzug an der gelben Glastuer bewirkte drinnen ein langes Rasseln im Leeren. Dann ging dort hinten eine Tuer auf, und die alte Magd schlich ueber die Diele. Aber sie war noch laengst nicht angelangt, da trat vorn der Hausherr aus seinem Bureau und oeffnete selbst. Er zog Diederich, der sich eifrig verbeugte, bei der Hand herein. "Mein lieber Hessling! Ich habe Sie erwartet, man hatte mir Ihre Ankunft berichtet. Willkommen denn in Netzig, mein Herr Doktor." Sofort hatte Diederich Traenen in den Augen und stammelte: "Sie sind zu guetig, Herr Buck. Natuerlich habe ich zuerst und vor allem Ihnen, Herr Buck, meine Aufwartung machen wollen und Ihnen versichern, dass ich immer ganz - dass ich immer ganz - zu Ihren Diensten stehe", schloss er, freudig wie ein guter Schueler. Der alte Herr Buck hielt ihn noch fest, mit seiner Hand, die warm und dennoch leicht und weich war. "Dienste -" er schob Diederich selbst den Sessel zurecht, "die wollen Sie doch natuerlich nicht mir leisten, sondern Ihren Mitbuergern - die es Ihnen danken werden. Zum Stadtverordneten werden Ihre Mitbuerger Sie in kurzem waehlen, das glaube ich Ihnen versprechen zu koennen, denn damit belohnen sie eine verdiente Familie. Und dann" - der alte Buck beschrieb eine Gebaerde feierlicher Freigebigkeit "- verlasse ich mich auf Sie, dass Sie es uns recht bald ermoeglichen werden, Sie im Magistrat zu begruessen." Diederich verbeugte sich, beglueckt laechelnd, als werde er schon begruesst. "Die Gesinnung unserer Stadt," fuhr Herr Buck fort, "ich sage nicht, dass sie in allen Teilen gut ist -" Er versenkte seinen weissen Knebelbart in die seidene Halsbinde. "Aber noch ist Raum" - der Bart tauchte wieder auf - "und will's Gott noch lange, fuer wahrhaft liberale Maenner." Diederich beteuerte: "Ich bin selbstverstaendlich durchaus liberal." Darauf strich der alte Buck ueber die Papiere auf seinem Schreibtisch. "Ihr seliger Vater hat mir hier oft gegenueber gesessen, und besonders haeufig damals, als er die Papiermuehle errichtete. Dabei konnte ich ihm zu meiner grossen Freude foerderlich sein. Es handelte sich um den Bach, der jetzt durch Ihren Hof fliesst." Diederich sagte mit tiefer Stimme: "Wie oft, Herr Buck, hat mein Vater mir erzaehlt, dass er den Bach, ohne den wir gar nicht existieren koennten, nur Ihnen verdankt." "Nur mir, duerfen Sie nicht sagen, sondern den gerechten Zustaenden unseres Gemeinwesens, an denen aber -" der alte Herr Buck erhob seinen weissen Zeigefinger, er sah Diederich tief an, "gewisse Leute und eine gewisse Partei manches aendern wuerden, sobald sie koennten." Staerker und mit Pathos: "Der Feind steht vor dem Tore, es heisst zusammenhalten." Er liess eine Pause verstreichen und sagte in leichterem Ton, sogar mit einem kleinen Schmunzeln: "Sind Sie nicht, mein werter Herr Doktor, in einer aehnlichen Lage, wie damals Ihr Vater? Sie wollen sich vergroessern? Sie haben Plaene?" "Allerdings." Und Diederich setzte eifrig auseinander, was alles geschehen muesse. Der Alte hoerte ihm aufmerksam zu, er nickte, nahm eine Prise ... Endlich sagte er: "Ich sehe so viel, dass der Umbau Ihnen nicht nur grosse Kosten, sondern unter Umstaenden auch Schwierigkeiten mit der staedtischen Baupolizei verursachen wird - mit der ich uebrigens im Magistrat zu tun habe. Nun ueberzeugen Sie sich, mein lieber Hessling, was hier auf meinem Schreibtisch liegt." Da erkannte Diederich einen genauen Aufriss seines Grundstueckes, samt dem dahinter gelegenen. Sein verbluefftes Gesicht bewirkte bei dem alten Buck ein Laecheln der Genugtuung. "Ich kann wohl dafuer sorgen," sagte er, "dass keine erschwerenden Umstaende eintreten." Und auf Diederichs Danksagungen: "Wir dienen dem grossen Ganzen, wenn wir jedem unserer Freunde vorwaertshelfen. Denn die Freunde einer Volkspartei sind alle, ausser den Tyrannen." Nach diesen Worten lehnte der alte Buck sich tiefer in den Sessel und faltete die Haende. Seine Miene hatte sich entspannt, er wiegte den Kopf wie ein Grossvater. "Als Kind hatten Sie so schoene blonde Locken", sagte er. Diederich begriff, dass der offizielle Teil des Gespraeches beendet sei. "Ich weiss noch," erlaubte er sich zu sagen, "wie ich als kleiner Junge hier ins Haus kam, wenn ich mit Ihrem Herrn Sohn Wolfgang Soldaten spielte." "Ja, ja. Und jetzt spielt er wieder Soldat." "Oh! Er ist sehr beliebt bei den Offizieren. Er hat es mir selbst gesagt." "Ich wuenschte, mein lieber Hessling, er haette mehr von Ihrer praktischen Veranlagung.... Nun, er wird ruhiger werden, wenn ich ihn erst verheiratet habe." "Ich glaube," sagte Diederich, "dass Ihr Herr Sohn etwas Geniales hat. Daher ist er mit nichts zufrieden, er weiss nicht, ob er General werden soll oder sonst ein grosser Mann." "Inzwischen macht er leider dumme Streiche." Der Alte sah aus dem Fenster. Diederich wagte seine Neugier nicht zu zeigen. "Dumme Streiche? Das kann ich gar nicht glauben, denn mir hat er immer imponiert, gerade durch seine Intelligenz. Schon frueher, seine Aufsaetze. Und was er mir neulich ueber unseren Kaiser gesagt hat, dass er eigentlich gern der erste Arbeiterfuehrer waere...." "Davor behuete Gott die Arbeiter." "Wieso?" Diederich war tieferstaunt. "Weil es ihnen schlecht bekommen wuerde. Uns anderen ist es auch nicht gut bekommen." "Aber wir haben doch, dank den Hohenzollern, das einige Deutsche Reich." "Wir haben es nicht", sagte der alte Buck und stand ungewoehnlich rasch vom Stuhl auf. "Denn wir muessten, um unsere Einigkeit zu beweisen, einem eigenen Willen folgen koennen; und koennen wir's? Ihr waehnt euch einig, weil die Pest der Knechtschaft sich verallgemeinert! Das hat Herwegh, ein Ueberlebender wie ich, im Fruehjahr Einundsiebzig den Siegestrunkenen zugerufen. Was wuerde er heute sagen!" Diederich konnte, vor dieser Stimme aus dem Jenseits, nur stammeln: "Ach ja, Sie sind ein Achtundvierziger." "Mein lieber junger Freund, Sie wollen sagen, ein Narr und ein Besiegter. Ja! Wir sind besiegt worden, weil wir naerrisch genug waren, an dieses Volk zu glauben. Wir glaubten, es wuerde alles das selbst vollbringen, was es jetzt fuer den Preis der Unfreiheit von seinen Herren entgegennimmt. Wir dachten es maechtig, reich, voll Einsicht in seine eigenen Angelegenheiten und der Zukunft ergeben. Wir sahen nicht, dass es, ohne politische Bildung, deren es weniger hat als alle anderen, bestimmt sei, nach seinem Aufschwung den Maechten der Vergangenheit anheimzufallen. Schon zu unserer Zeit gab es allzu viele, die unbekuemmert um das Ganze, ihren Privatinteressen nachjagten und zufrieden waren, wenn sie in irgendeiner Gnadensonne sich waermend, den unedlen Beduerfnissen eines anspruchsvollen Genusslebens genuegen konnten. Seitdem sind sie Legion geworden, denn die Sorge um das oeffentliche Wohl ist ihnen abgenommen. Zur Grossmacht haben eure Herren euch schon gemacht, und indes ihr Geld verdient, wie ihr koennt, und es ausgebt, wie ihr moegt, werden sie euch - oder vielmehr sich - auch noch die Flotte bauen, die wir damals uns selbst gebaut haben wuerden. Unser Dichter damals wusste, was ihr erst jetzt lernen sollt: Und in den Furchen, die Kolumb gezogen, geht Deutschlands Zukunft auf!" "Bismarck hat eben wirklich etwas getan", sagte Diederich, leise triumphierend. "Das ist es gerade, dass er es hat tun duerfen! Und dabei hat er alles nur faktisch getan, formell aber im Namen seines Herrn. Da waren wir Buerger von achtundvierzig ehrlicher, das darf ich sagen, denn ich habe damals selbst bezahlt, was ich gewagt hatte." "Ich weiss wohl, Sie sind zum Tode verurteilt worden", sagte Diederich, wieder eingeschuechtert. "Ich bin verurteilt worden, weil ich die Souveraenitaet der Nationalversammlung gegen eine Partikularmacht verteidigte und das Volk, das sich in Notwehr befand, zum Aufstand fuehrte. So war in unseren Herzen die deutsche Einheit: sie war eine Gewissenspflicht, die eigene Schuld jedes einzelnen, fuer die er einstand. Nein! Wir huldigten keinem sogenannten Schoepfer der deutschen Einheit. Als ich damals, besiegt und verraten, hier oben im Hause mit meinen letzten Freunden die Soldaten des Koenigs erwartete, da war ich, gross oder gering, ein Mensch, der selbst am Ideal schuf: einer aus vielen, aber ein Mensch. Wo sind sie heute?" Der Alte hielt an und machte ein Gesicht, als lauschte er. Diederich war es schwuel. Er fuehlte, dass er zu dem allen nicht laenger schweigen duerfe. Er sagte: "Das deutsche Volk ist eben, Gott sei Dank, nicht mehr das Volk der Denker und Dichter, es strebt modernen und praktischen Zielen zu." Der Alte kehrte aus seinen Gedanken zurueck, er deutete nach der Zimmerdecke. "Damals war die ganze Stadt bei mir zu Hause. Jetzt ist es so einsam wie nie, zuletzt ging noch Wolfgang fort. Ich wuerde alles dahingeben, aber, junger Mann, wir sollen Respekt haben vor unserer Vergangenheit - auch wenn wir besiegt worden sind." "Zweifellos", sagte Diederich. "Und dann sind Sie immer noch der maechtigste Mann in der Stadt. Die Stadt, sagt man immer, gehoert dem Herrn Buck." "Das will ich aber gar nicht, ich will, dass sie sich selbst gehoert." Er atmete tief aus. "Das ist eine weitlaeufige Sache, Sie werden sie allmaehlich kennenlernen, wenn Sie Einblick in unsere Verwaltung bekommen. Wir werden naemlich jeden Tag heftiger bedraengt von der Regierung und ihren junkerlichen Auftraggebern. Heute will man uns zwingen, den Gutsbesitzern, die uns keine Steuern zahlen, unser Licht zu geben, morgen werden wir ihnen Strassen bauen muessen. Zuletzt geht es um unsere Selbstverwaltung. Sie werden sehen, wir leben in einer belagerten Stadt." Diederich laechelte ueberlegen. "So schlimm kann es wohl nicht sein, denn unser Kaiser ist doch eine so moderne Persoenlichkeit." "Nun ja", sagte der alte Buck. Er erhob sich, wiegte den Kopf - und dann zog er es vor, zu schweigen. Er reichte Diederich die Hand. "Mein lieber Doktor, Ihre Freundschaft wird mir gerade so wertvoll sein, als die Ihres Vaters mir war. Nach unserer Unterredung habe ich die Hoffnung, dass wir in allem einig gehen werden." Unter dem warmen blauen Blick des Alten schlug Diederich sich auf die Brust. "Ich bin ein durchaus liberaler Mann!" "Vor allem warne ich Sie vor dem Regierungspraesidenten von Wulckow. Er ist der Feind, der uns hier in die Stadt gesetzt worden ist. Der Magistrat unterhaelt nur die unumgaenglichen Beziehungen zum Praesidenten. Ich selbst habe die Ehre, von dem Herrn nicht gegruesst zu werden." "Oh!" machte Diederich, ehrlich erschuettert. Der alte Buck oeffnete ihm schon die Tuer, schien aber noch etwas zu ueberlegen. "Warten Sie!" Er trat eilig zu seiner Bibliothek, bueckte sich und tauchte aus einer staubigen Tiefe mit einem kleinen, fast quadratischen Buch auf. Er steckte es Diederich rasch zu, verstohlenen Glanz in seinem Gesicht, das erroetet war. "Da, nehmen Sie! Es sind meine 'Sturmglocken'! Man war auch Dichter - damals." Und er schob Diederich sanft hinaus. Die Fleischhauergrube stieg betraechtlich an, aber Diederich schnaufte nicht nur deshalb. Nachdem er zuerst nur eine gewisse Betaeubung empfunden hatte, stellte sich allmaehlich das Gefuehl heraus, dass er sich habe verblueffen lassen. "So ein alter Schwaetzer ist doch bloss noch eine Vogelscheuche, und mir imponiert er!" Unbestimmt gedachte er der Kinderzeit, als ihm der alte Herr Buck, der zum Tode verurteilt worden war, ebensoviel Hochachtung und ein aehnliches Grausen einfloesste wie der Polizist an der Ecke oder das Burggespenst. "Werd' ich denn ewig so weich bleiben? Ein anderer haette sich nicht so behandeln lassen!" Auch konnte es peinliche Folgen haben, dass er zu so vielen kompromittierenden Reden geschwiegen oder nur matt widersprochen hatte. Er legte sich energische Antworten zurecht, fuer das naechste Mal. "Das Ganze war eine Falle! Er hat mich einfangen und unschaedlich machen wollen ... Aber er soll sehen!" Diederich ballte die Faust in der Tasche, indes er stramm durch die Kaiser-Wilhelm-Strasse ging. "Vorlaeufig muss man sich noch mit ihm verhalten, aber wehe, wenn ich der Staerkere bin!" Das Haus des Buergermeisters war mit Oelfarbe neu gestrichen, und die Spiegelscheiben glaenzten wie je. Ein nettes Stubenmaedchen empfing ihn. Ueber eine Treppe mit einem freundlichen Knaben aus Biskuit, der eine Lampe trug, und durch ein Vorzimmer, worin fast vor jedem Moebel ein kleiner Teppich lag, ward Diederich in das Esszimmer gefuehrt. Es war aus hellem Holz mit appetitlichen Bildern, zwischen denen der Buergermeister und noch ein Herr beim zweiten Fruehstueck sassen. Doktor Scheffelweis reichte Diederich seine weissliche Hand hin und musterte ihn dabei ueber den Klemmer weg. Trotzdem wusste man nie genau, ob er einen ansah, so unbestimmt war der Blick seiner Augen, die farblos schienen wie das Gesicht und die seitwaerts fliehenden, duennen Bartkoteletts. Der Buergermeister setzte mehrmals zum Sprechen an, bis er endlich etwas fand, das man auf alle Faelle sagen konnte. "Schoene Schmisse", sagte er; und zu dem anderen Herrn: "Finden Sie nicht?" Der andere Herr legte Diederich zunaechst grosse Zurueckhaltung auf, denn er sah stark juedisch aus. Aber der Buergermeister stellte vor: "Herr Assessor Jadassohn, von der Staatsanwaltschaft" - was dann allerdings eine vollwertige Begruessung noetig machte. "Setzen Sie sich nur gleich," sagte der Buergermeister, "wir fangen gerade an." Er schenkte Diederich Porter ein und legte ihm Lachsschinken vor. "Meine Frau und meine Schwiegermutter sind ausgegangen, die Kinder in der Schule, dies ist die Stunde des Junggesellen, prost!" Der juedische Herr von der Staatsanwaltschaft hatte vorlaeufig nur fuer das Stubenmaedchen Augen. Waehrend sie neben ihm am Tisch zu tun hatte, war seine Hand verschwunden. Dann ging sie, und er wollte von oeffentlichen Angelegenheiten beginnen, aber der Buergermeister liess sich nicht unterbrechen. "Die beiden Damen kommen vor dem Mittagessen nicht zurueck, denn meine Schwiegermutter ist beim Zahnarzt. Ich kenne das, es kostet Muehe mit ihr, und inzwischen gehoert uns das Haus." Er holte einen Likoer aus dem Buefett, ruehmte ihn, liess sich seine Guete von den Gaesten bestaetigen und fuhr fort, eintoenig und vom Kauen unterbrochen, das Idyll seiner Vormittage zu preisen. Allmaehlich ward, in allem Glueck, seine Miene immer besorgter, er fuehlte wohl, das Gespraech koenne so nicht weitergehen; und nachdem eine Minute lang alle geschwiegen hatten, entschloss er sich. "Ich darf annehmen, Herr Doktor Hessling -: mein Haus liegt ja nicht in naechster Nachbarschaft des Ihren, und so wuerde ich es durchaus begreiflich finden, wenn Sie vor mir einige andere Herren aufgesucht haetten." Diederich erroetete schon fuer die Luege, die er noch nicht ausgesprochen hatte. "Es wuerde herauskommen", dachte er noch rechtzeitig, und er sagte: "Tatsaechlich habe ich mir erlaubt -. Das heisst, natuerlich war mein erster Weg zu Ihnen, Herr Buergermeister. Nur im Andenken an meinen Vater, der eine so grosse Verehrung fuer den alten Herrn Buck hatte -" "Begreiflich, durchaus begreiflich." Der Buergermeister nickte mit Nachdruck. "Herr Buck ist der aelteste unter unseren verdienten Buergern und uebt daher einen zweifellos legitimen Einfluss aus." "Vorlaeufig noch!" sagte mit unerwartet scharfer Stimme der juedische Herr von der Staatsanwaltschaft und sah Diederich herausfordernd an. Der Buergermeister hatte sich ueber seinen Kaese gebeugt, Diederich fand sich schutzlos, er blinzelte. Da der Blick des Herrn durchaus ein Bekenntnis verlangte, brachte er etwas hervor von "eingefleischtem Respekt" und fuehrte sogar Kindheitserinnerungen an, die es entschuldigen sollten, dass er zuerst bei Herrn Buck gewesen war. Dabei betrachtete er schreckerfuellt die ungeheuren, roten und weit abstehenden Ohren des Herrn von der Staatsanwaltschaft. Dieser liess Diederich fertig stammeln, wie einen Angeklagten, der sich verfing; endlich versetzte er schneidend: "Der Respekt ist in gewissen Faellen dazu da, dass man sich ihn abgewoehnt." Diederich stutzte; dann entschloss er sich zu einem verstaendnisvollen Gelaechter. Der Buergermeister sagte mit blassem Laecheln und einer versoehnlichen Geste: "Herr Assessor Doktor Jadassohn ist nun einmal gern geistreich, - was ich persoenlich ganz besonders an ihm schaetze. In meiner Stellung freilich bin ich genoetigt, die Dinge objektiv und voraussetzungslos zu betrachten. Und da muss ich denn sagen: einerseits ..." "Kommen wir gleich zum Andererseits!" verlangte Assessor Jadassohn. "Fuer mich als Vertreter einer staatlichen Behoerde wie als ueberzeugten Anhaenger der bestehenden Ordnung sind dieser Herr Buck und sein Genosse, der Reichstagsabgeordnete Kuehlemann, nach ihrer Vergangenheit und Gesinnung einfach Umstuerzler, und damit fertig. Ich mache aus meinem Herzen keine Moerdergrube, ich halte das nicht fuer deutsch. Volkskuechen gruenden, meinetwegen; aber das beste Futter fuer das Volk ist eine gute Gesinnung. Eine Idiotenanstalt mag auch ganz nuetzlich sein." "Aber nur eine kaisertreue!" ergaenzte Diederich. Der Buergermeister machte beschwichtigende Zeichen. "Meine Herren!" flehte er. "Meine Herren! Wenn wir uns denn aussprechen sollen, so ist es gewiss richtig, dass bei aller buergerlichen Hochschaetzung der genannten Herren andererseits doch -" "Andererseits!" wiederholte Jadassohn streng. "- das tiefste Bedauern zurueckbleibt ueber unsere leider so unguenstigen Beziehungen zu den Vertretern der Staatsregierung - wenn ich auch zu bedenken bitte, dass die ungewoehnliche Schaerfe des Herrn Regierungspraesidenten von Wulckow gegenueber den staedtischen Behoerden -" "Gegenueber schlecht gesinnten Koerperschaften!" warf Jadassohn ein. Diederich erlaubte sich: "Ich bin ein durchaus liberaler Mann, aber das muss ich sagen -" "Eine Stadt," erklaerte der Assessor, "die sich den berechtigten Wuenschen der Regierung verschliesst, darf allerdings nicht darueber erstaunen, dass ihr die kalte Schulter gezeigt wird." "Von Berlin nach Netzig", versicherte Diederich, "koennte man in der halben Zeit fahren, wenn wir besser mit den Herren oben staenden." Der Buergermeister liess sie ihr Duett beenden, er war bleich und hielt hinter dem Klemmer die Lider gesenkt. Ploetzlich sah er sie an mit einem duennen Laecheln. "Meine Herren, bemuehen Sie sich nicht, ich weiss, dass es eine zeitgemaessere Gesinnung gibt als die von den staedtischen Behoerden bekundete. Glauben Sie, bitte, dass es nicht mein Verschulden war, wenn an Seine Majestaet gelegentlich ihrer letzten Anwesenheit in der Provinz, waehrend der vorjaehrigen Manoever, kein Huldigungstelegramm geschickt worden ist ..." "Die Weigerung des Magistrats war durchaus undeutsch", stellte Jadassohn fest. "Das nationale Banner muss hochgehalten werden", verlangte Diederich. Der Buergermeister erhob die Arme. "Meine Herren, das weiss ich. Aber ich bin nur der Vorsitzende des Magistrats und muss leider seine Beschluesse ausfuehren. Aendern Sie die Verhaeltnisse! Herr Doktor Jadassohn erinnert sich noch an unseren Streit mit der Regierung wegen des sozialdemokratischen Lehrers Rettich. Ich konnte den Mann nicht massregeln. Herrn von Wulckow ist bekannt," - der Buergermeister kniff ein Auge zu - "dass ich es sonst getan haben wuerde." Man schwieg eine Weile und betrachtete einander. Jadassohn blies durch die Nase, als genuegte ihm das Gehoerte. Aber Diederich konnte nicht laenger an sich halten. "Die Vorfrucht der Sozialdemokratie ist der Liberalismus"! rief er. "Solche Leute wie Buck, Kuehlemann und Eugen Richter machen unsere Arbeiter frech. Mein Betrieb legt mir die schwersten Opfer an Arbeit und Verantwortung auf, und dann hab' ich noch Konflikte mit meinen Leuten. Und warum? Weil wir nicht einig sind gegen die rote Gefahr und es gewisse Arbeitgeber gibt, die im sozialistischen Fahrwasser schwimmen, wie zum Beispiel der Schwiegersohn des Herrn Buck. Was seine Fabrik einbringt, daran beteiligt der Herr Lauer seine Arbeiter. Das ist unmoralisch!" Hier blitzte Diederich. "Denn es untergraebt die Ordnung, und ich stehe auf dem Standpunkt, in dieser harten Zeit haben wir Ordnung noetiger als je, und darum brauchen wir ein festes Regiment, wie unser herrlicher junger Kaiser es fuehrt. Ich erklaere, dass ich in allem fest zu Seiner Majestaet stehe ..." Hier machten die beiden anderen Herren eine Verbeugung, die Diederich entgegennahm, indes er weiterblitzte. Im Gegensatz zu dem demokratischen Mischmasch, an den die absterbende Generation noch glaube, sei der Kaiser der Vertreter der Jugend, die persoenlichste Persoenlichkeit, von erfreulicher Impulsivitaet und ein hoechst origineller Denker. "Einer soll Herr sein! Auf allen Gebieten!" Diederich legte das vollstaendige Bekenntnis einer scharfen und schneidigen Gesinnung ab und erklaerte, dass mit dem alten freisinnigen Schlendrian auch in Netzig von Grund aus aufgeraeumt werden muesse. "Jetzt kommt eine neue Zeit!" Jadassohn und der Buergermeister hoerten still zu, bis er alles herausgesagt hatte; Jadassohns Ohren wurden dabei noch groesser. Dann kraehte er: "Auch in Netzig gibt es kaisertreue Deutsche!" Und Diederich noch lauter: "Die aber, die es nicht sind, werden wir uns einmal naeher ansehen. Es wird sich zeigen, ob gewissen Familien die Stellung, die sie einnehmen, noch zukommt. Vom alten Buck zu schweigen: wer sind denn seine Leute? Die Soehne verbauert oder verbummelt, ein Schwiegersohn, der Sozialist ist, und die Tochter soll ja -" Man sah einander an. Der Buergermeister kicherte und roetete sich blass. Vor Vergnuegen platzte er aus: "Und die Herren wissen noch gar nicht, dass der Bruder des Herrn Buck pleite ist!" Man aeusserte laermende Genugtuung. Der mit den fuenf eleganten Toechtern! Der Vorsitzende der "Harmonie"! Aber zu essen, das wusste Diederich, bekamen sie aus der Volkskueche. Daraufhin schenkte der Buergermeister nochmals Schnaepse ein und reichte Zigarren. Er zweifelte ploetzlich nicht mehr, dass ein Umschwung bevorstehe. "In anderthalb Jahren sind die Neuwahlen zum Reichstag. Bis dahin werden die Herren arbeiten muessen." Diederich schlug vor: "Betrachten wir drei uns schon jetzt als das engere Wahlkomitee!" Jadassohn erklaerte es fuer die erste Notwendigkeit, Fuehlung zu nehmen mit dem Herrn Regierungspraesidenten von Wulckow. "Streng vertraulich", setzte der Buergermeister hinzu und zwinkerte. Diederich bedauerte, dass die "Netziger Zeitung", das groesste Organ der Stadt, sich im freisinnigen Fahrwasser bewege. "So ein Judenblatt!" sagte Jadassohn. Wohingegen das regierungstreue Kreisblatt in der Stadt fast ohne Einfluss sei. Aber der alte Kluesing in Gausenfeld lieferte das Papier fuer beide Blaetter. Es schien Diederich nicht unmoeglich, durch ihn, der in der "Netziger Zeitung" Geld hatte, ihre Haltung zu beeinflussen. Er musste Angst bekommen, sonst das Kreisblatt zu verlieren. "Denn es gibt ja noch eine Papierfabrik in Netzig", sagte der Buergermeister und schmunzelte. Da trat das Zimmermaedchen ein und verkuendete, sie muesse nun den Tisch zum Mittagessen decken; die gnaedige Frau werde gleich zurueck sein - "und auch die Frau Hauptmann", setzte sie hinzu. Bei der Nennung dieses Titels erhob der Buergermeister sich sofort. Wie er seine Gaeste hinausgeleitete, hielt er den Kopf gesenkt und war, trotz der genossenen Schnaepse, ganz milchfarben. Auf der Treppe zog er Diederich am Aermel. Jadassohn war zurueckgeblieben, und man hoerte das Maedchen leise kreischen. An der Haustuer laeutete es schon. "Mein lieber Herr Doktor," wisperte der Buergermeister, "Sie haben mich doch nicht missverstanden. Bei alledem habe ich natuerlich einzig das Interesse der Stadt im Auge. Mir liegt es selbstverstaendlich ganz fern, irgend etwas zu unternehmen, worin ich mich nicht einig weiss mit den Koerperschaften, an deren Spitze zu stehen ich die Ehre habe." Er blinzelte eindringlich. Bevor Diederich sich besonnen hatte, betraten die Damen das Haus, und der Buergermeister liess Diederichs Aermel los, um ihnen entgegenzueilen. Seine Frau, verhutzelt und mit Sorgenfalten, hatte kaum Zeit, die Herren zu begruessen; sie musste die Kinder trennen, die einander pruegelten. Ihre Mutter aber, einen Kopf hoeher und noch jugendlich, musterte streng die geroeteten Gesichter der Fruehstuecksgaeste. Dann schritt sie junonisch auf den Buergermeister zu, den man kleiner werden sah ... Assessor Dr. Jadassohn hatte sich schon von dannen gemacht, Diederich vollfuehrte formelle Verbeugungen, die unerwidert blieben, und eilte hinterdrein. Ihm war aber beklommen, er sah unruhig auf der Strasse umher, hoerte nicht, was Jadassohn sagte, und ploetzlich kehrte er um. Er musste mehrmals und heftig laeuten, denn drinnen war grosser Laerm. Die Herrschaften standen noch am Fusse der Treppe, auf der die Kinder sich schreiend umherstiessen, und sie debattierten. Die Frau Buergermeister wuenschte, dass ihr Gatte beim Schuldirektor etwas gegen einen Oberlehrer unternehme, der ihren Sohn schlecht behandelte. Dagegen forderte die Frau Hauptmann von ihrem Schwiegersohn, er solle den Oberlehrer zum Professor ernennen, denn seine Frau habe den groessten Einfluss im Vorstand der Bethlehemstiftung fuer gefaehrdete Maedchen. Der Buergermeister beschwor sie abwechselnd mit den Haenden. Endlich konnte er ein Wort anbringen. "Einerseits ...", sagte er. Aber da hatte Diederich ihn am Aermel ergriffen. Nach vielen Entschuldigungen in der Richtung der Damen zog er ihn beiseite, und er fluesterte bebend: "Verehrter Herr Buergermeister, es liegt mir daran, Missverstaendnissen vorzubeugen. Ich darf daher wiederholen, dass ich ein durchaus liberaler Mann bin." Doktor Scheffelweis versicherte fluechtig, dass er hiervon gerade so ueberzeugt sei wie von seiner eigenen, gut liberalen Gesinnung. Schon ward er abgerufen, und Diederich verliess, ein wenig erleichtert, das Haus. Jadassohn erwartete ihn grinsend. "Sie haben wohl Angst gehabt? Lassen Sie nur! Mit unserem Stadtoberhaupt kompromittiert sich niemand, er ist immer, wie der liebe Gott, mit den staerksten Bataillonen. Heute wollte ich nur feststellen, wie weit er sich schon mit Herrn von Wulckow eingelassen hat. Es steht nicht uebel, wir koennen uns ein Stueck vorwagen." "Vergessen Sie, bitte, nicht," sagte Diederich, mit Zurueckhaltung, "dass ich in der Netziger Buergerschaft zu Hause und natuerlich auch liberal bin." Jadassohn sah ihn von der Seite an. "Neuteutonia?" fragte er. Und als Diederich sich erstaunt umwandte: "Wie geht es denn meinem alten Freund Wiebel?" "Sie kennen ihn? Er war mein Leibbursch!" "Kennen! Ich habe mit ihm gehangen." Diederich ergriff die Hand, die Jadassohn hinhielt, sie schuettelten einander kraftvoll. "Na dann!" "Na also!" Und Arm in Arm gingen sie in den Ratskeller, Mittag essen. Dort war es einsam und daemmerig, hinten ward fuer sie das Gas angezuendet, und bis die Suppe kam, machten sie alte Kommilitonen ausfindig. Der dicke Delitzsch! Diederich berichtete mit der Genauigkeit eines Augenzeugen ueber seinen tragischen Tod. Das erste Glas Rauenthaler weihten sie still seinem Andenken. Es zeigte sich, dass auch Jadassohn die Februarkrawalle mitgemacht und damals die Macht verehren gelernt hatte, wie Diederich. "Seine Majestaet hat einen Mut bewiesen," sagte der Assessor, "dass einem schwindlig werden konnte. Mehrmals habe ich, weiss Gott, geglaubt -." Er stockte, sie sahen schaudernd einander in die Augen. Um ueber die entsetzliche Vorstellung hinwegzukommen, erhoben sie die Glaeser. "Gestatte mir", sagte Jadassohn. "Ziehe gleich mit", erwiderte Diederich. Und Jadassohn: "Werte Lieben mit eingeschlossen." Und Diederich: "Werde zu Hause davon zu ruehmen wissen." Dann liess sich Jadassohn, obwohl sein Essen kalt ward, auf eine ausfuehrliche Wuerdigung des kaiserlichen Charakters ein. Die Philister, Noergler und Juden mochten an ihm aussetzen was sie wollten, alles in allem war unser herrlicher junger Kaiser die persoenlichste Persoenlichkeit, von erfreulicher Impulsivitaet und ein hoechst origineller Denker. Diederich glaubte dies auch schon festgestellt zu haben und nickte befriedigt. Er sagte sich, dass das Aeussere eines Menschen zuweilen truege, und dass die deutsche Gesinnung nicht notwendig von der Groesse der Ohren abhaenge. Sie leerten ihre Glaeser auf den gluecklichen Ausgang des Kampfes fuer Thron und Altar, gegen den Umsturz in jeder Form und Verkleidung. So gelangten sie wieder zu den Zustaenden in Netzig. Sie waren sich einig darin, dass der neue nationale Geist, fuer den es die Stadt zu erobern galt, kein anderes Programm brauche als den Namen Seiner Majestaet. Die politischen Parteien waren alter Troedel, wie Seine Majestaet selbst gesagt hatte. "Ich kenne nur zwei Parteien, die fuer mich und die wider mich", hatte er gesagt, und so war es. In Netzig ueberwog leider noch die Partei, die gegen ihn war, aber das sollte sich aendern, und zwar - dies war Diederich klar - vermittels des Kriegervereins. Jadassohn, der ihm nicht angehoerte, uebernahm es gleichwohl, Diederich mit den leitenden Persoenlichkeiten bekannt zu machen. Da war vor allem Pastor Zillich, ein Korpsbruder von Jadassohn, ein echt deutscher Mann! Gleich nachher wollten sie ihn besuchen. Sie tranken auf sein Wohl. Auch auf seinen Hauptmann trank Diederich, den Hauptmann, der aus einem strengen Vorgesetzten sein bester Freund geworden war. "Das Dienstjahr ist doch das Jahr, das ich aus meinem Leben am wenigsten missen moechte." Unvermittelt und schon ziemlich geroetet, rief er aus: "Und solche erhebenden Erinnerungen moechten diese Demokraten uns verekeln!" Der alte Buck! Diederich konnte sich ploetzlich nicht fassen vor Wut, er stammelte: "Am Dienen will solch ein Mensch uns hindern, er sagt, wir sind Knechte! Weil er mal Revolution gemacht hat -" "Das ist ja schon nicht mehr wahr", sagte Jadassohn. "Darum sollen wir uns wohl alle zum Tode verurteilen lassen? Haetten sie ihn wenigstens gekoepft!... Die Hohenzollern sollen uns schlecht bekommen sein!" "Ihm sicher", sagte Jadassohn und tat einen grossen Zug. "Aber ich stelle fest -" Diederich rollte die Augen -, "dass ich all seinen laesterlichen Unfug nur angehoert habe, um mich darueber zu unterrichten, wes Geistes Kind er ist. Ich nehme Sie zum Zeugen, Herr Assessor! Wenn der alte Intrigant jemals behaupten sollte, dass ich sein Freund bin und seine infamen Majestaetsbeleidigungen gebilligt habe, dann nehme ich Sie zum Zeugen, dass ich gleich heute protestiert habe!" Der Schweiss brach ihm aus, denn er dachte an die Sache mit der Baukommission und an den Schutz, den er bei ihr geniessen sollte ... Unvermittelt warf er ein Buch auf den Tisch, ein kleines, fast quadratisches Buch, und stiess ein Hohngelaechter dabei aus. "Dichten tut er auch!" Jadassohn blaetterte. "Turnerlieder. Aus der Gefangenschaft. Ein Hoch der Republik! und Am Weiher lag ein Juengling, truebselig anzuschauen ... Stimmt, so waren die. Straeflinge versorgen und an den Grundlagen ruetteln. Sentimentaler Umsturz. Gesinnung verdaechtig und Haltung schlapp. Da stehen wir, Gott sei Dank, anders da." "Das wollen wir hoffen", sagte Diederich. "In der Verbindung haben wir Mannhaftigkeit und Idealismus gelernt, das genuegt, da eruebrigt sich das Dichten." "Fort mit euren Altarkerzen!" deklamierte Jadassohn. "Das ist etwas fuer meinen Freund Zillich. Jetzt hat er sein Schlaefchen hinter sich, wir koennen losgehen." Sie fanden den Pastor beim Kaffee. Er wollte Frau und Tochter sogleich hinausschicken, Jadassohn hielt die Hausfrau galant zurueck und versuchte auch dem Fraeulein die Hand zu kuessen, aber sie wandte ihm den Ruecken. Diederich, sehr aufgeheitert, bat die Damen dringend, zu bleiben, und ihm gelang es. Er erklaerte ihnen, dass Netzig nach Berlin betraechtlich still wirke. "Die Damenwelt ist auch noch zurueck. Mein Ehrenwort, gnaediges Fraeulein, Sie sind hier die erste, die ruhig Unter den Linden spazierengehen koennte, und kein Mensch wuerde merken, dass Sie aus Netzig sind." Darauf erfuhr er, dass sie wirklich einmal in Berlin gewesen war, und sogar bei Ronacher. Diederich zog hieraus Vorteil, er erinnerte sie an ein dort gehoertes Couplet, das er ihr aber nur ins Ohr sagen koenne. "Unsre lieben suessen Dam'n, zeigen alles, was sie ham'n" ... Da sie einen dreisten Seitenblick warf, streifte er mit dem Bart ihren Hals. Sie sah ihn flehend an, worauf er ihr erst recht versicherte, dass sie ein "reizender Kaefer" sei. Sie fluechtete mit geschlossenen Augen zu ihrer Mutter, die alles ueberwacht hatte. Der Pastor war mit Jadassohn in ernstem Gespraech. Er klagte, dass der Kirchenbesuch in Netzig unerhoert vernachlaessigt werde. "Am Sonntag Jubilate: verstehen Sie wohl, am Sonntag Jubilate habe ich vor dem Kuester und drei alten Damen aus dem Jungfrauenstift predigen muessen. Die anderen hatten Influenza." Jadassohn sagte: "Bei der lauen, um nicht zu sagen, feindseligen Haltung, die die herrschende Partei den kirchlichen und religioesen Dingen gegenueber einnimmt, muss man sich ueber die drei alten Damen wundern. Warum besuchen sie nicht lieber die freigeistigen Vortraege des Doktors Heuteufel?" Da schnellte der Pastor vom Stuhl. Sein Bart schien aufzuschaeumen, so sehr schnob er, und sein Gehrock warf wilde Falten. "Herr Assessor!" brachte er hervor. "Dieser Mensch ist mein Schwager, und die Rache ist mein! spricht der Herr. Aber obwohl dieser Mensch mein Schwager und meiner leiblichen Schwester Mann ist, kann ich den Herrn nur anflehen, ja, mit gerungenen Haenden anflehen, dass er von seinem Rachestrahl Gebrauch mache. Denn sonst wuerde er eines Tages genoetigt sein, Pech und Schwefel auf ganz Netzig regnen zu lassen. Kaffee, verstehen Sie, Kaffee gibt Heuteufel den Leuten umsonst, damit sie kommen und ihre Seele von ihm fangen lassen. Und dann erzaehlt er ihnen, die Ehe sei kein Sakrament, sondern ein Vertrag - als ob ich mir einen Anzug bestelle." - Der Pastor lachte vor Erbitterung. "Pfui", sagte Diederich mit tiefer Stimme. Und indes Jadassohn den Pastor seines positiven Christentums versicherte, begann Diederich schon wieder, im Schutz eines Sessels, sich Kaethchen handgreiflich zu naehern. "Fraeulein Kaethchen," sagte er dabei, "ich kann Ihnen auf das bestimmteste erklaeren, dass fuer mich die Ehe tatsaechlich ein Sakrament ist." Kaethchen erwiderte: "Schaemen Sie sich, Herr Doktor." Ihm ward heiss. "Machen Sie nicht solche Augen!" Kaethchen seufzte. "Sie sind schrecklich raffiniert. Wahrscheinlich sind Sie auch nicht besser als der Herr Assessor Jadassohn. Ihre Schwestern haben mir schon erzaehlt, was Sie in Berlin alles angestellt haben. Es sind doch meine besten Freundinnen." Dann werde man sich doch bald wiedersehen? - Ja, in der "Harmonie". "Aber Sie brauchen nicht zu denken, dass ich Ihnen irgendwas glaube. Sie sind ja mit Guste Daimchen zusammen am Bahnhof angekommen." Was das beweise, fragte Diederich. Er protestiere gegen alle Folgerungen, die man aus dieser rein zufaelligen Tatsache etwa ziehen wolle. Fraeulein Daimchen sei uebrigens verlobt. "Ach die!" machte Kaethchen. "Die geniert das nicht, sie ist so graesslich kokett." Auch die Frau Pastor bestaetigte es. Noch heute habe sie Guste in Lackschuhen und lila Struempfen gesehen. Das verspreche nichts Gutes. Kaethchen verzog den Mund. "Na und die Erbschaft -." Dieser Zweifel machte, dass Diederich bestuerzt verstummte. Der Pastor hatte dem Assessor soeben die Notwendigkeit zugegeben, die Lage der christlichen Kirche in Netzig einmal naeher mit den Herren zu eroertern und verlangte von seiner Frau den Mantel und den Hut. Auf der Treppe war es schon dunkel. Da die beiden anderen vorangingen, konnte Diederich noch einmal Kaethchens Hals ueberfallen. Sie sagte ersterbend: "So mit dem Bart kitzeln tut keiner in Netzig" - was ihm zuerst schmeichelte, gleich darauf aber gab es ihm peinliche Vermutungen ein. So liess er Kaethchen einfach los und verschwand. Jadassohn erwartete ihn unten, er sagte leise: "Nur Mut! Der Alte hat nichts gemerkt, und die Mutter tut so." Er zwinkerte aufdringlich. An der Marienkirche vorueber wollten die drei Herren den Markt erreichen, der Pastor blieb aber stehen, mit einer Kopfbewegung deutete er hinter sich. "Die Herren wissen wohl, wie die Gasse heisst, links von der Kirche unter dem Bogen? Dies schwarze Loch von einer Gasse, oder vielmehr das gewisse Haus darin." "Klein-Berlin", sagte Jadassohn, denn der Pastor ging nicht weiter. "Klein-Berlin", wiederholte er, schmerzlich laechelnd, und noch einmal mit der Gebaerde heiligen Zornes, so dass mehrere Leute sich umsahen: "Klein-Berlin ... Im Schatten meiner Kirche! Solch ein Haus! Und der Magistrat will mich nicht hoeren, er spottet meiner. Aber er spottet noch eines anderen, -" damit setzte sich der Pastor wieder in Bewegung - "und der laesset seiner nicht spotten." Auch Jadassohn war der Meinung, dass er seiner nicht spotten lasse. Diederich aber sah, indes seine Begleiter sich ereiferten, vom Rathaus her Guste Daimchen nahen. Er neigte formvoll den Hut vor ihr, und sie laechelte schnippisch. Ihm fiel auf, dass Kaethchen Zillich gerade so weissblond war und auch diese kleine, frech eingedrueckte Nase hatte. Eigentlich war es gleich, ob die oder die. Guste freilich zeichnete sich durch eine handliche Breite aus. "Und die laesst sich nichts gefallen. Gleich hat man eine Ohrfeige." Er wandte sich um nach Guste: von hinten war sie ausserordentlich rund und wackelte. In diesem Augenblick war es fuer Diederich entschieden: Die oder keine! Die beiden anderen hatten sie nachtraeglich auch bemerkt. "War das nicht das Toechterchen der Frau Oberinspektor Daimchen?" fragte der Pastor; und er setzte hinzu: "Unsere Bethlehemstiftung fuer gefaehrdete Jungfrauen wartet noch immer auf die Zuwendungen der Guten. Ob Fraeulein Daimchen zu den Guten gehoert? Die Leute sagen, sie habe eine Million geerbt." Jadassohn beeilte sich, dies fuer weit uebertrieben zu erklaeren. Diederich widersprach; er kenne die Verhaeltnisse, der verstorbene Onkel habe mit Zichorie noch viel mehr verdient, als man glaube. Er behauptete es so lange, bis der Assessor ihm verhiess, er werde durch das Gericht in Magdeburg die Wahrheit in Erfahrung bringen. Darauf schwieg Diederich, zufriedengestellt. "Uebrigens", sagte Jadassohn, "faellt das Geld doch nur an die Bucks, will sagen an den Umsturz." Aber Diederich wollte auch hierueber besser unterrichtet sein. "Fraeulein Daimchen und ich sind naemlich zusammen hier angekommen", sagte er versuchsweise. - "Ach so", machte Jadassohn. "Darf man etwa gratulieren?" Diederich hob die Achseln wie bei einer Taktlosigkeit. Jadassohn entschuldigte sich; er habe nur geglaubt, der junge Buck -. "Wolfgang?" fragte Diederich. "Mit dem war ich in Berlin taeglich zusammen. Er lebt dort mit einer Schauspielerin." Der Pastor raeusperte sich missbilligend. Da man eben auf den Theaterplatz gelangte, sah er streng hinueber. Er versetzte: "Klein-Berlin liegt wohl bei meiner Kirche, aber doch wenigstens in einem dunklen Winkel. Dieser Tempel der Sittenlosigkeit bruestet sich auf offenem Platz, und unsere Soehne und Toechter -" er zeigte nach dem Buehneneingang, wo einige Mitglieder des Theaters standen - "streifen mit dem Aermel an Buhldirnen!" Diederich erklaerte dies, mit bekuemmerter Miene, fuer tief bedauerlich - waehrend Jadassohn sich ueber die "Netziger Zeitung" entruestete, die frohlockt hatte, weil in den Stuecken der letzten Saison vier uneheliche Kinder vorgekommen seien, und die das fuer einen Fortschritt hielt! Inzwischen bogen sie in die Kaiser-Wilhelm-Strasse und hatten verschiedene Herren zu gruessen, die eben das Haus der Loge betraten. Als sie die tief gezogenen Huete wieder aufgesetzt hatten und vorueber waren, sagte Jadassohn: "Man wird sich die Herrschaften merken muessen, die den freimaurerischen Unfug noch mitmachen. Seine Majestaet missbilligt ihn entschieden." "Von meinem Schwager Heuteufel wundert mich selbst das gefaehrlichste Sektenwesen nicht", erklaerte der Pastor. "Nun, und der Herr Lauer?" meinte Diederich. "Ein Mensch, der sich nicht entbloedet, seine Arbeiter am Gewinn zu beteiligen? Dem ist alles zuzutrauen!" "Das Unerhoerteste", behauptete Jadassohn, "ist doch, dass Herr Landgerichtsrat Fritzsche sich in dieser Judengesellschaft zeigt: ein koeniglicher Landgerichtsrat Arm in Arm mit dem Wucherer Cohn. Wie haisst Cohn", machte Jadassohn und steckte den Daumen unter die Achsel. Diederich sagte: "Da er ja mit der Frau Lauer -" Er brach ab und erklaerte, dann begreife er allerdings, dass diese Leute vor Gericht immer recht bekaemen. "Sie halten zusammen und schmieden Raenke." Pastor Zillich murmelte sogar etwas von Orgien, die sie in dem Haus dort feiern sollten und bei denen schon unaussprechliche Dinge vorgekommen waren. Aber Jadassohn laechelte bedeutsam: "Nun, gluecklicherweise sieht ihnen Herr von Wulckow gerade in die Fenster hinein." Und Diederich nickte beifaellig zu dem Gebaeude der Regierung hinueber. Gleich daneben, vor dem Bezirkskommando, ging ein Wachtposten auf und ab. "Da lacht einem doch das Herz, wenn man das Gewehr so eines braven Burschen blinken sieht!" rief Diederich aus. "Damit halten wir die Bande in Schach." Das Gewehr blinkte freilich nicht, denn es ward dunkel. Schon schoben sich Abteilungen heimkehrender Arbeiter durch das abendliche Gedraenge. Jadassohn schlug einen Daemmerschoppen bei Klappsch vor, gleich um die Ecke. Dort war es gemuetlich, zu dieser Stunde kam niemand hin. Auch war Klappsch ein Gutgesinnter, der dem Pastor, indes seine Tochter das Bier brachte, seinen heissen Dank aussprach fuer die segensreiche Arbeit, die er in der Bibelstunde an seinen Jungen vollbringe. Der Aelteste hatte zwar doch wieder Zucker gestohlen, dafuer aber hatte er nachts nicht schlafen koennen, sondern seine Suende Gott so laut gebeichtet, dass Klappsch es hoerte und ihn durchpruegeln konnte. Von da kam das Gespraech auf die Beamten der Regierung, die Klappsch mit Fruehstueck versorgte und von denen er berichten konnte, wie sie am Sonntag die Kirchzeit verbrachten. Jadassohn machte sich Notizen, und gleichzeitig verschwand seine Hand hinter Fraeulein Klappsch. Diederich besprach mit Pastor Zillich die Gruendung eines christlichen Arbeitervereins. Er verhiess: "Wer von meinen Leuten nicht 'rein will, fliegt!" Diese Aussichten heiterten den Pastor auf; nachdem Fraeulein Klappsch mehrmals Bier und Kognak gebracht hatte, befand er sich in demselben Zustand hoffnungsvoller Entschlossenheit, den seine beiden Gefaehrten im Laufe des Tages erreicht hatten. "Mein Schwager Heuteufel", rief er und schlug auf den Tisch, "soll so viel von der Affenverwandtschaft predigen, wie er will, ich krieg' meine Kirche doch wieder voll!" "Nicht nur Ihre", beteuerte Diederich. "Na, es gibt nun mal zu viele Kirchen in Netzig", gestand der Pastor. Da sagte Jadassohn schneidend: "Zu wenige, Mann Gottes, zu wenige!" Und er nahm Diederich zum Zeugen, wie in Berlin die Dinge sich entwickelt hatten. Auch dort standen die Kirchen leer, bis Seine Majestaet selbst eingegriffen hatte. "Sorgen Sie dafuer," hatte er einer Abordnung der staedtischen Behoerden gesagt, "dass in Berlin Kirchen gebaut werden." Nun wurden sie gebaut, die Religion war wieder aktuell, es kam Betrieb hinein. Und alle, der Pastor, der Kneipwirt, Jadassohn und Diederich begeisterten sich fuer die tiefe Froemmigkeit des Monarchen. Da fiel ein Schuss. "Es hat geknallt!" Jadassohn sprang zuerst auf, alle sahen erbleicht einander an. Vor Diederichs innerem Auge erschien blitzschnell das knochige Gesicht Napoleon Fischers, seines Maschinenmeisters, mit dem schwarzen Bart, durch den man die graue Haut sah, und er stammelte: "Der Umsturz! Es geht los!" Draussen war Getrappel von Laufenden: auf einmal griffen alle nach ihren Hueten und rannten hinaus. Die Leute, die sich schon angesammelt hatten, hielten in einem scheuen Bogen von der Ecke des Bezirkskommandos bis an die Treppe der Freimaurerloge. Drueben, wo der Kreis offen stand, lag jemand, das Gesicht nach unten, mitten auf der Strasse. Und der Soldat, der vorhin so munter auf und ab gegangen war, stand jetzt unbeweglich vor seinem Schilderhaus. Der Helm hatte sich ihm verschoben, man sah, dass er bleich war, den Mund offen hatte und auf den Gefallenen hinstierte - indes er sein Gewehr beim Lauf hielt und es am Boden schleppen liess. Im Publikum, zumeist Arbeitern und Frauen aus dem Volk, ward dumpf gemurrt. Ploetzlich sagte eine Maennerstimme sehr laut: "Oho!" - und darauf trat tiefe Stille ein. Diederich und Jadassohn verstaendigten sich durch einen blassen Blick ueber das Kritische des Augenblicks. Die Strasse herunter lief ein Schutzmann und ihm voraus ein Maedchen, dessen Rock wehte und das schon von weitem rief: "Da liegt er! Der Soldat hat geschossen!" Sie war angelangt, sie warf sich auf die Knie, sie ruettelte den Mann. "Auf! Steh doch auf!" Sie wartete. In seinen Fuessen schien es zu zucken; aber er blieb liegen, Arme und Beine ueber das Pflaster gestreckt. Da schrie sie los: "Karl!" Es gellte, dass alle auffuhren. Frauen schrien mit, mehrere Maenner stuerzten vor, die Faeuste geballt. Die Ansammlung war dichter geworden; zwischen den Wagen, die halten mussten, quoll Nachschub hervor; und in dem drohenden Gedraenge arbeitete das Maedchen sich ab, unter ihren aufgeloesten Haaren, die flatterten, und mit verzerrtem, nassem Gesicht, woraus wohl Geschrei kam, aber man hoerte es nicht, der Laerm verschlang es. Der einzige Schutzmann draengte mit ausgebreiteten Armen die Menge zurueck, sie trat sonst auf den Liegenden. Er schrie vergebens gegen sie an, tanzte ihr auf den Fuessen und sah sich, den Kopf verlierend, in der Luft nach Hilfe um. Und sie kam. Im Regierungsgebaeude ging ein Fenster auf, ein grosser Bart erschien, und eine Stimme drang heraus, eine furchtbare Bassstimme, die jeder, auch wenn er sie noch nicht verstand, durch allen Aufruhr droehnen hoerte wie fernen Kanonendonner. "Wulckow", sagte Jadassohn. "Na endlich." "Ich verbitte mir das!" toente es herunter. "Wer erlaubt sich hier vor meinem Hause Laerm zu machen?" Und da es schon ruhiger ward: "Wo ist der Posten?" Jetzt sahen die meisten erst, dass der Soldat sich in sein Schilderhaus zurueckgezogen hatte: so tief wie moeglich, und nur der Gewehrlauf stand hervor. "Komm 'raus, mein Sohn!" befahl der Bass von oben. "Du hast deine Pflicht getan. Er hat dich gereizt. Fuer deine Tapferkeit wird Seine Majestaet dich belohnen. Verstanden?" Alle hatten ihn verstanden und waren verstummt, sogar das Maedchen. Um so ungeheurer droehnte er. "Zerstreut euch sofort, sonst lass' ich schiessen!" Eine Minute, und einige liefen schon. Gruppen von Arbeitern loesten sich los, zoegerten - und gingen wieder ein Stueck weiter, mit gesenkten Koepfen. Der Regierungspraesident rief noch hinunter: "Paschke, holen Sie mal 'n Doktor!" Dann klappte er das Fenster wieder zu. Im Eingang der Regierung aber ward es lebendig. Ploetzlich waren Herren da, die kommandierten, eine Menge Schutzleute liefen von allen Seiten zusammen, knufften auf das Publikum ein, das noch uebrig war, und schrien ganz allein. Diederich und seine Begleiter, die sich hinter ihre Ecke zurueckgezogen hatten, sahen drueben auf der Treppe der Loge einige Herren stehen. Jetzt machte Doktor Heuteufel sich zwischen ihnen Platz. "Ich bin Arzt", sagte er laut, ging rasch ueber die Strasse und beugte sich zu dem Verwundeten. Er wendete ihn um, oeffnete ihm die Weste und legte das Ohr an seine Brust. In diesem Augenblick waren alle still, sogar die Schutzleute schrien nicht mehr; das Maedchen aber stand da, vorwaerts geneigt, die Schultern hinaufgezogen wie unter einem drohenden Schlag, und die Faust am Herzen geballt, als sei es dies Herz, das nun stillstehen sollte. Doktor Heuteufel erhob sich. "Der Mann ist tot", sagte er. Gleichzeitig bemerkte er das Maedchen, das schwankte. Er griff nach ihr. Aber sie stand schon wieder, sie sah auf das Gesicht des Toten nieder und sagte nur: "Karl." Noch leiser: "Karl." Doktor Heuteufel sah umher und fragte: "Was soll mit dem Maedchen geschehen?" Da trat Jadassohn vor. "Assessor Jadassohn von der Staatsanwaltschaft", sagte er. "Das Maedchen ist abzufuehren. Da ihr Geliebter den Posten gereizt hat, liegt Verdacht vor, dass sie sich an der strafbaren Handlung beteiligt hat. Wir werden die Untersuchung einleiten." Zwei Schutzleute, denen er winkte, fassten das Maedchen schon an. Doktor Heuteufel erhob die Stimme: "Herr Assessor, ich erklaere als Arzt, dass der Zustand des Maedchens seine Verhaftung nicht zulaesst." Jemand sagte: "Fuehren Sie doch auch den Toten ab!" Aber Jadassohn kraehte: "Herr Fabrikbesitzer Lauer, ich verbitte mir jede Kritik meiner amtlichen Massnahmen!" Diederich inzwischen hatte Zeichen hoher Erregung von sich gegeben. "Oh!... Ah!... Aber das ist -." Er war ganz bleich; er setzte an: "Meine Herren ... Meine Herren, ich bin in der Lage -. Ich kenne diese Leute: jawohl, den Mann und das Maedchen. Doktor Hessling mein Name. Beide waren bis heute in meiner Fabrik beschaeftigt. Ich musste sie entlassen wegen oeffentlich begangener unsittlicher Handlungen." "Aha!" machte Jadassohn. Pastor Zillich ruehrte sich. "Das ist fuerwahr der Finger Gottes", sagte er. Der Fabrikant Lauer hatte sich in seinem grauen Spitzbart heftig geroetet, seine gedrungene Gestalt ward geschuettelt vom Zorn. "Ueber den Finger Gottes laesst sich streiten. Sicher scheint nur, Herr Doktor Hessling, dass der Mann sich zu Ausschreitungen hat hinreissen lassen, weil die Entlassung ihm zu Herzen gegangen ist. Er hatte eine Frau, vielleicht auch Kinder." "Sie waren gar nicht verheiratet", sagte Diederich, seinerseits entruestet. "Ich weiss es von ihm selbst." "Was aendert das," fragte Lauer. Da erhob der Pastor die Arme. "Sind wir denn schon so weit," rief er, "dass es nichts aendert, ob das sittliche Gesetz Gottes befolgt wird oder nicht?" Lauer erklaerte es fuer unangebracht, auf der Strasse und im Augenblick, wo jemand mit behoerdlicher Billigung totgeschossen worden sei, ueber sittliche Gesetze zu debattieren; und er wandte sich an das Maedchen, um ihm Arbeit in seiner Werkstatt anzubieten. Inzwischen war ein Sanitaetswagen angelangt; der Tote ward vom Boden aufgenommen. Wie man ihn aber hineinschob, fuhr das Maedchen aus seiner Starrheit empor, stuerzte sich ueber die Bahre, entriss sie, ehe man es sich versah, den Maennern, dass sie niederfiel - und zusammen mit dem Toten, in ihn verkrampft und unter gellendem Geschrei rollte sie auf das Pflaster. Mit grosser Muehe ward sie von dem Leichnam geloest und in eine Droschke gehoben. Der Assistenzarzt, der den Krankenwagen begleitet hatte, fuhr mit ihr fort. Auf den Fabrikanten Lauer, der mit Heuteufel und den anderen Logenbruedern weitergehen wollte, trat Jadassohn zu, in drohender Haltung. "Einen Augenblick, bitte. Sie aeusserten da vorhin, dass hier mit behoerdlicher Billigung - ich nehme die Herren zu Zeugen, dass dies Ihr Ausdruck war - also mit behoerdlicher Billigung jemand totgeschossen sei. Ich moechte fragen, ob das von Ihrer Seite vielleicht eine Missbilligung der Behoerde bedeuten sollte." "Ach so", machte Lauer und sah ihn an. "Mich moechten Sie wohl auch abfuehren lassen?" "Zugleich", fuhr Jadassohn mit hoher, schneidiger Stimme fort, "mache ich Sie darauf aufmerksam, dass das Verhalten eines Postens, der ein ihn belaestigendes Individuum niederschiesst, vor wenigen Monaten, naemlich im Fall Lueck, von massgebender Stelle als korrekt und tapfer bezeichnet und durch Auszeichnungen und Gnadenbeweise belohnt worden ist. Hueten Sie sich vor einer Kritik der Allerhoechsten Handlungen!" "Ich habe keine ausgesprochen," sagte Lauer. "Ausgesprochen habe ich bis jetzt nur meine Missbilligung des Herrn dort mit dem gefaehrlichen Schnurrbart." "Wie?" fragte Diederich, der noch immer die Pflastersteine ansah, wo der Erschossene gefallen war und wo ein wenig Blut lag. Er begriff endlich, dass er herausgefordert war. "Der Schnurrbart wird von Seiner Majestaet getragen!" sagte er fest. "Es ist die deutsche Barttracht. Im uebrigen lehne ich jede Diskussion mit einem Arbeitgeber ab, der den Umsturz foerdert." Lauer oeffnete schon wuetend den Mund, obwohl der Bruder des alten Buck, Heuteufel, Cohn und Landgerichtsrat Fritzsche ihn fortziehen wollten; und neben Diederich reckten sich kampfbereit Jadassohn und Pastor Zillich: - da erschien im Eilschritt eine Abteilung Infanterie, sperrte die Strasse ab, die ganz geleert war, und der Leutnant, der die Fuehrung hatte, forderte die Herren zum Weitergehen auf. Alle gehorchten schleunigst; sie sahen noch, wie der Leutnant vor den Wachtposten hintrat und ihm die Hand schuettelte. "Bravo!" sagte Jadassohn. Und Doktor Heuteufel: "Morgen kommen nun Hauptmann, Major und Oberst dran, muessen belobigen und dem Kerl Geldgeschenke machen." "Sehr richtig!" sagte Jadassohn. "Aber -" Heuteufel blieb stehen. "Meine Herren, verstaendigen wir uns doch. Hat denn das alles einen Sinn? Nur weil dieser Bauerntoelpel keinen Spass verstanden hat? Ein Witz, ein gutmuetiges Lachen nur, und er entwaffnet den Arbeiter, der ihn herausfordern moechte, seinen Kameraden, einen armen Teufel wie er selbst. Statt dessen befiehlt man ihm zu schiessen. Und nachher kommen die grossen Worte." Landgerichtsrat Fritzsche stimmte bei und riet zur Maessigung. Da sagte Diederich, noch bleich und mit einer Stimme, die erschauerte: "Das Volk muss die Macht fuehlen! Das Gefuehl der kaiserlichen Macht ist mit einem Menschenleben nicht zu teuer bezahlt!" "Wenn es nur nicht Ihres ist", sagte Heuteufel. Und Diederich, die Hand auf der Brust: "Wenn es auch meins waere!" Heuteufel zuckte die Achseln. Waehrend man weiterging, versuchte Diederich dem Pastor Zillich, mit dem er ein Stueck zurueckblieb, seine Empfindungen zu erklaeren. "Fuer mich", sagte er, schnaufend vor innerer Bewegung, "hat der Vorgang etwas direkt Grossartiges, sozusagen Majestaetisches. Dass da einer, der frech wird, einfach abgeschossen werden kann, ohne Urteil, auf offener Strasse! Bedenken Sie: mitten in unserem buergerlichen Stumpfsinn kommt so was - Heroisches vor! Da sieht man doch, was Macht heisst!" "Wenn sie von Gottes Gnaden ist", ergaenzte der Pastor. "Natuerlich. Das ist es eben. Drum hab' ich geradezu eine religioese Erhebung von der Sache. Man merkt doch manchmal, dass es hoehere Dinge gibt, Gewalten, denen wir alle unterworfen sind. Denn zum Beispiel bei dem Berliner Krawall, vorigen Februar, als Seine Majestaet sich mit so phaenomenaler Kaltbluetigkeit in den tobenden Aufruhr hinauswagten: na, ich sage nur -" Da die uebrigen vor dem Ratskeller stehengeblieben waren, erhob Diederich die Stimme. "Wenn damals der Kaiser die ganzen Linden haette vom Militaer absperren und in uns alle haette 'reinschiessen lassen, immer feste 'rein, sag ich ..." "Sie haetten Hurra geschrien," schloss Doktor Heuteufel. "Sie vielleicht nicht?" fragte Diederich und versuchte zu blitzen. "Ich hoffe doch, wir empfinden alle national!" Der Fabrikant Lauer wollte schon wieder unvorsichtig entgegnen, ward aber zurueckgehalten. Statt seiner sagte Cohn: "Nun, national bin ich auch. Aber bezahlen wir unsere Armee fuer solche Witze?" Diederich mass ihn. "Ihre Armee, sagen Sie? Herr Warenhausbesitzer Cohn hat eine Armee! Haben die Herren gehoert?" Er lachte erhaben. "Ich kannte bisher nur die Armee Seiner Majestaet des Kaisers!" Doktor Heuteufel brachte etwas von Volksrechten vor, aber Diederich betonte mit abgehackter Kommandostimme, dass er keinen Schattenkaiser wuensche. Ein Volk, das die straffe Zucht verliere, sei der Verlotterung geweiht ... Inzwischen war man im Keller angelangt, Lauer und seine Freunde sassen schon. "Na, setzen Sie sich nicht zu uns?" ward Diederich von Doktor Heuteufel gefragt. "Schliesslich sind wir wohl alle liberale Maenner." Da stellte Diederich fest: "Liberal selbstverstaendlich. Aber ich gehe in den grossen nationalen Fragen aufs Ganze. Fuer mich gibt es da nur zwei Parteien, die Seine Majestaet selbst gekennzeichnet haben: die fuer ihn und die gegen ihn. Und da scheint es mir allerdings, dass an dem Tisch der Herren fuer mich kein Platz ist." Er vollfuehrte eine korrekte Verbeugung und ging hinueber zu dem leeren Tisch. Jadassohn und Pastor Zillich folgten ihm. Gaeste, die in der Naehe sassen, sahen sich um; eine allgemeine Stille entstand. Mit dem Rausch des Erlebten stieg in Diederich der Plan empor, Sekt zu bestellen. Drueben ward gefluestert, dann rueckte jemand seinen Stuhl, es war Landgerichtsrat Fritzsche. Er verabschiedete sich, kam an Diederichs Tisch, um ihm, Jadassohn und Zillich die Haende zu schuetteln, und ging hinaus. "Das wollte ich ihm auch geraten haben", bemerkte Jadassohn. "Er hat die Unhaltbarkeit seiner Lage noch rechtzeitig erkannt." Diederich sagte: "Eine reinliche Scheidung war vorzuziehen. Wer in nationaler Beziehung ein gutes Gewissen hat, braucht diese Leute wahrhaftig nicht zu fuerchten." Aber Pastor Zillich schien betreten. "Der Gerechte muss viel leiden," sagte er. "Sie wissen noch nicht, wie Heuteufel intrigant ist. Morgen erzaehlt er Gott weiss welche Greuel ueber uns." Da zuckte Diederich zusammen. Doktor Heuteufel war eingeweiht in jenen immerhin dunklen Punkt seines Lebens, als er vom Militaer loszukommen wuenschte! Er hatte ihm, in einem hoehnischen Brief, das Krankheitsattest verweigert! Er hielt ihn in der Hand, er konnte ihn vernichten! In seinem jaehen Schrecken befuerchtete Diederich sogar Enthuellungen aus seiner Schulzeit, als Doktor Heuteufel ihn im Hals gepinselt und ihm dabei Feigheit vorgeworfen hatte. Der Schweiss brach ihm aus. Um so lauter bestellte er Hummern und Sekt. Drueben bei den Logenbruedern hatte man sich aufs neue ueber den gewaltsamen Tod des jungen Arbeiters erregt. Was das Militaer und die Junker, die es befehligten, sich denn einbildeten! Sie benahmen sich ja wie in einem eroberten Land! Und als die Koepfe rot genug waren, verstiegen sich die Herren dazu, fuer das Buergertum, das tatsaechlich alle Leistungen liefere, auch die Fuehrung im Staat zu verlangen. Herr Lauer wuenschte zu wissen, was die herrschende Kaste vor anderen Leuten eigentlich noch voraus habe. "Nicht einmal die Rasse", behauptete er. "Denn sie sind ja alle verjudet, die Fuerstenhaeuser einbegriffen." Und er setzte hinzu: "Womit ich meinen Freund Cohn nicht kraenken will." Es war Zeit, einzuschreiten: Diederich fuehlte es. Schnell stuerzte er noch ein Glas hinunter, dann stand er auf, trat wuchtig bis in die Mitte unter den gotischen Kronleuchter und sagte scharf: "Herr Fabrikbesitzer Lauer, ich gestatte mir die Frage, ob Sie unter den Fuerstenhaeusern, die nach Ihrer persoenlichen Meinung verjudet sind, auch deutsche Fuerstenhaeuser verstehen." Lauer erwiderte ruhig, beinahe freundlich: "Gewiss doch." "So", machte Diederich, und er schoepfte tief Atem, um zu seinem grossen Schlag auszuholen. Unter der Aufmerksamkeit des ganzen Lokals fragte er: "Und den verjudeten deutschen Fuerstenhaeusern rechnen Sie auch das eine zu, das ich nicht erst zu nennen brauche?" Triumphierend sagte Diederich dies, vollkommen sicher, dass nun sein Gegner sich verwirren, stammeln und unter den Tisch kriechen werde. Aber er stiess auf einen nicht vorauszusehenden Zynismus. "Na ja doch", sagte Lauer. Jetzt war es an Diederich, die Haltung zu verlieren vor Entsetzen. Er sah umher: ob er denn recht gehoert habe. Die Gesichter bestaetigten es ihm. Da brachte er hervor, es werde sich zeigen, welche Folgen diese Aeusserung fuer den Herrn Fabrikbesitzer haben werde, und zog sich in leidlicher Ordnung in das befreundete Lager zurueck. Gleichzeitig tauchte Jadassohn wieder auf, der verschwunden gewesen war, man wusste nicht wohin. "Ich habe dem soeben Vorgefallenen nicht beigewohnt", sagte er sofort. "Ich stelle dies ausdruecklich fest, da es fuer die weitere Entwicklung von Bedeutung sein koennte." Und dann liess er sich genau berichten. Diederich tat es mit Feuer; er nahm es als sein Verdienst in Anspruch, dem Feind den Weg abgeschnitten zu haben. "Jetzt haben wir ihn in der Hand!" "Allerdings," bestaetigte Jadassohn, der sich Notizen gemacht hatte. Vom Eingang her nahte auf steifen Beinen ein aelterer Herr mit grimmiger Miene. Er gruesste nach beiden Seiten und schickte sich an, zu den Vertretern des Umsturzes zu stossen. Aber Jadassohn holte ihn noch ein. "Herr Major Kunze! Nur ein Wort!" Er redete halblaut auf ihn ein und deutete dabei mit den Augen nach links und rechts. Der Major schien im Zweifel. "Sie geben mir Ihr Ehrenwort, Herr Assessor," sagte er, "dass das tatsaechlich behauptet wurde?" Waehrend Jadassohn es ihm gab, trat der Bruder des Herrn Buck herbei, lang und elegant, laechelte unbedeutend und bot dem Herrn Major fuer alles eine befriedigende Erklaerung an. Aber der Major bedauerte; fuer eine solche Aeusserung gebe es einfach keine Erklaerung; und seine Miene ward von erschreckender Duesterkeit. Trotzdem sah er noch mit Bedauern nach seinem alten Stammtisch hinueber. Da, im entscheidenden Moment, hob Diederich die Sektflasche aus dem Kuebel. Der Major bemerkte es und folgte seinem Pflichtgefuehl. Jadassohn stellte vor: "Herr Fabrikbesitzer Doktor Hessling." Diederichs Rechte und die des Majors drueckten einander mit Aufbietung aller Kraft. Fest und bieder blickten die Herren sich ins Auge. "Herr Doktor," sagte der Major, "Sie haben sich als deutscher Mann bewaehrt." Man scharrte mit den Fuessen, rueckte die Stuehle zurecht, praesentierte voreinander die Glaeser, und dann durfte man trinken. Diederich bestellte sofort eine neue Flasche. Der Major leerte sein Glas, sooft es ihm vollgeschenkt wurde, und zwischen den Zuegen versicherte er, auch er stehe, was deutsche Treue betreffe, seinen Mann. "Wenn mein Koenig mich nun auch schon aus seinem aktiven Dienst entlassen hat -" "Der Herr Major", erklaerte Jadassohn, "war zuletzt beim hiesigen Bezirkskommando." "- ich habe noch das alte Soldatenherz -" er klopfte mit den Fingern darauf - "und unpatriotische Tendenzen werde ich stets bekaempfen. Mit Feuer und Schwert!" schrie er und liess die Faust auf den Tisch fallen. Im selben Augenblick zog hinter seinem Ruecken der Warenhausbesitzer Cohn tief den Hut und entfernte sich eilig. Der Bruder des Herrn Buck suchte zuerst noch die Toilette auf, damit sein Verschwinden einen weniger fluchtartigen Charakter trage. "Aha!" sagte Jadassohn um so lauter. "Herr Major, der Feind ist aufgerieben." Pastor Zillich war noch immer beunruhigt. "Heuteufel ist dageblieben. Ich traue ihm nicht." Aber Diederich, der die dritte Flasche bestellte, sah sich hoehnisch nach Lauer und Doktor Heuteufel um, die vereinsamt dasassen und beschaemt ihre Bierglaeser anstarrten. "Wir haben die Macht", sagte er, "und die Herren dort drueben sind sich dessen bewusst. Sie revoltieren schon gar nicht mehr, weil der Posten geschossen hat. Sie machen Gesichter, als haetten sie Angst, dass sie nun selbst bald drankommen. Und sie kommen auch dran!" Diederich erklaerte, dass er wegen der vorhin gefallenen Aeusserungen eine Anzeige gegen den Herrn Lauer bei der Staatsanwaltschaft erstatten werde. "Und ich werde dafuer sorgen," versicherte Jadassohn, "dass die Anklage erhoben wird. Ich persoenlich werde sie in der Hauptverhandlung vertreten. Die Herren wissen, dass ich als Zeuge nicht in Betracht komme, da ich den Vorgaengen selbst nicht beigewohnt habe." "Wir werden hier den Sumpf mal trocken legen", sagte Diederich, und er fing von dem Kriegerverein an, auf den die treudeutsch und kaiserlich gesinnten Maenner sich vor allem stuetzen muessten. Der Major nahm eine Amtsmiene an. Jawohl, er war im Vorstand des Kriegervereins. Man diente seinem Koenig immer noch, so gut man konnte. Er war auch bereit, Diederich zur Aufnahme vorzuschlagen, damit die nationalen Elemente eine Kraeftigung erfuehren. Denn bis jetzt, das durfte man sich nicht verhehlen, ueberwogen auch dort die leidigen Demokraten. Man nahm, nach der Meinung des Majors, behoerdlicherseits zu viel Ruecksicht auf die in Netzig gegebenen Verhaeltnisse. Er selbst wuerde, wenn er zum Bezirkskommandanten ernannt worden waere, den Herren Reserveoffizieren bei den Wahlen auf die Finger gesehen haben, dafuer garantierte er. "Aber da mein Koenig mir die Moeglichkeit leider genommen hat -" Diederich schenkte, um ihn zu troesten, frisch ein. Waehrend der Major trank, beugte Jadassohn sich zu Diederich und raunte: "Glauben Sie ihm kein Wort! Er ist ein schlapper Hund und kriecht vor dem alten Buck. Wir muessen ihm imponieren." Diederich tat dies sofort. "Ich habe naemlich mit dem Herrn Regierungspraesidenten von Wulckow bereits formelle Verabredungen getroffen." Und da der Major die Augen aufriss: "Naechstes Jahr, Herr Major, sind die Reichstagswahlen. Da werden wir Gutgesinnten schwere Arbeit haben. Der Kampf beginnt schon." "Los!" sagte der Major ingrimmig. "Prost!" "Prost!" sagte Diederich. "Aber, meine Herren, moegen die subversiven Tendenzen im Lande noch so stark sein, wir sind staerker, denn wir haben einen Agitator, den die Gegner nicht haben, und das ist Seine Majestaet." "Bravo!" "Seine Majestaet hat fuer alle Teile seines Staates, also auch fuer Netzig, die Forderung aufgestellt, dass die Buerger endlich aus dem Schlummer erwachen moegen! Und das wollen wir auch!" Jadassohn, der Major und Pastor Zillich bekundeten ihre Wachheit, indem sie auf den Tisch schlugen, Beifall riefen und einander zutranken. Der Major schrie: "Zu uns Offizieren hat Seine Majestaet gesagt: Dies sind die Herren, auf die ich mich verlassen kann!" "Und zu uns", schrie Pastor Zillich, "hat er gesagt, wenn die Kirche der Fuersten beduerfen wird -". Man durfte allen Zwang ablegen, denn der Keller hatte sich laengst geleert, Lauer und Heuteufel waren ungesehen entkommen, und in den hinteren Bogengewoelben brannte schon kein Gas mehr. "Er hat auch gesagt -" Diederich blies die Backen feuerrot auf, der Schnurrbart stiess ihm in die Augen, aber dennoch blitzte er fuerchterlich. "Wir stehen im Zeichen des Verkehrs! Und so ist es auch! Unter seiner erhabenen Fuehrung sind wir fest entschlossen, Geschaefte zu machen!" "Und Karriere!" kraehte Jadassohn. "Seine Majestaet hat gesagt, jeder, der ihm behilflich sein will, ist ihm willkommen. Will das jemand vielleicht auf mich nicht mitbeziehen?" fragte Jadassohn herausfordernd, mit blutig leuchtenden Ohren. Der Major bruellte wieder: "Und mein Koenig kann sich totsicher auf mich verlassen. Er hat mich zu frueh weggeschickt, als ehrlicher deutscher Mann sage ich es ihm laut ins Gesicht. Er wird mich noch mal bitter noetig haben, wenn es losgeht. Ich denke nicht daran, den Rest meines Lebens bloss noch mit Knallbonbons zu schiessen auf Vereinsbaellen. Ich war bei Sedan!" "Herrjemersch, und ich doch ooch!" ertoente es von duenner Schreistimme aus unsichtbaren Tiefen, und den Schatten der Gewoelbe entstieg ein kleiner Greis mit flatternden weissen Haaren. Er schwankte herbei, seine Brillenglaeser funkelten, seine Backen gluehten, und er schrie: "Der Herr Major Kunze! Nu da! Alter Kriegskamerad, bei Ihnen geht's ja zu wie dunnemals in Frankreich. Ich sag' es aber immer: gut gelebt und lieber ae paar Jahre laenger!" Der Major stellte ihn vor. "Herr Gymnasialprofessor Kuehnchen." Wie es kam, dass er dort hinten im Dunkeln vergessen worden sei, darueber aeusserte der kleine Greis die lebhaftesten Vermutungen. Frueher hatte er sich in einer Gesellschaft befunden. "Nu muss ich wohl ae bisschen eingeschlummert sein, und da sein die verdammten Lumichs mir ausgerueckt." Der Schlaf hatte ihm vom Feuer der genossenen Getraenke noch nichts genommen, er erinnerte, prahlerisch kreischend, den Major an ihre gemeinsamen Taten im eisernen Jahr. "Die Franktiroehrs!" schrie er, und aus seinem faltigen, zahnlosen Munde rann Feuchtigkeit. "Das war Sie eene Bande! Wie die Herren mich da saehn, hab' ich doch noch immer een' steifen Finger, da hat mich ae Franktiroehr draufgebissen. Bloss weil ich ihm mit meim Saebel ae kleenes bisschen die Kehle abschneiden wollte. So eene Gemeinheit von dem Kerl!" Er zeigte den Finger am Tisch umher und erregte Ausrufe der Bewunderung. Diederichs begeisterte Gefuehle freilich mischten sich mit Schrecken, er musste sich in die Lage des Franktiroehrs denken: der kleine leidenschaftliche Greis kniete auf seiner Brust und setzte ihm die Klinge an den Hals. Er war genoetigt, einen Augenblick hinauszugehen. Wie er zurueckkehrte, gaben der Major und Professor Kuehnchen, einander ueberschreiend, den Bericht eines wilden Kampfes. Man verstand keinen. Aber Kuehnchen schrillte immer schaerfer durch das Gebruell des anderen, bis er es zum Schweigen gebracht hatte und ungestoert aufschneiden konnte. "Nee, alter Freund, Sie sein ae anschlaegscher Kopf. Wenn Sie die Treppe 'runterfallen, verfehlen Sie keene Stufe. Aber das Feuer damals an dem Haus, wo die Franktiroehrs drinne sassen, das hat Kuehnchen angelegt, da gibt's nischt. Ich hab' doch eene Kriegslist gebraucht und hab' mich totgestellt, da ham die dummen Luder nischt gemerkt. Und wie's erscht gebrannt hat, nu, versteht sich, da hamse an der Verteidchung des Vaterlandes keen' Geschmack mehr gefunden, und bloss noch 'raus, bloss noch Soofgipoeh! Da haetten Se nu aber uns Deutsche sehen sollen. Von der Mauer hammer sie weggeschossen, wie sie 'runterkrabbeln wollten! Luftspruenge hamse gemacht wie die Garniggel!" Kuehnchen musste seine Erfindung unterbrechen, er kicherte durchdringend, indes die Tafelrunde droehnend lachte. Kuehnchen erholte sich. "Die falschen Luder hatten uns aber auch tueckisch gemacht! Und die Weiber! Nee, meine Herren, so was Beesartches wie die franzeeschen Weiber, das gibt's Sie nu ueberhaupt nicht mehr. Heesses Wasser hatten se uns auf die Koeppe geschiddet. Nu frag' ich Sie, tut das eene Dame? Wie's brannte, warfen sie die Kinder aus'm Fenster und wollten ooch noch von uns, dass wir se auffangen sollten. Hibsch nich, aber dumm! Mit unsern Bajonetten hammer die kleenen Luder uffgefangen. Und dann die Damen!" Kuehnchen hielt die gichtischen Finger gekruemmt wie um einen Gewehrkolben und sah dabei nach oben, als gaebe es noch jemand aufzuspiessen. Seine Brillenglaeser funkelten, er log weiter. "Zuletzt kam eene ganz Dicke 'ran, die konnte von vorn nicht durchs Fenster, drum versuchte se mal, ob's nicht von hinten ginge. Da haste nun aber nicht mit Kuehnchen gerechnet, mei Schibbchen. Ich nich faul, steiche uf die Schultern von zwei Kameraden drauf un kitzle sie mit meim Bachonedde in ihren dicken franzeeschen -" Mehr hoerte man nicht, der Beifall war zu laut. Der Professor sagte noch: "Jeden Sedang erzaehl' ich die Geschichte in aedlen Worten meiner Klasse. Die Jungen solln wissen, was sie fuer Heldenvaeter gehabt haben." Man war sich einig, dass dies die nationale Gesinnung des jungen Geschlechts nur befoerdern koenne, und man stiess an mit Kuehnchen. Vor lauter Begeisterung hatte noch keiner bemerkt, dass ein neuer Gast an den Tisch getreten war. Jadassohn sah ploetzlich den bescheiden grauen Mann im Hohenzollernmantel und winkte ihm goennerhaft. "Na, man immer 'ran, Herr Nothgroschen!" Diederich herrschte ihn an, aus seinen Hochgefuehlen heraus. "Wer sind Sie?" Der Fremde dienerte. "Nothgroschen, Redakteur der Netziger Zeitung." "Also Hungerkandidat", sagte Diederich und blitzte. "Verkommene Gymnasiasten, Abiturientenproletariat, Gefahr fuer uns!" Alle lachten; der Redakteur laechelte demuetig mit. "Seine Majestaet hat Sie gekennzeichnet", sagte Diederich. "Na, setzen Sie sich!" Er schenkte ihm sogar Sekt ein, und Nothgroschen trank in dankbarer Haltung. Nuechtern und befangen sah er in der Gesellschaft umher, deren Selbstbewusstsein durch die vielen, leer am Boden stehenden Flaschen so sehr gesteigert worden war. Man vergass ihn sogleich wieder. Er wartete geduldig, bis jemand ihn fragte, wieso er denn mitten in der Nacht noch hier hereinschneie. "Ich musste das Blatt doch fertig machen", erklaerte er darauf, wichtig wie ein kleiner Beamter. "Die Herren wollen morgen frueh in der Zeitung lesen, wie das war mit dem erschossenen Arbeiter." "Das wissen wir besser als Sie", schrie Diederich. "Sie saugen sich das ja doch nur aus Ihren Hungerpfoten!" Der Redakteur laechelte entschuldigend, und er hoerte ergeben zu, wie alle durcheinander ihm die Vorgaenge darstellten. Als der Laerm sich legte, setzte er an. "Da der Herr dort -" "Doktor Hessling," sagte Diederich scharf. "Nothgroschen", murmelte der Redakteur. "Da Sie vorhin den Namen des Kaisers erwaehnten, wird es die Herren interessieren, dass wieder eine Kundgebung vorliegt." "Ich verbitte mir jede Noergelei!" heischte Diederich. Der Redakteur duckte sich und legte die Hand auf die Brust. "Es handelt sich um einen Brief des Kaisers." "Der ist Ihnen wohl wieder mal durch einen infamen Vertrauensbruch auf den Schreibtisch geflogen?" fragte Diederich. Nothgroschen stellte beteuernd die Hand vor sich hin. "Er ist vom Kaiser selbst zur Veroeffentlichung bestimmt. Morgen frueh werden Sie ihn in der Zeitung lesen. Hier ist die Druckfahne!" "Legen Sie los, Doktor", befahl der Major. Diederich rief: "Wieso, Doktor? Sind Sie Doktor?" Aber man interessierte sich nur noch fuer den Brief, man entriss dem Redakteur den Zettel. "Bravo!" rief Jadassohn, der noch ziemlich muehelos las. "Seine Majestaet bekennt sich zum positiven Christentum." Pastor Zillich frohlockte so heftig, dass sich Schluckauf einstellte. "Das ist was fuer Heuteufel! Endlich kriegt so ein frecher Wissenschaftler, huck, was ihm gehoert. An die Offenbarungsfrage machen sie sich heran. Die versteh' ja ich kaum, huck, und ich hab' Theologie studiert!" Professor Kuehnchen schwenkte die Blaetter hoch in der Luft. "Meine Haern! Wenn 'ch den Brief nicht in der Klasse lesen lasse und als Aufsatzthema gebe, will'ch nicht mehr Kuehnchen heessen!" Diederich war tiefernst. "Jawohl war Hammurabi ein Werkzeug Gottes! Ich moechte mal sehen, wer das leugnet!" Und er blitzte umher. Nothgroschen kruemmte die Schultern. "Na, und Kaiser Wilhelm der Grosse!" fuhr Diederich fort. "Von dem bitte ich es mir ganz energisch aus! Wenn der kein Werkzeug Gottes war, dann weiss Gott ueberhaupt nicht, was 'n Werkzeug ist!" "Ganz meine Meinung", versicherte der Major. Gluecklicherweise widersprach auch sonst niemand, denn Diederich war zum Aeussersten entschlossen. An den Tisch geklammert, stemmte er sich von seinem Stuhl empor. "Aber unser herrlicher junger Kaiser?" fragte er drohend. Von allen Seiten antwortete es: "Persoenlichkeit ... Impulsiv ... Vielseitig ... Origineller Denker." Diederich war nicht befriedigt. "Ich beantrage, dass er auch ein Werkzeug ist!" Es ward angenommen. "Und ich beantrage ferner, dass wir Seine Majestaet von unserem Beschluss telegraphisch in Kenntnis setzen!" "Ich befuerworte den Antrag!" bruellte der Major. Diederich stellte fest: "Einmuetige begeisterte Annahme!" und fiel auf seinen Sitz zurueck. Kuehnchen und Jadassohn machten sich gemeinsam an die Abfassung der Depesche. Sie lasen vor, sobald sie etwas gefunden hatten. "Eine im Ratskeller zu Netzig versammelte Gesellschaft -" "Tagende Versammlung", forderte Diederich. Sie fuhren fort: "Versammlung national gesinnter Maenner -" "National, huck, und christlich", ergaenzte Pastor Zillich. "Aber wollen die Herren denn wirklich?" fragte Nothgroschen, leise flehend. "Ich dachte, es sei ein Scherz." Da ward Diederich zornig. "Wir scherzen nicht mit den heiligsten Guetern! Ich soll Ihnen das wohl handgreiflich klarmachen, Sie verkrachter Abiturient?" Da Nothgroschens Haende den vollkommensten Verzicht beteuerten, war Diederich sofort wieder ruhig und sagte: "Prost!" Dagegen schrie der Major, als sollte er platzen. "Wir sind die Herren, auf die Seine Majestaet sich verlassen kann!" Jadassohn bat um Ruhe und er las. "Die im Ratskeller zu Netzig tagende Versammlung national und christlich gesinnter Maenner entbietet Eurer Majestaet ihre einmuetige begeisterte Huldigung angesichts von Eurer Majestaet erhebendem Bekenntnis einer geoffenbarten Religion. Wir beteuern unseren tiefsten Abscheu vor dem Umsturz in jeder Gestalt und sehen in der heute bei uns in Netzig erfolgten mutigen Tat eines Postens die erfreuliche Bestaetigung, dass Eure Majestaet nicht weniger als Hammurabi und Kaiser Wilhelm der Grosse das Werkzeug Gottes ist." Man klatschte, und Jadassohn laechelte geschmeichelt. "Unterschreiben!" rief der Major. "Oder hat einer der Herren noch etwas zu bemerken?" Nothgroschen raeusperte sich. "Nur ein einziges Wort, mit aller gebuehrenden Bescheidenheit." "Das moechte ich mir ausbitten", sagte Diederich. Der Redakteur hatte sich Mut getrunken, er schwankte auf seinem Sitz und kicherte ohne Grund. "Ich will ja gar nichts gegen den Posten sagen, meine Herren. Ich hab' mir sogar schon immer gedacht, Soldaten sind zum Schiessen da." "Na also." "Ja, aber wissen wir, ob auch der Kaiser so denkt?" "Selbstverstaendlich! Fall Lueck!" "Praezedenzfaelle - hihi - sind ganz schoen, aber wir wissen doch alle, dass der Kaiser ein origineller Denker und - hihi - impulsiv ist. Er laesst sich nicht gern vorgreifen. Wenn ich in der Zeitung schreiben wollte, dass Sie, Herr Doktor Hessling, Minister werden sollen, dann - hihi - werden Sie es gerade nicht." "Juedische Verdrehungen!" rief Jadassohn. Der Redakteur entruestete sich. "Ich schreibe anderthalb Spalten Stimmung an jedem hohen Kirchenfest. Der Posten aber, der kann auch wegen Mord angeklagt werden. Dann sind wir 'reingefallen." Eine Stille folgte. Der Major legte nachdenklich den Bleistift aus der Hand. Diederich ergriff ihn. "Sind wir nationale Maenner?" Und er unterschrieb wuchtig. Da brach Begeisterung aus. Nothgroschen wollte gleich als Zweiter drankommen. "Aufs Telegraphenamt!" Diederich gab Auftrag, dass die Rechnung ihm morgen zugestellt werde, und man brach auf. Nothgroschen war auf einmal voll ausschweifender Hoffnungen. "Wenn ich die kaiserliche Antwort bringen kann, komme ich zu Scherl!" Der Major bruellte: "Wir wollen doch mal sehen, ob ich noch lange Wohltaetigkeitsfeste arrangiere!" Pastor Zillich sah die Leute sich in seiner Kirche erdruecken und Heuteufel von der Menge gesteinigt. Kuehnchen schwaermte von Blutbaedern in den Strassen von Netzig. Jadassohn kraehte: "Erlaubt sich vielleicht jemand einen Zweifel an meiner Kaisertreue?" Und Diederich: "Der alte Buck soll sich hueten! Kluesing in Gausenfeld auch! Wir erwachen aus dem Schlummer!" Die Herren hielten sich alle sehr gerade, und manchmal schoss einer unvermutet ein Stueck vorwaerts. Mit ihren Stoecken strichen sie tosend ueber die herabgelassenen Rollaeden, und im Takt voneinander unabhaengig sangen sie die Wacht am Rhein. An der Ecke des Landgerichts stand ein Schutzmann, aber zu seinem Glueck ruehrte er sich nicht. "Wollen Sie vielleicht etwas, Maenneken?" rief Nothgroschen, der aus Rand und Band war. "Wir telegraphieren an den Kaiser!" Vor dem Postgebaeude ward Pastor Zillich, der den schwaechsten Magen hatte, von einem Unglueck betroffen. Indes die anderen ihm seine Lage zu erleichtern suchten, klingelte Diederich den Beamten heraus und gab das Telegramm auf. Als der Beamte es gelesen hatte, betrachtete er Diederich zoegernd - aber Diederich blitzte ihn so furchtbar an, dass er zurueckschrak und seine Pflicht tat. Diederich inzwischen fuhr ohne Zweck fort, zu blitzen und steinern dazustehen: in der Haltung des Kaisers, wenn nun ein Fluegeladjutant ihm die Heldentat des Postens meldete und der Chef des Zivilkabinetts ihm die Huldigungsdepesche ueberbrachte. Diederich fuehlte den Helm auf seinem Kopf, er schlug gegen den Saebel an seiner Seite und sagte: "Ich bin sehr stark!" Der Telegraphist hielt es fuer eine Reklamation und zaehlte ihm das kleine Geld nochmals vor. Diederich nahm es, trat an einen Tisch und warf einige Zeilen auf ein Papier. Dann steckte er es zu sich und kehrte zu den Herren zurueck. Sie hatten fuer den Pastor eine Droschke beschafft, er fuhr soeben fort und winkte weinend aus dem Fenster, als sei es fuer ewig. Jadassohn bog beim Theater um eine Ecke, obwohl der Major ihm nachbruellte, seine Wohnung sei doch ganz woanders. Ploetzlich war dann auch der Major fort, und Diederich gelangte mit Nothgroschen allein in die Lutherstrasse. Vor dem Walhalla-Theater war der Redakteur nicht mehr weiter zu bringen, mitten in der Nacht wollte er das "elektrische Wunder" sehen, eine Dame, die dort Feuer spruehen sollte. Diederich musste ihm ernstlich vorhalten, dass dies nicht die Stunde fuer solche Frivolitaeten sei. Uebrigens vergass Nothgroschen das "elektrische Wunder", sobald er das Haus der "Netziger Zeitung" erblickte. "Aufhalten!" schrie er. "Die Maschine aufhalten! Das Telegramm der nationalen Maenner muss noch hinein!... Sie wollen es doch morgen frueh in der Zeitung lesen", sagte er zu einem voruebergehenden Nachtwaechter. Da packte Diederich ihn fest am Arm. "Nicht nur dieses Telegramm", sagte er, kurz und leise. "Ich habe noch ein anderes." Er zog ein Papier aus der Tasche. "Der Nachttelegraphist ist ein alter Bekannter von mir, er hat es mir anvertraut. Ueber diese Herkunft werden Sie mir strenge Diskretion versprechen, der Mann waere sonst in seiner Stellung bedroht." Da Nothgroschen sofort alles versprach, sagte Diederich, ohne das Papier dabei anzusehen: "Es ist an das Regimentskommando gerichtet und vom Obersten selbst dem Posten mitzuteilen, der heute den Arbeiter erschossen hat. Es lautet: Fuer Deinen auf dem Felde der Ehre vor dem inneren Feind bewiesenen Mut spreche ich Dir meine kaiserliche Anerkennung aus und ernenne Dich zum Gefreiten.... Ueberzeugen Sie sich" - und Diederich reichte dem Redakteur das Papier hin. Aber Nothgroschen sah es nicht an, er starrte nur, wie entgeistert, auf Diederich, auf seine steinerne Haltung, den Schnurrbart, der ihm in die Augen stach, und die Augen, die blitzten. "Jetzt glaubte ich fast -" stammelte Nothgroschen. "Sie haben so viel Aehnlichkeit mit - mit -." IV. Diederich wuerde, wie in der besten Neuteutonenzeit, das Mittagessen verschlafen haben, aber die Rechnung vom Ratskeller kam, und sie war bedeutend genug, dass er aufstehen und ins Kontor gehen musste. Ihm war sehr schlecht, und man machte ihm auch noch Unannehmlichkeiten, sogar die Familie. Die Schwestern verlangten ihr monatliches Toilettegeld, und als er erklaerte, dass er es jetzt nicht habe, hielten sie ihm den alten Soetbier vor, der es immer gehabt habe. Diesem Versuch einer Auflehnung begegnete Diederich energisch. Mit rauher Katerstimme setzte er den Maedchen auseinander, sie wuerden sich noch an ganz andere Dinge gewoehnen muessen. Soetbier freilich, der habe immer nur hergegeben und die Fabrik heruntergewirtschaftet. "Wenn ich euch heute euren Anteil auszahlen sollte, wuerdet ihr euch verflucht wundern, wie wenig es waere." Waehrend er dies sagte, empfand er es als durchaus unberechtigt, dass er irgend einmal sollte gezwungen werden koennen, die beiden am Geschaeft zu beteiligen. Man muesste das verhindern koennen, dachte er. Sie dagegen wurden auch noch herausfordernd. "Also wir koennen die Modistin nicht bezahlen, aber der Herr Doktor trinkt Sekt fuer hundertfuenfzig Mark." Da ward Diederich furchtbar anzusehen. Seine Briefe erbrach man! Er wurde ausspioniert! Er war nicht der Herr im Hause, sondern ein Kommis, ein Neger, der fuer die Damen schuftete, damit sie den ganzen Tag faulenzen konnten! Er schrie und stampfte, dass die Glaeser klirrten. Frau Hessling flehte wimmernd, die Schwestern widersprachen nur noch aus Angst, aber Diederich war im Zuge. "Was erlaubt ihr euch? Gaense wie ihr? Was wisst ihr, ob die hundertfuenfzig Mark nicht eine glaenzende Kapitalsanlage sind. Jawohl, Kapitalsanlage! Meint ihr, ich saufe mit den Idioten Sekt, wenn ich nichts von ihnen will? Davon wisst ihr hier in Netzig noch nichts, das ist der neue Kurs, es ist -" Er hatte das Wort. "Grosszuegig ist es! Grosszuegig!" Und er warf die Tuer hinter sich zu. Frau Hessling ging ihm vorsichtig nach, und als er im Wohnzimmer ins Sofa gesunken war, nahm sie seine Hand und sagte: "Mein lieber Sohn, ich bin mit dir." Dabei sah sie ihn an, als wollte sie "aus dem Herzen beten". Diederich verlangte einen sauren Hering; und dann beklagte er sich zornig, wie schwer es sei, in Netzig den neuen Geist einzufuehren. Wenigstens hier im Hause sollte man seine Kraft nicht untergraben! "Ich habe Grosses mit euch vor, aber das ueberlasst gefaelligst meiner besseren Einsicht. Einer muss Herr sein. Unternehmungsgeist und Grosszuegigkeit gehoeren freilich dazu. Soetbier ist dabei nicht zu brauchen. Eine Weile lasse ich den Alten noch verschnaufen, dann wird er ausgeschifft." Frau Hessling versicherte sanft, ihr lieber Sohn werde schon um seiner Mutter willen immer genau wissen, was er tun muesse - und dann begab Diederich sich ins Kontor und schrieb einen Brief an die Maschinenfabrik Bueschli Co. in Eschweiler, um bei ihr einen "neuen Patent-Doppel-Hollaender, System Maier" zu bestellen. Er liess den Brief offen daliegen und ging hinaus. Wie er zurueckkam, stand Soetbier vor seinem Pult, und es war kein Zweifel, unter seinem gruenen Augenschirm weinte er: es tropfte auf den Brief. "Sie muessen ihn noch mal abschreiben lassen", sagte Diederich kuehl. Da begann Soetbier: "Junger Herr, unser alter Hollaender ist kein Patent-Hollaender, aber er stammt noch aus der ersten Zeit des alten Herrn; mit ihm hat er angefangen, und mit ihm ist er gross geworden ..." "Na und ich hege meinerseits den Wunsch, mit meinem eigenen Hollaender gross zu werden", sagte Diederich schneidend. Soetbier jammerte. "Unser alter hat uns noch immer genuegt." "Mir nicht." Soetbier schwur, er sei so leistungsfaehig wie die allerneuesten, die nur durch schwindelhafte Reklame emporgetragen wuerden. Als Diederich hart blieb, oeffnete der Alte die Tuer und rief hinaus: "Fischer! Kommen Sie mal her!" Diederich ward unruhig. "Was wollen Sie von dem Menschen. Ich verbitte mir, dass er sich einmischt!" Aber Soetbier berief sich auf das Zeugnis des Maschinenmeisters, der in den groessten Betrieben gearbeitet habe. "Nun, Fischer, sagen Sie mal dem Herrn Doktor, wie leistungsfaehig unser Hollaender ist!" Diederich wollte nicht hoeren, er lief hin und her, ueberzeugt, der Mensch werde die Gelegenheit ergreifen, ihn zu aergern. Statt dessen begann Napoleon Fischer mit einer uneingeschraenkten Anerkennung von Diederichs Sachverstaendigkeit, und dann sagte er ueber den alten Hollaender alles Unguenstige, das sich irgend ueber ihn denken liess. Wenn man Napoleon Fischer hoerte, war er schon nahe daran gewesen, zu kuendigen, nur weil ihm der alte Hollaender nicht gefiel. Diederich schnaubte: er habe wahrhaftig Glueck, dass ihm die wertvolle Kraft des Herrn Fischer nun doch erhalten bleibe; aber der Maschinenmeister erklaerte ihm, ohne sich auf seine Ironie einzulassen, nach der Abbildung im Prospekt alle Vorzuege des neuen Patent-Hollaenders, vor allem seine hoechst bequeme Bedienung. "Wenn ich Ihnen nur Arbeit erspare!" schnaubte Diederich. "Sonst wuensch' ich mir nichts. Danke, Sie koennen gehen." Als der Maschinenmeister hinaus war, beschaeftigten Soetbier und Diederich sich eine lange Weile jeder fuer sich. Ploetzlich fragte Soetbier: "Und womit sollen wir ihn bezahlen?" Diederich war sofort feuerrot: auch er hatte die ganze Zeit an nichts weiter gedacht. "Ach was!" schrie er. "Bezahlen! Erstens mache ich eine lange Lieferungsfrist aus, und dann: wenn ich mir einen so teuren Hollaender bestelle, meinen Sie vielleicht, ich weiss nicht wozu? Nein, mein Lieber, dann muss ich wohl bestimmte Aussichten auf baldige Ausdehnung des Geschaeftes haben - ueber die ich mich heute noch nicht aeussern will." Damit verliess er das Kontor, in strammer Haltung, trotz inneren Zweifeln. Dieser Napoleon Fischer hatte sich beim Hinausgehen nochmals umgesehen, mit einem gewissen Blick, als habe er den Chef gehoerig hineingelegt. "Umdroht von Feinden," dachte Diederich und reckte sich noch straffer, "da sind wir erst recht stark. Ich werde sie schon zerschmettern." Sie sollten erfahren, mit wem sie es zu tun hatten; daher fuehrte er einen Gedanken aus, der ihm schon beim Erwachen gekommen war: er ging zum Doktor Heuteufel. Dieser hielt eben seine Sprechstunde ab und liess ihn warten. Dann empfing er ihn in seinem Operationszimmer, wo alles, Geruch und Gegenstaende, Diederich an fruehere, peinliche Besuche erinnerte. Doktor Heuteufel nahm die Zeitung vom Tisch, lachte kurz und sagte: "Nun, Sie kommen wohl her, um zu triumphieren. Gleich zwei Erfolge! Ihre Sekthuldigung ist drin - na und die Depesche des Kaisers an den Posten laesst von Ihrem Standpunkt aus wohl nichts zu wuenschen." "Welche Depesche?" fragte Diederich. Doktor Heuteufel zeigte sie ihm; Diederich las. "Fuer Deinen auf dem Felde der Ehre vor dem inneren Feind bewiesenen Mut spreche ich Dir meine kaiserliche Anerkennung aus und ernenne Dich zum Gefreiten." Wie es hier gedruckt stand, machte es ihm den Eindruck vollkommener Echtheit. Er war sogar ergriffen; mit maennlicher Zurueckhaltung sagte er: "Das ist jedem national Gesinnten aus dem Herzen gesprochen." Da Heuteufel nur die Achseln zuckte, holte Diederich Atem. "Nicht deswegen bin ich hergekommen, sondern um unsere beiderseitigen Beziehungen festzulegen." Die seien wohl schon festgelegt, erwiderte Heuteufel. "Nein, durchaus noch nicht." Diederich versicherte, dass er einen ehrenvollen Frieden wuensche. Er sei bereit, im Sinne eines wohlverstandenen Liberalismus zu wirken, falls man dagegen seine streng nationale und kaisertreue Ueberzeugung achte. Doktor Heuteufel erklaerte dies einfach fuer Phrasen: da verlor Diederich die Fassung. Dieser Mensch hielt ihn in der Hand; er konnte ihn, mit Hilfe eines Dokumentes, als Feigling hinstellen! Das hoehnische Laecheln in seinem gelben Chinesengesicht, diese ueberlegene Haltung waren eine fortwaehrende Anspielung. Aber er sprach nicht, er liess das Schwert weiterschweben ueber Diederichs Haupt. Der Zustand musste aufhoeren! "Ich fordere Sie auf," sagte Diederich, heiser vor Erregung, "mir meinen Brief zurueckzugeben." Heuteufel tat erstaunt. "Welchen Brief?" - "Den ich Ihnen wegen des Militaers geschrieben habe, als ich dienen sollte." Darauf dachte der Arzt nach. "Ach so: weil Sie sich druecken wollten!" "Ich dachte mir schon, Sie wuerden meine unvorsichtigen Aeusserungen in einem fuer mich beleidigenden Sinne auslegen. Ich fordere Sie nochmals zur Rueckgabe des Briefes auf." Und Diederich trat drohend vor. Heuteufel wich nicht. "Lassen Sie mich in Ruh'. Ihren Brief hab' ich nicht mehr." "Ich verlange Ihr Ehrenwort." "Das gebe ich nicht auf Befehl." "Dann mache ich Sie auf die Folgen Ihrer illoyalen Handlungsweise aufmerksam. Sollten Sie mir mit dem Brief bei irgendeiner Gelegenheit Unannehmlichkeiten verursachen wollen, so liegt Bruch des Amtsgeheimnisses vor. Dann denunziere ich Sie der Aerztekammer, stelle Strafantrag gegen Sie und biete allen meinen Einfluss auf, um Sie unmoeglich zu machen!" In hoechster Erregung, fast stimmlos: "Sie sehen mich zum Aeussersten entschlossen! Zwischen uns gibt es nur noch einen Kampf bis aufs Messer!" Doktor Heuteufel sah ihn neugierig an, er schuettelte den Kopf, sein Chinesenschnurrbart schaukelte, und er sagte: "Sie sind heiser." Diederich fuhr zurueck, er stammelte: "Was geht Sie das an?" "Gar nichts", sagte Heuteufel. "Es interessiert mich nur von frueher her, weil ich Ihnen so was ja immer vorausgesagt habe." "Was denn? Wollen Sie sich gefaelligst aeussern." Aber das lehnte Heuteufel ab. Diederich blitzte ihn an. "Ich muss Sie energisch auffordern, Ihre aerztliche Pflicht zu tun!" Er sei nicht sein Arzt, erwiderte Heuteufel. Darauf sank Diederichs herrische Miene zusammen, und er forschte klagend. "Manchmal hab' ich ja Schmerzen im Hals. Glauben Sie denn, dass es schlimmer wird? Hab' ich was zu befuerchten?" "Ich rate Ihnen, einen Spezialisten zu konsultieren." "Sie sind hier doch der einzige! Um Gottes willen, Herr Doktor, Sie versuendigen sich, ich habe eine Familie zu erhalten." "Dann sollten Sie weniger rauchen, auch weniger trinken. Gestern abend war es zuviel." "Ach so." Diederich richtete sich auf. "Sie goennen mir den Sekt nicht. Und dann wegen der Huldigungsadresse." "Wenn Sie unlautere Motive bei mir vermuten, brauchen Sie mich nicht zu fragen." Aber Diederich flehte schon wieder. "Sagen Sie mir wenigstens, ob ich Krebs kriegen kann." Heuteufel blieb streng. "Nun, Sie waren schon immer skrofuloes und rachitisch. Sie haetten nur dienen sollen, dann waeren Sie nicht so aufgeschwemmt." Schliesslich liess er sich zu einer Untersuchung herbei und nahm eine Pinselung des Kehlkopfes vor. Diederich erstickte, rollte angstvoll die Augen und umklammerte den Arm des Arztes. Heuteufel zog den Pinsel heraus. "So komm' ich natuerlich nicht hin." Er feixte durch die Nase. "Sie sind noch wie frueher." Sobald Diederich wieder zu Luft gekommen war, machte er sich fort aus dieser Schreckenskammer. Vor dem Hause, noch mit Traenen in den Augen, stiess er auf den Assessor Jadassohn. "Nanu?" sagte Jadassohn. "Ist Ihnen die Kneiperei nicht bekommen? Und ausgerechnet zu Heuteufel gehen Sie?" Diederich versicherte, sein Befinden sei glaenzend. "Aber aufgeregt hab' ich mich ueber den Menschen! Ich gehe hin, weil ich es als meine Pflicht betrachte, eine befriedigende Erklaerung zu verlangen fuer die gestrigen Aeusserungen dieses Herrn Lauer. Mit Lauer selbst zu verhandeln, hat fuer einen Mann von meiner korrekten Gesinnung natuerlich nichts Verlockendes." Jadassohn schlug vor, in Klappsch' Bierstube einzutreten. "Ich gehe also hin," fuhr Diederich drinnen fort, "in der Absicht, die ganze Geschichte mit der Besoffenheit des betreffenden Herrn zu entschuldigen, schlimmstenfalls mit seiner zeitweiligen Geistesumnachtung. Was meinen Sie statt dessen? Frech wird der Heuteufel. Markiert Ueberlegenheit. Uebt zynische Kritik an unserer Huldigungsadresse und, Sie werden es nicht glauben, sogar an dem Telegramm Seiner Majestaet!" "Nun, und?" fragte Jadassohn, dessen Hand sich mit Fraeulein Klappsch beschaeftigte. "Fuer mich gibt es kein Und mehr! Ich bin mit dem Herrn fertig fuers Leben!" rief Diederich, trotz dem schmerzlichen Bewusstsein, dass er am Mittwoch wieder zum Pinseln musste. Jadassohn versetzte schneidend: "Aber ich nicht." Und da Diederich ihn ansah: "Es gibt naemlich eine Behoerde, die sich die Koenigliche Staatsanwaltschaft nennt und die fuer Leute wie diese Herren Lauer und Heuteufel ein nicht zu unterschaetzendes Interesse hegt." Damit liess er Fraeulein Klappsch los und bedeutete ihr, sie moege verschwinden. "Wie meinen Sie das"? fragte Diederich, unheimlich beruehrt. "Ich denke Anklage wegen Majestaetsbeleidigung zu erheben." "Sie?" "Jawohl, ich. Staatsanwalt Feifer hat Krankheitsurlaub, ich bin dran. Und, wie ich unmittelbar nach dem gestrigen Vorfall vor Zeugen festgestellt habe, war ich bei der Veruebung des Deliktes nicht anwesend, bin also keineswegs verhindert, in dem Prozess die Anklagebehoerde zu vertreten." "Aber wenn niemand die Sache anzeigt!" Jadassohn laechelte grausam. "Das haben wir, Gott sei Dank, nicht noetig ... Uebrigens erinnere ich Sie daran, dass Sie selbst gestern abend sich uns als Zeugen anboten." "Davon weiss ich nichts", sagte Diederich schnell. Jadassohn klopfte ihm auf die Schulter. "Sie werden sich an alles wieder erinnern, hoffe ich, wenn Sie unter Ihrem Eid stehen." Da entruestete Diederich sich. Er ward so laut, dass Klappsch diskret in das Zimmer spaehte. "Herr Assessor, ich muss mich sehr wundern, dass Sie private Aeusserungen meinerseits -. Sie haben offenbar die Absicht, mit Hilfe eines politischen Prozesses schneller Staatsanwalt zu werden. Aber ich moechte wissen, was mich Ihre Karriere angeht." "Na und mich die Ihre?" fragte Jadassohn. "So. Dann sind wir Gegner?" "Ich hoffe, es wird sich vermeiden lassen." Und Jadassohn setzte ihm auseinander, dass er keinen Grund habe, den Prozess zu fuerchten. Saemtliche Zeugen der Vorgaenge im Ratskeller wuerden dasselbe aussagen muessen wie er selbst: auch Lauers Freunde. Diederich werde sich keineswegs zu weit vorwagen ... Das habe er leider schon getan, erwiderte Diederich, denn schliesslich sei er es, der mit Lauer den Krach gehabt habe. Aber Jadassohn beruhigte ihn. "Wer fragt danach. Es handelt sich darum, ob die inkriminierten Worte von seiten des Herrn Lauer gefallen sind. Sie machen, wie die anderen Herren, einfach Ihre Aussage, wenn Sie wollen, mit Vorsicht." "Mit grosser Vorsicht!" versicherte Diederich. Und angesichts von Jadassohns teuflischer Miene: "Wie komme ich dazu, einen anstaendigen Menschen wie Lauer ins Gefaengnis zu bringen? Jawohl, einen anstaendigen Menschen! Denn eine politische Gesinnung ist in meinen Augen keine Schande!" "Besonders nicht bei dem Schwiegersohn des alten Buck, den Sie vorlaeufig noch brauchen", schloss Jadassohn - und Diederich liess den Kopf sinken. Dieser juedische Streber beutete ihn schamlos aus, und er konnte nichts machen! Da sollte man noch an Freundschaft glauben. Er sagte sich wieder einmal, dass alle gerissener und brutaler im Leben vorgingen als er selbst. Die grosse Aufgabe war: wie ward man energisch. Er setzte sich stramm hin und blitzte. Mehr unternahm er lieber nicht; bei einem Herrn von der Staatsanwaltschaft konnte man nie wissen ... Uebrigens lenkte Jadassohn zu etwas anderem ueber. "Wissen Sie schon, dass in der Regierung und bei uns im Gericht ganz sonderbare Geruechte umgehen - ueber das Telegramm Seiner Majestaet an den Regimentskommandeur? Der Oberst soll naemlich behaupten, er habe gar kein Telegramm bekommen." Diederich behielt, trotz innerem Erbeben, eine feste Stimme. "Aber es hat doch in der Zeitung gestanden!" Jadassohn grinste zweideutig. "Da steht gar zuviel." Er liess sich von Klappsch, der seine Glatze wieder in die Tuer schob, die "Netziger Zeitung" bringen. "Sehen Sie, in der Nummer hier steht ueberhaupt nichts, was nicht auf Seine Majestaet Bezug hat. Der Leitartikel beschaeftigt sich mit dem Allerhoechsten Bekenntnis zum geoffenbarten Glauben. Dann kommt das Telegramm an den Obersten, dann das Lokale mit der Heldentat des Postens und das Vermischte mit drei Anekdoten ueber die kaiserliche Familie." "Es sind recht ruehrende Geschichten", bemerkte Klappsch und verdrehte die Augen. "Zweifellos!" beteuerte Jadassohn; und Diederich: "Sogar so ein freisinniges Hetzblatt muss die Bedeutung Seiner Majestaet anerkennen!" "Aber bei dem loeblichen Eifer waere es schliesslich moeglich, dass die Redaktion die Allerhoechste Depesche eine Nummer zu frueh gebracht hat - noch vor ihrer Absendung." "Ausgeschlossen!" entschied Diederich. "Der Stil Seiner Majestaet ist unverkennbar." Auch Klappsch wollte ihn erkennen. Jadassohn gab zu: "Nun ja ... Weil man nie wissen kann, darum dementieren wir auch nicht. Wenn der Oberst nichts bekommen hat, die Netziger Zeitung koennte es ja direkt aus Berlin haben. Wulckow hat sich den Redakteur Nothgroschen kommen lassen, aber der Kerl verweigert die Aussage. Der Praesident hat gespuckt, er ist selbst zu uns gekommen wegen des Zeugniszwangverfahrens gegen Nothgroschen. Schliesslich haben wir davon abgesehen und warten lieber das Dementi aus Berlin ab - weil man eben nicht wissen kann." Da Klappsch in die Kueche gerufen ward, setzte Jadassohn noch hinzu: "Komisch, wie? Allen kommt die Geschichte verdaechtig vor, aber niemand will vorgehen, weil in diesem Fall - in diesem ganz besonderen Fall" - sagte Jadassohn mit perfider Betonung, und seine ganze Miene, sogar die Ohren sahen perfid aus, "gerade das Unwahrscheinliche am meisten Aussicht hat, Ereignis zu werden." Diederich war starr: nie haette ihm so schwarzer Verrat getraeumt. Jadassohn bemerkte sein Entsetzen und verwirrte sich, er fing an zu zappeln. "Nu, der Mann hat seine Schwaechen - Ihnen gesagt." Diederich versetzte, fremd und drohend: "Gestern abend schienen Sie davon noch nichts zu wissen." Jadassohn entschuldigte sich: der Sekt mache natuerlich unkritisch. Ob Herr Doktor Hessling denn die Begeisterung der uebrigen Herren so ernst genommen habe. Einen groesseren Noergler als den Major Kunze gebe es ueberhaupt nicht ... Diederich zog sich mit seinem Stuhle zurueck, ihm ward kalt, als finde er sich ploetzlich in einer Verbrecherhoehle. Mit aeusserster Energie sagte er: "Auf die nationale Gesinnung der uebrigen Herren hoffe ich mich ebenso verlassen zu koennen wie auf meine eigene, an der zu zweifeln ich mir auf das allerbestimmteste verbitten muesste." Jadassohn hatte seine schneidige Stimme zurueck. "Soll das etwa einen Zweifel in bezug auf meine Person involvieren, so weise ich ihn mit gebuehrender Entruestung zurueck." Kraehend, so dass Klappsch in die Tuer spaehte: "Ich bin der Koenigliche Assessor Doktor Jadassohn und stehe auf Wunsch zur Verfuegung." Darauf musste Diederich wohl murmeln, dass er es so nicht gemeint habe. Dann aber zahlte er. Die Verabschiedung war kuehl. Auf dem Heimwege schnaufte Diederich. Haette er sich nicht entgegenkommender verhalten sollen mit Jadassohn? Fuer den Fall, dass Nothgroschen redete? Jadassohn hatte ihn freilich noetig, in dem Prozess gegen Lauer! Auf alle Faelle war es gut, dass Diederich jetzt Bescheid wusste ueber den wahren Charakter dieses Herrn! "Seine Ohren sind mir gleich verdaechtig vorgekommen! Wirklich national empfinden kann man eben doch nicht mit solchen Ohren." Zu Hause nahm er sogleich den Berliner "Lokal-Anzeiger" vor. Da waren schon die Kaiseranekdoten fuer die "Netziger Zeitung" von morgen. Vielleicht kamen sie auch erst uebermorgen, fuer alle war dort nicht Platz. Aber er suchte weiter; seine Haende zitterten ... Da! Er musste sich setzen. "Ist dir was, mein Sohn?" fragte Frau Hessling. Diederich starrte die Buchstaben an, wie ein Maerchen, das Wahrheit ward. Da stand es, unter anderen unbezweifelten Dingen, in dem einzigen Blatt, das Seine Majestaet selbst las! Innerlich, in so tiefer Seele, dass er es selbst kaum hoerte, murmelte Diederich: "Mein Telegramm." Das bange Glueck sprengte ihn fast. Konnte es sein? Hatte er richtig vorausempfunden, was der Kaiser sagen wuerde? Sein Ohr reichte in diese Ferne? Sein Gehirn arbeitete gemeinsam mit -? Die unerhoertesten mystischen Beziehungen ueberwaeltigten ihn ... Aber das Dementi konnte noch kommen, er konnte zurueckgeschleudert werden in sein Nichts! Diederich verbrachte eine angstvolle Nacht, und am Morgen stuerzte er sich auf den Lokalanzeiger. Die Anekdoten. Die Denkmalsenthuellung. Die Rede. "Aus Netzig." Da stand von den Ehrungen, die dem Gefreiten Emil Pacholke zuteil geworden waren, fuer seinen vor dem inneren Feind bewiesenen Mut. Alle Offiziere, der Oberst an der Spitze, hatten ihm die Hand gedrueckt. Er hatte Geldgeschenke bekommen. "Bekanntlich hat der Kaiser den braven Soldaten schon gestern telegraphisch zum Gefreiten befoerdert." Da stand es! Kein Dementi: eine Bestaetigung! Er machte Diederichs Worte zu den seinen, und er fuehrte die Handlung aus, die Diederich ihm untergelegt hatte!... Diederich breitete das Zeitungsblatt weit aus; er sah sich darin wie in einem Spiegel, und um seine Schultern lag Hermelin. Diesen Sieg und Diederichs schwindelnde Erhoehung, leider durfte kein Wort sie verraten, aber sein Wesen genuegte, die Straffheit in Haltung und Sprache, das Herrscherauge. Familie und Werkstatt verstummten um ihn her. Soetbier selbst musste zugeben, dass ein forscherer Zug in den Betrieb gekommen sei. Und Napoleon Fischer schlich, je aufrechter und heller Diederich dastand, desto affenaehnlicher vorbei, die Arme nach vorn haengend, mit schiefem Blick und den fletschenden Zaehnen in seinem duennen schwarzen Bart: als der Geist des gebaendigten Umsturzes ... Dies war der Moment, gegen Guste Daimchen vorzugehen. Diederich machte Besuch. Frau Oberinspektor Daimchen empfing ihn zuerst allein, auf ihrem alten Plueschsofa, aber in einem braunen Seidenkleid mit lauter Schleifen, und die Haende breitete sie, rot und geschwollen wie die einer Waschfrau, vor sich hin auf ihren Bauch, so dass der Gast die neuen Ringe immer vor Augen hatte. Aus Verlegenheit gestand er seine Bewunderung, worauf Frau Daimchen sich bereitwillig darueber ausliess, dass sie und ihre Guste es nun Gott sei Dank zu allem haetten. Sie wuessten nur noch nicht, ob sie sich altdeutsch oder Louis kaes einrichten sollten. Diederich riet lebhaft zu altdeutsch; er habe es in Berlin in den feinsten Haeusern gesehen. Aber Frau Daimchen war misstrauisch. "Wer weiss, ob Sie so feine Leute wie uns schon besucht haben. Lassen Sie man, ich kenne das, wenn man so tun muss, als ob man was hat, und hat nichts." Hierauf schwieg Diederich ratlos, und Frau Daimchen trommelte sich mit Genugtuung auf den Bauch. Zum Glueck trat Guste ein, heftig rauschend. Diederich schwang sich elastisch aus seinem Fauteuil, sagte schnarrend: "Gnaedigstes Fraeulein!" und unternahm einen Handkuss. Guste lachte. "Reissen Sie sich nur kein Bein aus!" Aber sie troestete ihn gleich wieder. "Man sieht sofort, was ein feiner Mann ist. Der Herr Leutnant von Brietzen macht es auch so." "Ja, ja," sagte Frau Daimchen, "bei uns verkehren alle Herren Offiziere. Gestern sag' ich noch zu Guste: Guste, sag' ich, auf jede Sitzgelegenheit koennen wir eine Freiherrnkrone sticken lassen, denn ueberall hat sich schon einer draufgesetzt." Guste verzog den Mund. "Aber was die Familien betrifft und sonst ueberhaupt, ist Netzig doch reichlich spiessig. Ich glaube, wir ziehen nach Berlin." Damit war Frau Daimchen nicht einverstanden. "Man soll den Leuten den Gefallen nicht tun", meinte sie. "Die alte Harnisch ist erst heute, wie sie mein Seidenkleid gesehen hat, fast zerplatzt." "So ist Mutter nun mal," sagte Guste. "Wenn sie renommieren kann, ist alles gut. Aber ich denke doch auch an meinen Verlobten. Wissen Sie, dass Wolfgang sein Staatsexamen gemacht hat? Was soll er hier in Netzig? In Berlin kann er mit unserem vielen Geld was werden." Diederich bestaetigte: "Er wollte ja schon immer Minister oder so was werden." Leis hoehnisch setzte er hinzu: "Das soll ja ganz leicht sein." Guste nahm sofort eine feindliche Haltung ein. "Der Sohn vom alten Herrn Buck ist eben nicht jeder", sagte sie spitz. Aber Diederich setzte, weltmaennisch ueberlegen, auseinander, dass es heute auf Dinge ankomme, die der Einfluss des alten Buck nicht verleihen koenne: Persoenlichkeit, grosszuegigen Unternehmungsgeist und vor allem eine stramm nationale Gesinnung. Das junge Maedchen unterbrach ihn nicht mehr, sie sah sogar mit Respekt auf seine kuehnen Schnurrbartspitzen. Aber das Bewusstsein, Eindruck zu machen, riss ihn zu weit fort. "Von alledem habe ich bei Herrn Wolfgang Buck noch nichts bemerkt", sagte er. "Der philosophiert und noergelt, und im uebrigen soll er sich ziemlich viel amuesieren ... Na," schloss er, "seine Mutter war ja auch eine Schauspielerin." Und er sah fort, obwohl er fuehlte, dass Gustes drohender Blick ihn suchte. "Was wollen Sie damit sagen?" fragte sie. Er tat ueberrascht. "Ich, gar nichts. Ich meinte, wie reiche junge Leute in Berlin nun mal leben. Bucks sind doch eine vornehme Familie." "Das wollen wir hoffen", sagte Guste schroff. Frau Daimchen, die gegaehnt hatte, erinnerte an die Schneiderin, Guste sah Diederich erwartungsvoll an, ihm blieb nichts uebrig, als aufzustehen und seine Verbeugungen zu machen. Den Handkuss unternahm er nicht mehr, mit Ruecksicht auf die gespannte Stimmung. Aber im Vorzimmer holte Guste ihn ein. "Wollen Sie es mir jetzt vielleicht sagen," fragte sie, "was Sie gemeint haben mit der Schauspielerin?" Er oeffnete den Mund, schnappte und schloss ihn wieder, stark erroetet. Um ein Haar haette er verraten, was seine Schwestern ihm ueber Wolfgang Buck erzaehlt hatten. Er sagte mit mitleidiger Stimme: "Fraeulein Guste, weil wir doch so alte Bekannte sind -. Ich wollte nur sagen, der Buck ist nichts fuer Sie. Er ist sozusagen erblich belastet von seiner Mutter her. Der Alte war doch auch zum Tode verurteilt. Und was ist denn sonst an den Bucks noch dran? Glauben Sie mir, man soll in keine Familie heiraten, mit der es bergab geht. Das ist Suende gegen sich selbst", setzte er noch hinzu. Aber Guste hatte die Haende in die Hueften gestemmt. "Bergab? Und mit Ihnen geht es wohl bergauf? Weil Sie sich im Ratskeller betrinken und dann den Leuten Krach machen? Die ganze Stadt spricht von Ihnen, und Sie moechten einer hochfeinen Familie was anhaengen. Bergab! Wer mein Geld kriegt, mit dem geht es ueberhaupt nicht bergab. Sie sind bloss neidisch, meinen Sie, ich weiss das nicht?" - und sie sah ihn an, die Augen voll Traenen der Wut. Ihm war sehr beklommen; er haette Lust gehabt, sich auf die Knie zu werfen, ihr die dicken kleinen Finger zu kuessen und dann die Traenen aus den Augen, - aber ging denn das? Inzwischen zog sie alle rosigen Fettpolster ihres Gesichtes herunter zu einem Ausdruck der Verachtung, machte kehrt und schlug die Tuer zu. Diederich stand mit angstklopfendem Herzen noch eine Weile da, dann trollte er sich, im Gefuehl seiner Kleinheit. Er bedachte, dass fuer ihn hier nichts zu machen gewesen sei; die Sache gehe ihn nichts an, Guste sei mit all ihrem Geld doch immer nur eine fette Gans, - und das beruhigte ihn. Wie dann eines Abends Jadassohn ihm mitteilte, was er in Magdeburg beim Gericht erfahren habe, da triumphierte Diederich. Fuenfzigtausend Mark, das war alles! Und deswegen ein Auftreten wie die Graefinnen? Ein Maedchen von dermassen schwindelhaftem Gebaren passte freilich besser zu den verkommenen Bucks als zu einem kernigen und treugesinnten Mann wie Diederich! Da war Kaethchen Zillich vorzuziehen. Aeusserlich Guste aehnlich und mit fast ebenso starken Reizen geschmueckt, empfahl sie sich ausserdem durch Gemuet und ein entgegenkommendes Wesen. Er kam oefter zum Kaffee und machte ihr eifrig den Hof. Sie warnte ihn vor Jadassohn, was Diederich als nur zu berechtigt anerkennen musste. Auch sprach sie mit aeusserster Missbilligung von Frau Lauer, die mit Landgerichtsrat Fritzsche -. Was Lauers Prozess betraf, war Kaethchen Zillich die einzige, die ganz auf Diederichs Seite stand. Denn diese Sache nahm fuer Diederich ein drohendes Gesicht an. Jadassohn hatte erreicht, dass die Staatsanwaltschaft durch einen Ermittelungsrichter die Zeugen jenes naechtlichen Vorfalls vernehmen liess; und so zurueckhaltend Diederich sich vor dem Richter geaeussert hatte, die anderen machten ihn verantwortlich fuer ihre Verlegenheiten. Die Herren Cohn und Fritzsche wichen ihm aus; der Bruder des Herrn Buck, ein so hoeflicher Mann, vermied seinen Gruss; Heuteufel pinselte ihn grausam, lehnte aber jedes Privatgespraech ab. An dem Tage, da es bekannt ward, dass das Gericht dem Fabrikbesitzer Lauer die Anklageschrift zugestellt habe, fand Diederich seinen Tisch im Ratskeller leer. Professor Kuehnchen zog sich eben den Mantel an, Diederich konnte ihn noch am Kragen packen. Aber Kuehnchen hatte es eilig, er musste im freisinnigen Waehlerverein gegen die neue Militaervorlage reden. Er entwischte; und Diederich dachte enttaeuscht jener sieghaften Nacht, als draussen das Blut des inneren Feindes, hier aber Sekt geflossen war, und als unter den Nationalgesinnten Kuehnchen der kriegslustigste gewesen war. Jetzt sprach er gegen die Vermehrung unseres ruhmreichen Heeres!... Diederich sah, einsam und verlassen, in seinen Daemmerschoppen; da erschien Major Kunze. "Nanu, Herr Major," sagte Diederich mit erzwungener Munterkeit, "von Ihnen hoert man gar nichts mehr." "Von Ihnen um so mehr." Der Major knurrte, blieb in Hut und Mantel stehen und sah sich um, wie in einer Schneewueste. "Kein Mensch da!" "Wenn ich Sie zu einem Glas Wein einladen darf -" wagte Diederich zu sagen, aber er kam uebel an. "Danke, Ihr Sekt liegt mir noch im Magen." Der Major bestellte Bier und sass da, stumm und mit einem Gesicht zum Fuerchten. Um nur das schreckliche Schweigen zu beenden, sagte Diederich drauf los: "Nun, und der Kriegerverein, Herr Major? Ich habe immer geglaubt, ich wuerde einmal etwas hoeren ueber meine Aufnahme." Der Major sah ihn lange nur an, als wollte er ihn fressen. "Ach so. Sie haben geglaubt. Sie haben wohl auch geglaubt, es wuerde mir eine Ehre sein, wenn Sie mich in Ihre Skandalaffaere hineinziehen?" "Meine?" stotterte Diederich. Der Major donnerte. "Jawohl, Herr! Ihre! Dem Herrn Fabrikbesitzer Lauer ist mal ein Wort zu viel ausgerutscht, das kann vorkommen, sogar bei alten Soldaten, die sich fuer ihren Koenig haben zu Krueppeln schiessen lassen. Sie aber haben den Herrn Lauer raffinierterweise zu seinen unbedachten Aeusserungen verleitet. Das bin ich bereit, vor dem Untersuchungsrichter zu bekunden. Den Lauer kenne ich: der war in Frankreich mit und ist in unserem Kriegerverein. Sie, Herr, wer sind Sie? Weiss ich, ob Sie ueberhaupt gedient haben? Her mit Ihren Papieren!" Diederich griff in die Brusttasche. Er wuerde stramm gestanden haben, wenn der Major es befohlen haette. Der Major hielt sich den Militaerpass weit von den Augen fort. Ploetzlich warf er ihn hin, er feixte grimmig. "Na also. Landsturm mit der Waffe. Hab' ich es nicht gesagt? Plattfuesse wahrscheinlich." Diederich war bleich, bebte bei jedem Wort des Majors und hielt beschwoerend die Hand vor sich hin. "Herr Major, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich gedient habe. Infolge eines Ungluecksfalles, der mir nur zur Ehre gereicht, musste ich nach drei Monaten austreten ..." "Solche Ungluecksfaelle kennen wir ... Zahlen!" "Sonst waere ich ganz dabei geblieben", sagte Diederich noch, mit fliegender Stimme. "Ich war mit Leib und Seele Soldat, fragen Sie meine Vorgesetzten." "'n Abend." Der Major hatte schon den Mantel an. "Ich will Ihnen bloss noch sagen, Herr: wer nicht gedient hat, den gehen die Majestaetsbeleidigungen anderer Leute den Teufel an. Majestaet legt keinen Wert auf nicht gediente Herrschaften ... Gruetzmacher," sagte er zum Wirt, "Sie sollten sich Ihr Publikum genauer ansehen. Wegen eines Gastes, der mal zuviel da ist, ist nun der Herr Lauer beinahe verhaftet worden, und ich muss mit meinem steifen Bein zu Gericht als Belastungszeuge und es mit allen Leuten verderben. Der Harmonieball ist schon abgesagt, ich bin beschaeftigungslos, und wenn ich hier zu Ihnen komme -" er warf wieder einen Blick wie ueber Schneewuesten - "ist kein Mensch da. Ausser, natuerlich, der Denunziant!" schrie er noch auf der Treppe. "Mein Ehrenwort, Herr Major -" Diederich lief hinterher, "ich habe keine Anzeige erstattet, das Ganze ist ein Missverstaendnis." Der Major war schon draussen, Diederich rief ihm nach: "Wenigstens bitte ich um Ihre Diskretion!" Er trocknete die Stirn. "Herr Gruetzmacher, Sie muessen doch einsehen -" sagte er, mit Traenen in der Stimme. Da er Wein bestellte, sah der Wirt alles ein. Diederich trank und schuettelte wehmuetig den Kopf. Diese Fehlschlaege begriff er nicht. Seine Absichten waren rein gewesen, nur die Tuecke seiner Feinde verdunkelte sie ... Da erschien der Landgerichtsrat Dr. Fritzsche, sah sich zoegernd um, - und als er Diederich wirklich ganz allein fand, kam er zu ihm. "Herr Doktor Hessling," sagte er und gab ihm die Hand, "Sie sehen ja aus, als ob Ihnen die Ernte verhagelt waer." In einem grossen Betrieb, murmelte Diederich, gebe es freilich immer Aerger. Aber da er die mitfuehlende Miene des anderen sah, erweichte er sich vollends. "Ihnen kann ich es sagen, Herr Landgerichtsrat, die Sache mit dem Herrn Lauer ist mir verdammt unangenehm." "Ihm noch mehr", sagte Fritzsche, nicht ohne Strenge. "Wenn bei ihm nicht jeder Fluchtverdacht ausgeschlossen waere, haetten wir ihn gleich heute verhaften lassen muessen." Er sah Diederich erbleichen und fuegte hinzu: "Was sogar uns Richtern peinlich gewesen waere. Schliesslich ist man Mensch und lebt unter Menschen. Aber natuerlich -" Er befestigte seinen Klemmer und machte sein trockenes Gesicht. "Das Gesetz muss befolgt werden. Wenn Lauer an dem betreffenden Abend - ich selbst hatte das Lokal ja schon verlassen - tatsaechlich die unerhoerten Majestaetsbeleidigungen geaeussert hat, die von der Anklage behauptet werden, und fuer die Sie als Hauptzeuge aufgestellt sind -" "Ich?" Diederich fuhr verzweifelt auf. "Ich habe nichts gehoert! Kein Wort!" "Dagegen spricht Ihre Aussage vor dem Ermittelungsrichter." Diederich verwirrte sich. "Im ersten Moment weiss man doch nicht, was man sagen soll. Aber wenn ich mir den fraglichen Vorgang jetzt rekonstruiere, dann scheint es mir doch, dass wir alle ziemlich stark angeheitert waren. Ich besonders." "Sie besonders", wiederholte Fritzsche. "Ja, und da habe ich wohl anzuegliche Fragen an Herrn Lauer gestellt. Was er mir darauf geantwortet hat, das koennte ich jetzt nicht mehr beschwoeren. Das Ganze war doch ueberhaupt nur ein Scherz." "Ach so: ein Scherz." Fritzsche atmete auf. "Ja, aber was hindert Sie denn, das einfach dem Richter zu sagen?" Er erhob den Finger. "Ohne dass ich natuerlich im geringsten Ihre Aussage beeinflussen moechte." Diederich erhob die Stimme. "Dem Jadassohn vergess ich den Streich nicht!" Und er berichtete die Machenschaften dieses Herrn, der sich waehrend der Szene vorsaetzlich entfernt habe, um nicht als Zeuge in Betracht zu kommen; der dann sofort Material fuer die Anklage gesammelt, den halb unzurechnungsfaehigen Zustand der Anwesenden missbraucht und sie von vornherein festgelegt habe mit ihren Aussagen. "Herr Lauer und ich, wir halten einander fuer Ehrenmaenner. Wie untersteht sich so ein Jude, uns zu verhetzen!" Fritzsche erklaerte ernst, dass hier nicht Jadassohns Persoenlichkeit in Betracht komme, sondern nur das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Freilich war zuzugeben, dass Jadassohn vielleicht zum Uebereifer neigte. Mit gedaempfter Stimme setzte er hinzu: "Sehen Sie, das ist eben der Grund, weshalb wir mit den juedischen Herren nicht gern zusammenarbeiten. Solch ein Herr legt sich nicht die Frage vor, welchen Eindruck es auf das Volk machen muss, wenn ein gebildeter Mann, ein Arbeitgeber, wegen Majestaetsbeleidigungen verurteilt wird. Sachliche Bedenken verschmaeht sein Radikalismus." "Sein juedischer Radikalismus", ergaenzte Diederich. "Er stellt unbedenklich sich selbst in den Vordergrund, - womit ich keineswegs leugnen will, dass er auch ein amtliches und nationales Interesse wahrzunehmen glaubt." "Wieso denn?" rief Diederich. "Ein gemeiner Streber, der mit unseren heiligsten Guetern spekuliert!" "Wenn man sich scharf ausdruecken will -" Fritzsche laechelte befriedigt. Er rueckte naeher. "Nehmen wir einmal an, ich waere Untersuchungsrichter: es gibt Faelle, in denen man gewissermassen Grund haette, sein Amt niederzulegen." "Sie sind mit dem Lauerschen Hause eng befreundet", sagte Diederich und nickte bedeutsam. Fritzsche machte sein weltmaennisches Gesicht. "Aber Sie begreifen, damit wuerde ich gewisse Geruechte ausdruecklich bestaetigen." "Das geht nicht", sagte Diederich. "Es waere gegen den Komment." "Mir bleibt nichts uebrig, als meine Pflicht zu tun, ruhig und sachlich." "Sachlich sein heisst deutsch sein", sagte Diederich. "Besonders, da ich annehmen darf, dass die Herren Zeugen mir meine Aufgabe nicht unnoetig erschweren werden." Diederich legte die Hand auf die Brust. "Herr Landgerichtsrat, man kann sich hinreissen lassen, wo es um eine grosse Sache geht. Ich bin eine impulsive Natur. Aber ich bleibe mir bewusst, dass ich fuer alles meinem Gott Rechenschaft schulde." Er schlug die Augen nieder. Mit maennlicher Stimme: "Auch ich bin der Reue zugaenglich." Dies schien Fritzsche zu genuegen, denn er zahlte. Die Herren schuettelten einander ernst und verstaendnisvoll die Haende. Schon am Tage darauf ward Diederich vor den Untersuchungsrichter geladen und stand vor Fritzsche. "Gott sei Dank", dachte er und machte mit treuherziger Sachlichkeit seine Aussagen. Auch Fritzsches einzige Sorge schien die Wahrheit zu sein. Die oeffentliche Meinung freilich blieb bei ihrer Parteilichkeit fuer den Angeklagten. Von der sozialdemokratischen "Volksstimme" nicht zu reden; sie verstieg sich bis zu hoehnischen Auslassungen ueber Diederichs Privatleben, hinter denen wohl sicher Napoleon Fischer zu suchen war. Aber auch die sonst so ruhige "Netziger Zeitung" gab gerade jetzt eine Ansprache des Herrn Lauer an seine Arbeiter wieder, worin der Fabrikbesitzer darlegte, dass er den Gewinn seines Unternehmens redlich mit allen denen teile, die daran mitgearbeitet hatten, ein Viertel den Beamten, ein Viertel den Arbeitern. In acht Jahren hatten sie ausser ihren Loehnen und Gehaeltern die Summe von 130 000 Mark unter sich zu verteilen gehabt. Dies machte auf weite Kreise den guenstigsten Eindruck. Diederich begegnete missbilligenden Gesichtern. Sogar der Redakteur Nothgroschen, den er zur Rede stellte, erlaubte sich ein anzuegliches Laecheln und sagte etwas von sozialen Fortschritten, die man mit nationalen Phrasen nicht aufhalte. Besonders peinlich waren die geschaeftlichen Folgen. Bestellungen, auf die Diederich rechnen durfte, blieben aus. Der Warenhausbesitzer Cohn teilte ihm ausdruecklich mit, dass er fuer seine Weihnachtskataloge die Papierfabrik Gausenfeld bevorzuge, weil er mit Ruecksicht auf seine Kunden sich politische Zurueckhaltung auferlegen muesse. Diederich erschien jetzt ganz frueh im Bureau, um solche Briefe abzufangen, aber Soetbier war immer noch frueher da, und das vorwurfsvolle Schweigen des alten Prokuristen erhoehte seine Wut. "Ich schmeiss den ganzen Krempel hin!" schrie er. "Sie und die Leute sollen dann sehen, wo sie bleiben. Ich mit meinem Doktor hab' morgen einen Direktorposten mit 40 000 Mark!" - "Ich opfere mich fuer euch!" schrie er die Arbeiter an, wenn sie gegen das Reglement Bier tranken. "Ich zahle drauf, nur um keinen zu entlassen." Gegen Weihnacht musste er dennoch einem Drittel der Leute aufsagen; Soetbier rechnete ihm vor, dass die Zahlungsfristen zu Beginn des Jahres sonst nicht eingehalten werden koennten, "da wir nun mal 2000 Mark als Anzahlung fuer den neuen Hollaender aufnehmen mussten"; und er blieb dabei, obwohl Diederich nach dem Tintenfass griff. In den Mienen der Uebriggebliebenen las er Misstrauen und Geringschaetzung. So oft mehrere zusammenstanden, glaubte er das Wort "Denunziant" zu hoeren. Napoleon Fischers knotige, schwarzbehaarte Haende hingen weniger tief ueber dem Boden, und es sah aus, als bekaeme er sogar Farbe. Am letzten Adventsonntag - das Landgericht hatte soeben die Eroeffnung des Hauptverfahrens beschlossen - predigte in der Marienkirche Pastor Zillich ueber den Text: "Liebet eure Feinde." Diederich erschrak beim ersten Wort. Bald fuehlte er, wie auch die Gemeinde unruhig ward. "Die Rache ist mein, spricht der Herr": Pastor Zillich rief es sichtlich nach dem Hesslingschen Stuhl hinueber. Emmi und Magda versanken ganz darin, Frau Hessling schluchzte. Diederich beantwortete drohend die Blicke, die ihn suchten. "Wer aber spricht Rache, der ist des Gerichts!" Da wandte sich alles um, und Diederich knickte zusammen. Zu Hause machten die Schwestern ihm eine Szene. Man behandelte sie schlecht in den Gesellschaften. Nie mehr ward der junge Oberlehrer Helferich neben Emmi gesetzt, er kuemmerte sich nur noch um Meta Harnisch, und sie wusste wohl warum. "Weil du ihm zu alt bist", sagte Diederich. "Nein, sondern weil du uns unbeliebt machst!" - "Die fuenf Toechter vom Bruder des Herrn Buck gruessen uns schon nicht mehr!" rief Magda. Und Diederich: "Ich werd' ihnen fuenf Ohrfeigen herunterhauen!" - "Das lass gefaelligst! An dem einen Prozess haben wir genug." Da verlor er die Geduld. "Ihr? Was gehen euch meine politischen Kaempfe an?" "Alte Jungfern werden wir noch, wegen deiner politischen Kaempfe!" "Das braucht ihr nicht erst zu werden. Ihr liegt mir hier unnuetz im Hause umher, ich rackere mich ab fuer euch, und ihr wollt auch noch noergeln und mir meine heiligsten Aufgaben verekeln? Dann schuettelt gefaelligst den Staub von euren Pantoffeln! Meinetwegen koennt ihr Kindermaedchen werden!" Und er schlug die Tuer zu, trotz Frau Hesslings gerungenen Haenden. So kamen denn traurige Weihnachten heran. Die Geschwister sprachen nicht miteinander; Frau Hessling verliess das verschlossene Zimmer, wo sie den Baum schmueckte, nie anders als mit verweinten Augen. Und am heiligen Abend, wie sie ihre Kinder hineinfuehrte, sang sie ganz allein und mit zitternder Stimme "Stille Nacht". "Dies schenkt Diedel seinen lieben Schwestern!" sagte sie und machte ein bittendes Gesicht, damit er sie nicht Luegen strafe. Emmi und Magda dankten ihm verlegen, er besah ebenso verlegen die Gaben, die angeblich von ihnen kamen. Es tat ihm leid, dass er die gewohnte Christbaumfeier der Arbeiter, trotz Soetbiers dringendem Rat, abgelehnt hatte, um die unbotmaessige Gesellschaft zu bestrafen. Sonst haette er jetzt mit den Leuten zusammensitzen koennen. Hier in der Familie war es eine kuenstliche Sache, eine Aufwaermung alter, verbrauchter Stimmung. Echt waere sie erst geworden durch eine, die nicht dabei war: Guste ... Der Kriegerverein war ihm verschlossen, und im Ratskeller haette er niemand gefunden, wenigstens keinen Freund. Diederich erschien sich vernachlaessigt, unverstanden und verfolgt. Wie fern lagen die harmlosen Zeiten der Neuteutonia, als man in langen, von Wohlwollen beseelten Reihen sang und Bier trank. Heute, im rauhen Leben, brachten keine wackeren Kommilitonen mehr einander ehrliche Schmisse bei, sondern lauter verraeterische Konkurrenten wollten sich gegenseitig an den Hals. "Ich passe nicht in diese harte Zeit", dachte Diederich, ass Marzipan von seinem Teller und traeumte in die Lichter des Weihnachtsbaumes. "Ich bin doch gewiss ein guter Mensch. Warum ziehen sie mich in so haessliche Dinge hinein wie dieser Prozess, und schaden mir dadurch auch geschaeftlich, so dass ich, ach lieber Gott! den Hollaender, den ich bestellt habe, nicht werde bezahlen koennen." Dabei schnitt es ihm kalt durch den Leib, Traenen traten ihm in die Augen, und damit die Mutter, die immer aengstlich nach seiner sorgenvollen Miene schielte, sie nicht saehe, stahl er sich in das dunkle Nebenzimmer. Er stuetzte die Arme auf das Klavier und schluchzte in die Haende. Draussen stritten Emmi und Magda um ein paar Handschuhe, und die Mutter wagte nicht zu entscheiden, wem sie beschert worden waren. Diederich schluchzte. Alles war fehlgeschlagen, in Politik, Geschaeft und Liebe. "Was hab' ich denn noch?" Er oeffnete das Klavier. Ihn froestelte, er war so unheimlich allein, dass er Angst hatte, ein Geraeusch zu machen. Die Toene kamen von selbst, seine Haende wussten es kaum. Aus Volksliedern, Beethoven und dem Kommersbuch klang es durcheinander in der Daemmerung, die sich traulich davon erwaermte, so dass einem wohlig dumpf im Kopf ward. Einmal meinte er, dass eine Hand ihm ueber den Scheitel streife. War es nur ein Traum? Nein, denn auf dem Klavier stand ploetzlich ein volles Bierglas. Die gute Mutter! Schubert, weiche Biederkeit, Gemuet der Heimat ... Es ward still, und er wusste es nicht - bis die Wanduhr schlug: eine Stunde war vergangen! "Das war meine Weihnacht", sagte Diederich und ging hinaus zu den anderen. Er fuehlte sich getroestet und gekraeftigt. Da die Schwestern noch immer wegen der Handschuhe maulten, erklaerte er sie fuer gemuetlos und steckte die Handschuhe ein, um sie fuer sich umzutauschen. Die ganze Festzeit ward verduestert durch die Sorge wegen des Hollaenders. Sechstausend Mark fuer einen neuen Patent-Hollaender System Maier! Das Geld war nicht da, und wie die Dinge lagen, nicht zu beschaffen. Es war ein unbegreifliches Verhaengnis, ein schaebiger Widerstand von Menschen und Dingen, der Diederich erbitterte. Wenn Soetbier nicht dabei war, schlug er mit dem Pultdeckel und schleuderte Briefordner in die Ecken. Fuer den neuen Herrn, der die Zuegel des Betriebes in seine feste Hand genommen hatte, mussten doch ohne weiteres neue Unternehmungen eintreten, die Erfolge warteten auf ihn, die Ereignisse hatten sich seiner Persoenlichkeit anzupassen!... Nach dem Zorn kam der Kleinmut, Diederich traf Vorkehrungen fuer den Fall einer Katastrophe. Er war sanft mit Soetbier: vielleicht konnte der Alte noch einmal helfen. Auch demuetigte er sich vor Pastor Zillich und bat ihn, den Leuten zu sagen, dass er mit der Predigt, von der alle sprachen, nicht auf ihn gezielt habe. Der Pastor versprach es auch, mit sichtlicher Reue, unter dem strafenden Blick seiner Gattin, die sein Versprechen bekraeftigte. Dann liessen die Eltern Kaethchen mit Diederich allein, und er war ihnen in seiner Niedergeschlagenheit so dankbar, dass er sich fast erklaert hatte. Kaethchens Jawort, das auf ihren lieben, dicken Lippen wartete, waere doch ein Erfolg gewesen, es haette ihm Bundesgenossen gebracht gegen die feindliche Welt. Aber der unbezahlbare Hollaender! Er wuerde ein Viertel der Mitgift verschlungen haben ... Diederich seufzte, er muesse nun wieder ins Geschaeft; und Kaethchen kniff die Lippen zusammen, ohne dass das Jawort zur Verwendung gelangt war. Ein Entschluss musste gefasst werden, denn die Ankunft des Hollaenders stand bevor. Diederich sagte zu Soetbier: "Ich rate den Leuten nur, ihn auf Tag und Stunde zu liefern, sonst geb' ich ihn ohne Gnade zurueck." Aber Soetbier erinnerte an das Gewohnheitsrecht, das den Fabriken einige Tage Spielraum lasse. Trotz Diederichs Heftigkeit blieb er dabei. Uebrigens traf die Maschine puenktlich ein. Sie war noch nicht ausgepackt, und schon wetterte Diederich. "Er ist zu gross! Die Leute haben mir garantiert, dass er kleiner sein soll als das alte System. Wozu kaufe ich ihn denn, wenn ich nicht mal Raum sparen soll!" Und er ging, sobald der Hollaender aufgestellt war, mit dem Metermass um ihn herum. "Er ist zu gross! Ich lass mich nicht beschwindeln! Bezeugen Sie mir, Soetbier, dass er zu gross ist!" Aber Soetbier klaerte mit unbeirrbarer Rechtlichkeit den Fehler in Diederichs Messungen auf. Schnaufend zog Diederich sich zurueck, um einen neuen Angriffsplan zu ersinnen. Er rief Napoleon Fischer herbei. "Wo ist denn der Monteur? Haben uns die Leute keinen Monteur mitgeschickt?" Und dann entruestete er sich. "Ich habe ihn doch bestellt!" log er. "Die Leute scheinen ihr Geschaeft zu verstehen. Ich werde mich nicht wundern, wenn ich fuer den Kerl taeglich zwoelf Mark bezahlen muss, und er glaenzt durch Abwesenheit. Wer stellt mir das Ungluecksding da nun auf?" Der Maschinenmeister behauptete, er verstehe sich darauf. Diederich bewies ihm ploetzlich grosses Wohlwollen. "Sie koennen sich denken: Ihnen zahl' ich lieber die Ueberstunden, als dass ich mein Geld fuer den fremden Menschen hinauswerfe. Schliesslich sind Sie ein alter Mitarbeiter." Napoleon Fischer zog die Brauen hinauf, sagte aber nichts. Diederich beruehrte seine Schulter. "Sehen Sie mal, lieber Freund," sagte er halblaut, "ich bin von dem Hollaender naemlich enttaeuscht. Auf den Bildern im Prospekt sah er anders aus. Die Messerwalze sollte doch viel breiter sein, wo bleibt da die groessere Leistungsfaehigkeit, die die Leute uns versprochen haben. Was meinen Sie? Halten Sie den Zug fuer gut? Ich fuerchte, der Stoff bleibt liegen." Napoleon Fischer sah Diederich an, pruefend, aber schon mit Verstaendnis. Man muesse es ausprobieren, meinte er zoegernd. Diederich vermied seinen Blick, er tat, als untersuchte er die Maschine. Dabei sagte er aufmunternd: "Also schoen. Sie stellen das Ding auf, ich zahle Ihnen die Ueberstunden mit fuenfundzwanzig Prozent Aufschlag, und dann tragen Sie in Gottes Namen gleich Stoff ein. Wir werden die Bescherung ja sehen." "Es wird wohl 'ne nette Bescherung sein", sagte der Maschinenmeister mit sichtlichem Entgegenkommen. Diederich griff, ehe er es selbst wusste, nach seinem Arm, Napoleon Fischer war ein Freund, ein Retter! "Kommen Sie mal mit, mein Lieber" - seine Stimme war bewegt. Er fuehrte Napoleon Fischer in das Wohnhaus, Frau Hessling musste ihm ein Glas Wein einschenken, und Diederich drueckte ihm, ohne hinzusehen, fuenfzig Mark in die Hand. "Ich verlass mich auf Sie, Fischer", sagte er. "Wenn ich Sie nicht haette, wuerde die Fabrik mich womoeglich hineinlegen. Zweitausend Mark hab' ich den Leuten schon in den Rachen geworfen." "Die muessen sie wieder hergeben", sagte der Maschinenmeister gefaellig. Diederich fragte dringend: "Das meinen Sie doch auch?" Und schon tags darauf, nach der Mittagspause, die er zu Versuchen mit dem Hollaender benutzt hatte, teilte Napoleon Fischer seinem Arbeitgeber mit, dass die neue Erwerbung nichts tauge. Der Stoff blieb liegen, man musste mit dem Ruehrscheit nachhelfen, wie bei jedem Hollaender aeltester Konstruktion. "Also der offenbare Schwindel!" rief Diederich. Auch brauchte der Hollaender mehr als zwanzig Pferdestaerken. "Das ist vertragswidrig! Muessen wir uns das gefallen lassen, Fischer?" "Das muessen wir uns nicht gefallen lassen", entschied der Maschinenmeister und strich mit seiner knotigen Hand ueber sein schwarz behaartes Kinn. Diederich sah ihn zum erstenmal fest an. "Dann koennen Sie mir also bezeugen, dass der Hollaender die bei Bestellung vereinbarten Bedingungen nicht erfuellt?" In Napoleon Fischers schuetterem Bart erschien ein duennes Laecheln. "Kann ich", sagte er. Diederich sah das Laecheln. Um so strammer machte er kehrt. "Na, dann sollen die Leute mich kennenlernen!" Sogleich schrieb er einen energisch gehaltenen Brief an Bueschli & Cie. in Eschweiler. Die Antwort kam umgehend. Man begreife seine Beanstandungen nicht, der neue Patenthollaender System Maier sei schon von mehreren Papierfabriken, deren Verzeichnis beiliege, aufgestellt und erprobt worden. Von einer Zuruecknahme und gar von einer Rueckerstattung der angezahlten 2000 Mark koenne daher nicht die Rede sein, vielmehr sei der Rest der vertragsmaessigen Kaufsumme sofort zu erlegen. Diederich schrieb darauf noch entschiedener als das erstemal und drohte mit einer Klage. Bueschli & Cie. versuchten nun, ihn zu beschwichtigen, sie empfahlen eine nochmalige Probe. "Sie haben Angst", sagte Napoleon Fischer, dem Diederich das Schreiben zeigte, und er fletschte die Zaehne. "Eine Klage koennen sie nicht brauchen, denn ihr Hollaender ist noch nicht genuegend eingefuehrt." "Stimmt", sagte Diederich. "Wir haben die Kerls in der Hand!" Und mit erbitterter Siegesgewissheit lehnte er jeden Vergleich und die angebotene Preisermaessigung schroff ab. Als dann mehrere Tage lang nichts weiter erfolgte, ward er freilich unruhig. Vielleicht warteten sie nun doch seine Klage ab? Vielleicht strengten sie selbst eine an! Unsicher suchte sein Blick, oftmals am Tage, Napoleon Fischer, der ihn von unten erwiderte. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Wie aber Diederich eines Vormittags um elf Uhr beim zweiten Fruehstueck sass, brachte das Maedchen eine Karte: Friedrich Kienast, Prokurist der Firma Bueschli & Cie., Eschweiler; und indes Diederich sie noch hin und her wendete, trat der Besucher schon ein. An der Tuer blieb er stehen. "Pardon," sagte er, "es muss ein Irrtum sein. Man hat mich hier ins Haus gewiesen, aber ich komme naemlich geschaeftlich." Diederich hatte sich besonnen. "Ich kann es mir denken, aber das macht nichts, bitte, treten Sie doch naeher. Doktor Hessling ist mein Name. Hier ist meine Mutter und meine Schwestern Emmi und Magda." Der Herr trat naeher und verbeugte sich vor den Damen. "Friedrich Kienast", murmelte er. Er war gross, blondbaertig und trug einen braunen wolligen Jackettanzug. Alle drei Damen laechelten hingebend. "Darf ich fuer den Herrn ein Gedeck auflegen?" fragte Frau Hessling. Und Diederich: "Natuerlich. Herr Kienast fruehstueckt doch mit uns?" "Ich sage nicht nein", erklaerte der Vertreter von Bueschli & Cie., und er rieb sich die Haende. Magda legte ihm Buecklinge vor, die er schon lobte, waehrend er den ersten Bissen noch auf der Gabel hatte. Diederich fragte ihn, harmlos lachend: "Nuechtern machen Sie wohl auch nicht gern Geschaefte?" Herr Kienast lachte auch. "Bei den Geschaeften bin ich immer nuechtern." Diederich schmunzelte. "Na, dann werden wir uns wohl einigen." "Kommt darauf an, wie"; - und Kienasts schelmisch herausfordernde Worte begleitete ein Blick an Magda. Sie erroetete. Diederich schenkte dem Gast Bier ein. "Sie haben wohl sonst noch was vor in Netzig?" Worauf Kienast zurueckhaltend: "Man kann nie wissen." Versuchsweise sagte Diederich: "Bei Kluesing in Gausenfeld werden Sie nichts machen, er hat 'ne flaue Zeit." Und da der andere schwieg, dachte Diederich: "Sie haben ihn bloss wegen des Hollaenders hergeschickt, sie koennen keinen Prozess brauchen!" Da bemerkte er, dass Magda und der Vertreter von Bueschli & Cie. gleichzeitig tranken und ueber die Glaeser hinweg einander in die Augen sahen. Emmi und Frau Hessling sassen starr dabei. Diederich beugte sich schnaufend ueber seinen Teller; - ploetzlich aber fing er an, das Familienleben zu preisen. "Sie haben Glueck, mein lieber Herr Kienast, denn das zweite Fruehstueck ist ausgerechnet unsere schoenste Stunde am Tage. Wenn man so mitten aus der Arbeit hier herauskommt, dann merkt man doch wieder mal, dass man sozusagen auch Mensch ist. Na, und das braucht man." Kienast bestaetigte, dass man es brauche. Frau Hesslings Frage, ob er schon verheiratet sei, verneinte er und sah dabei auf Magdas Scheitel, denn sie hatte den Kopf gesenkt. Diederich stand auf und schlug die Hacken zusammen. "Herr Kienast," sagte er schnarrend, "ich stehe zu Ihrer Verfuegung." "Eine Zigarre nimmt Herr Kienast noch", bat Magda. Kienast liess sie sich von ihr anzuenden und hoffte, die Damen nochmals begruessen zu koennen, - wobei er Magda verheissungsvoll anlaechelte. Aber im Hof aenderte auch er vollstaendig den Ton. "Na ja, das sind auch noch alte, enge Lokalitaeten", bemerkte er kalt und wegwerfend. "Sie sollten mal unsere Anlagen sehen." "In einem Nest wie Eschweiler," erwiderte Diederich, genau so veraechtlich, "da ist es kein Kunststueck. Reissen Sie mal hier den Haeuserblock nieder!" Und dann rief er im schaerfsten Befehlston nach dem Maschinenmeister, damit er den neuen Hollaender in Betrieb setze. Da Napoleon Fischer nicht sofort kam, stuermte Diederich hin. "Sie sitzen wohl auf Ihren Ohren, Herr?" Aber sobald er ihm gegenueberstand, verstummte sein Geschrei; mit leiser, fliegender Stimme, die Augen angestrengt aufgerissen, sagte er: "Fischer, ich hab' es mir ueberlegt, ich bin mit Ihnen zufrieden, vom Ersten ab erhoehe ich Ihr Gehalt auf hundertachtzig Mark." Darauf nickte Napoleon Fischer kurz und verstaendnisvoll, und sie trennten sich. Sogleich begann Diederich wieder zu schreien. Die Leute hatten geraucht! Sie behaupteten, es sei nur seine eigene Zigarre, die er rieche. Zu dem Vertreter von Bueschli & Cie. sagte er: "Uebrigens bin ich versichert, aber Zucht muss sein. Tadelloser Betrieb, wie?" "Veraltetes Aggregat", entgegnete Herr Kienast, mit einem lieblosen Blick auf die Maschinen. Diederich versetzte hoehnisch: "Weiss ich, mein Bester. Aber so gut wie Ihr Hollaender allemal." Trotz Kienasts Protest fuhr er fort, die Leistungsfaehigkeit der einheimischen Industrie herabzusetzen. Mit seiner neuen Einrichtung warte er bis zu seiner Reise nach England. Er gehe grosszuegig vor. Seit er selbst an der Spitze des Betriebes stehe, sei das Geschaeft maechtig im Aufschwung. "Und es ist immer noch ausdehnungsfaehig." Er erfand. "Jetzt hab' ich Vertraege mit zwanzig Kreisblaettern. Die Berliner Warenhaeuser machen mich ueberhaupt wahnsinnig ..." Kienast unterbrach schneidend: "Dann haben Sie wohl gerade alles abgeliefert, denn ich sehe nirgends fertige Ware." Diederich empoerte sich. "Herr! Soll ich Ihnen was sagen? Erst gestern hab' ich an saemtliche kleinen Kunden ein Rundschreiben geschickt: bis zur Vollendung meines Neubaus koenne ich nichts mehr liefern." Der Maschinenmeister holte die Herren. Der neue Patenthollaender war halb gefuellt, aber die Stoffbewegung blieb noch sehr schwach, der Arbeiter half mit dem Ruehrscheit nach. Diederich hielt die Uhr in der Hand. "Na also. Sie behaupten, in Ihrem Hollaender braucht der Stoff fuer einen Umgang zwanzig bis dreissig Sekunden: ich zaehle schon fuenfzig ... Maschinenmeister, den Stoff ablassen ... Was ist denn los, das dauert ja ewig!" Kienast hatte sich ueber die Schale gebeugt. Er richtete sich auf, er laechelte gewitzigt. "Ja, wenn die Ventile verstopft sind ..." Und mit einem scharfen Blick in die Augen Diederichs, die nicht standhielten: "Was sonst noch mit dem Hollaender angestellt ist, kann ich in der Eile nicht sehen." Diederich fuhr empor, ploetzlich sehr rot. "Wollen Sie mir vielleicht insinuieren, dass ich mit meinem Maschinenmeister -?" "Ich habe nichts gesagt", stellte Kienast fest. "Das muesste ich mir auch energisch verbitten." Diederich blitzte. Auf Kienast schien es keinen Eindruck zu machen, er behielt seine kalten Augen und das abgefeimte Grinsen in seinem am Kinn auseinandergebuersteten Bart. Wenn er sich rasiert und den Schnurrbart bis zu den Augenwinkeln hinaufgebunden haben wuerde, er haette Aehnlichkeit mit Diederich bekommen! Er war eine Macht! Um so drohender trat Diederich auf. "Mein Maschinenmeister ist Sozialdemokrat: dass er mir einen Gefallen tun soll, ist lachhaft. Uebrigens mache ich, als Reserveoffizier, Sie auf die Folgen Ihrer Aeusserung aufmerksam!" Kienast trat in den Hof hinaus. "Lassen Sie das nur, Herr Doktor", sagte er kuehl. "In Geschaeften bin ich nuechtern, das hab' ich Ihnen schon beim Fruehstueck gesagt. Jetzt brauch' ich Ihnen nur noch zu wiederholen, dass wir den Hollaender in tadellosem Zustand geliefert haben und an Ruecknahme nicht denken." - Das werde man sehen, erklaerte Diederich. Einen Prozess hielten Bueschli & Cie. wohl fuer besonders wirksam, zur Einfuehrung ihres neuen Artikels? "Ich werde Ihnen in den Fachblaettern noch eine besondere Empfehlung mitgeben!" Darauf Kienast: auf Erpressungsversuche gehe er nicht ein. Und Diederich: einen satisfaktionsunfaehigen Knoten werfe man einfach hinaus. - Da erschien drueben im Haustor Magda. Sie hatte ihr Pelzjackett von Weihnacht an, und sie laechelte rosig. "Die Herren sind noch immer nicht fertig?" fragte sie schalkhaft. "Das Wetter ist doch so schoen, man muss ein bisschen hinaus vor dem Mittagessen. _A propos_", sagte sie gelaeufig. "Mama laesst fragen, ob Herr Kienast zum Abendessen kommt." Da Kienast erklaerte, er muesse leider danken, laechelte sie dringlicher. "Und mir wuerden Sie es auch abschlagen?" Kienast lachte bitter. "Ich wuerde nicht nein sagen, Fraeulein. Aber weiss ich denn, ob Ihr Herr Bruder -?" Diederich schnaufte, Magda sah ihn flehend an. "Herr Kienast", brachte er hervor. "Es wird mich freuen. Vielleicht, dass wir uns auch noch verstaendigen." Er hoffe es, sagte Kienast, worauf er sich weltmaennisch erbot, das Fraeulein ein Stueck zu begleiten. "Wenn mein Bruder nichts dagegen hat", sagte sie zuechtig und ironisch. Diederich erlaubte auch dies noch; - und dann sah er ihr erstaunt nach, wie sie mit dem Prokuristen von Bueschli & Cie. abzog. Was die auf einmal alles konnte! Wie er zum Mittagessen kam, hoerte er drinnen im Wohnzimmer die Schwestern mit scharfen Stimmen sprechen. Emmi warf Magda vor, sie benehme sich schamlos. "So macht man es denn doch nicht." - "Nein!" rief Magda. "Ich werde dich um Erlaubnis bitten." - "Das wuerde gar nichts schaden. Ueberhaupt bin ich an der Reihe!" - "Hast du sonst noch Sorgen?" - Und Magda schlug ein Hohngelaechter an. Da Diederich eintrat, verstummte sie sofort. Diederich rollte unzufrieden die Augen; aber Frau Hessling haette nicht noetig gehabt, hinter ihren Toechtern die Haende zu ringen: in den Weiberstreit einzugreifen, war unter seiner Wuerde. Beim Essen ward von dem Gast gesprochen. Frau Hessling ruehmte den soliden Eindruck, den er mache. Emmi erklaerte: wenn so ein Kommis nicht einmal solide sein sollte. Mit einer Dame reden koenne er ueberhaupt nicht. Magda behauptete entruestet das Gegenteil. Und da alle auf Diederichs Entscheidung warteten, entschloss er sich. Komment scheine der Herr freilich nicht viel zu haben. Akademische Bildung sei eben nicht zu ersetzen. "Aber als tuechtigen Geschaeftsmann hab' ich ihn kennengelernt." Emmi hielt sich nicht mehr. "Wenn Magda den Menschen heiraten will, ich erklaere, dass ich nicht mit euch verkehre. Das Kompott hat er mit dem Messer gegessen!" "Sie luegt!" Magda brach in Schluchzen aus. Diederich empfand Mitleid; er herrschte Emmi an: "Heirate du bitte einen regierenden Herzog, und dann lass' uns in Ruh'." Da legte Emmi Messer und Gabel hin und ging hinaus. Am Abend vor Geschaeftsschluss erschien Herr Kienast im Bureau. Er trug einen Gehrock, und sein Wesen war eher gesellschaftlich als geschaeftlich. Beide hielten, in stillem Einverstaendnis, das Gespraech hin, bis der alte Soetbier seine Sachen zusammenpackte. Als er sich, mit einem misstrauischen Blick, zurueckgezogen hatte, sagte Diederich: "Den Alten habe ich auf den Aussterbeetat gesetzt. Die wichtigeren Sachen mache ich allein." "Na, und haben Sie sich die unsere ueberlegt?" fragte Kienast. "Und Sie?" erwiderte Diederich. Kienast zwinkerte vertraulich. "Meine Vollmacht reicht eigentlich nicht so weit, aber ich nehme es auf meine Kappe. Geben Sie den Hollaender in Gottes Namen zurueck. Ein Defekt wird sich doch wohl finden." Diederich begriff. Er versprach: "Sie werden ihn finden." Kienast sagte sachlich: "Fuer unser Entgegenkommen verpflichten Sie sich, alle Ihre Maschinen vorkommendenfalls nur bei uns zu bestellen. Einen Moment!" bat er, da Diederich auffuhr. "Und ausserdem ersetzen Sie unsere Unkosten und meine Reise mit fuenfhundert Mark, die wir von Ihrer Anzahlung abziehen." "Aber hoeren Sie mal, das ist Wucher!" Diederichs Gerechtigkeitssinn empoerte sich laut. Auch Kienast erhob schon wieder die Stimme. "Herr Doktor!..." Diederich fasste sich gewaltsam, er legte dem Prokuristen die Hand auf die Schulter. "Gehen wir jetzt nur hinauf, die Damen warten." "Wir hatten uns so weit ganz gut verstanden", meinte Kienast besaenftigt. "Die kleine Differenz wird sich auch noch aufklaeren", verhiess Diederich. Droben roch es festlich. Frau Hessling glaenzte mit ihrem schwarzen Atlaskleid. Durch Magdas Spitzenbluse schimmerte mehr hindurch, als sie sonst im Familienkreis zum besten gab. Nur Emmis Anzug und Miene waren grau und alltaeglich. Magda wies dem Gast seinen Platz an und liess sich zu seiner Rechten nieder; und als man eben erst sass und sich noch raeusperte, sagte sie schon, mit fieberhaft belebten Augen: "Jetzt sind die Herren aber mit den dummen Geschaeften fertig." Diederich bestaetigte, sie seien glaenzend miteinander fertig geworden. Bueschli & Cie. seien kulante Leute. "Bei unserem Riesenbetrieb", erklaerte der Prokurist. "Zwoelfhundert Arbeiter und Beamte, eine ganze Stadt mit einem eigenen Hotel fuer die Kunden." Er lud Diederich ein. "Kommen Sie nur, bei uns leben Sie vornehm und umsonst." Und da Magda neben ihm an seinen Lippen hing, ruehmte er seine Stellung, seine Machtbefugnisse, die Villa, die er zur Haelfte bewohnte. "Wenn ich mich verheirate, kriege ich auch die andere Haelfte." Diederich lachte droehnend. "Dann waere es wohl das einfachste, Sie heirateten. Na prost!" Magda schlug die Augen nieder, und Herr Kienast ging zu etwas anderem ueber. Ob Diederich auch wisse, warum er ihm so leicht entgegengekommen sei? "Ihnen, Herr Doktor, hab' ich naemlich gleich angesehen, dass mit Ihnen spaeter noch grosse Sachen zu machen sein werden, - wenn es hier jetzt auch noch etwas kleine Verhaeltnisse sind", setzte er nachsichtig hinzu. Diederich wollte seine Grosszuegigkeit und die Ausdehnungsfaehigkeit seines Unternehmens beteuern, aber Kienast liess sich seinen Gedankengang nicht abschneiden. Menschenkenntnis sei naemlich seine Spezialitaet. Einen Geschaeftsfreund muesse man vor allem auch in seinem Heim aufsuchen. "Wenn da alles so wohl bestellt ist wie hier -" Gerade ward die duftende Gans aufgetragen, nach der Frau Hessling schon mehrmals heimlich ausgeblickt hatte. Schnell gab sie sich eine Miene, als sei die Gans eine hoechst gewoehnliche Erscheinung. Herr Kienast machte trotzdem eine anerkennende Pause. Frau Hessling fragte sich, ob sein Blick wirklich auf der Gans oder, hinter ihrem suessen Qualm, auf Magdas durchbrochener Bluse ruhe. Jetzt riss er sich los und ergriff sein Glas. "Und darum: auf die Familie Hessling, auf die verehrte muetterliche Hausfrau und ihre bluehenden Toechter!" Magda woelbte die Brust, um das Bluehen anschaulicher zu machen, und um so flacher sah Emmi aus. Auch stiess Herr Kienast zuerst mit Magda an. Diederich erwiderte seinen Toast. "Wir sind eine deutsche Familie. Wen wir in unser Haus aufgenommen haben, den nehmen wir auch in unsere Herzen auf." Er hatte Traenen in den Augen, indes Magda wieder einmal erroetete. "Und wenn es auch nur ein bescheidenes Haus ist, die Herzen sind treu." Er liess den Gast hochleben, der seinerseits versicherte, er sei immer fuer Bescheidenheit gewesen, "besonders in Familien, wo junge Maedchen sind." Frau Hessling griff ein. "Nicht wahr? Woher soll denn sonst ein junger Mann den Mut nehmen -? Meine Toechter schneidern alles selbst." Dies war fuer Herrn Kienast das Stichwort, sich ueber Magdas Bluse zu beugen behufs eingehender Wuerdigung. Zum Nachtisch schaelte sie ihm eine Apfelsine und nippte ihm zu Ehren vom Tokaier. Wie man dann ins Wohnzimmer ging, blieb Diederich, die Arme um seine beiden Schwestern geschlungen, in der Tuer stehen. "Ja, ja, Herr Kienast", sagte er mit tiefer Stimme. "Das ist der Familienfriede, den sehen Sie sich nur an, Herr Kienast!" Magda schmiegte sich, ganz Hingebung, an seine Schulter. Da Emmi von ihm fortstrebte, bekam sie rueckwaerts einen Stoss. "So geht es immer bei uns zu", fuhr Diederich fort. "Ich arbeite den ganzen Tag fuer die Meinen, und der Abend vereint uns dann hier beim Lampenschimmer. Um die Leute da draussen und den Kluengel unserer sogenannten Gesellschaft bekuemmern wir uns so wenig wie moeglich, wir haben an uns selbst genug." Hier gelang es Emmi, sich loszumachen; man hoerte sie draussen eine Tuer zuschlagen. Ein um so zaertlicheres Bild boten Diederich und Magda, wie sie sich am mild beglaenzten Tisch niederliessen. Herr Kienast sah nachdenklich den Punsch kommen, den Frau Hessling in maechtiger Bowle still laechelnd hereintrug. Indes Magda dem Gast das Glas fuellte, setzte Diederich auseinander, dass er dank dieser Beschraenkung auf die stille Haeuslichkeit imstande sein werde, seine Schwestern einmal gut zu verheiraten. "Denn der Aufschwung des Geschaeftes kommt den Maedchen zugut, die Fabrik gehoert ihnen mit, ganz abgesehen von der baren Mitgift; na, und wenn dann einer meiner kuenftigen Schwaeger auch noch sein Kapital in den Betrieb stecken will -" Aber Magda, die Herrn Kienasts Miene besorgt werden sah, lenkte ab. Sie fragte ihn nach seiner eigenen Familie und ob er denn ganz allein sei. Da bekam er geruehrte Augen und rueckte naeher. Diederich sass dabei, trank und drehte die Daumen. Mehrmals versuchte er noch teilzunehmen an dem Gespraech der beiden, die sich ganz allein zu fuehlen schienen. "Na, dann haben Sie also gluecklich Ihren Einjaehrigen gemacht", sagte er goennerhaft und wunderte sich dabei ueber die Zeichen, die Frau Hessling hinter dem Ruecken der anderen ihm gab. Erst als sie sich aus der Tuer schlich, begriff er, nahm sein Punschglas und ging in das dunkle Nebenzimmer zum Klavier. Er tastete ein wenig darauf umher, geriet unversehens in die Burschenlieder und sang droehnend mit: "Sie wissen den Teufel, was Freiheit heisst." Als er fertig war, horchte er hinueber; es war drinnen aber so still, als sei man eingeschlafen; und obwohl er sich gern wieder etwas aus der Bowle geschoepft haette, stimmte er doch aus Pflichtgefuehl von neuem an: "Im tiefen Keller sitz' ich hier." Da, mitten im Vers, fiel ein Stuhl um, und ein lauter Schall folgte, dessen Herkunft nicht zu verkennen war. Mit einem Sprung war Diederich im Wohnzimmer. "Nanu", sagte er, kraeftig und bieder, "Sie scheinen ja ernste Absichten zu haben." Das Paar loeste sich voneinander. "Ich sage nicht nein", erklaerte Herr Kienast. Diederich war ploetzlich heftig bewegt. Aug' in Auge schuettelte er Kienast die Hand, und mit der anderen zog er Magda herbei. "Das ist aber eine Ueberraschung! Herr Kienast, machen Sie mein Schwesterchen gluecklich. An mir sollt ihr allzeit einen guten Bruder haben, so wie ich es bisher gewesen bin, das darf ich wohl sagen." Und die Augen wischend, rief er hinaus: "Mutter! Es ist was passiert." Frau Hessling stand gleich hinter der Tuer, nur konnte sie, vor uebergrosser Bewegung, nicht sofort ihre Beine gebrauchen. Auf Diederich gestuetzt, wankte sie herein, fiel Herrn Kienast um den Hals und loeste sich dort in Traenen auf. Diederich klopfte inzwischen an Emmis Zimmer, das verschlossen war. "Emmi, komm heraus, es ist was los!" Sie riss endlich die Tuer auf, zornrot im Gesicht. "Wozu stoerst du mich im Schlaf. Ich kann mir schon denken, was los ist. Macht eure Unanstaendigkeiten allein!" Und sie wuerde wieder zugeschlagen haben, haette nicht Diederich den Fuss in den Spalt gesetzt. Streng bedeutete er ihr, fuer ihr gemuetloses Verhalten verdiene sie, dass sie selbst nie mehr einen Mann bekomme. Er erlaubte ihr nicht einmal, sich anzuziehen, sondern zerrte sie mit, wie sie war, in ihrer Matinee, mit aufgeloesten Haaren. Im Flur entwand sie sich ihm. "Du machst uns laecherlich", zischte sie, - und noch vor ihm erschien sie bei den Verlobten, den Kopf sehr hoch, mit spoettisch musterndem Blick. "Musste das so spaet in der Nacht sein?" fragte sie. "Nun, dem Gluecklichen schlaegt keine Stunde." Kienast sah sie an: sie war groesser als Magda, ihr Gesicht, das jetzt Farbe hatte, sah voller aus in dem offenen Haar, das lang und stark war. Kienast behielt ihre Hand laenger als noetig; sie entzog sie ihm, da wandte er sich von ihr zu Magda, mit sichtlichem Zweifel. Emmi liess auf ihre Schwester ein Laecheln des Triumphes fallen, machte kehrt und verschwand, hoch aufgerichtet, - indes Magda angstvoll nach Kienasts Arm griff. Aber Diederich kam, in der Hand ein gefuelltes Punschglas, und verlangte mit seinem neuen Schwager Bruderschaft zu trinken. Am Morgen holte er ihn aus dem Hotel zum Fruehschoppen ab. "Bis Mittag bezaehme gefaelligst deine Sehnsucht nach dem Weiblichen. Jetzt muessen wir mal ein Wort unter Maennern reden." In Klappsch' Bierstube setzte er ihm die Lage auseinander: Fuenfundzwanzigtausend bar am Tage der Hochzeit - die Belege waren jeden Augenblick zu sehen - und, gemeinsam mit Emmi, ein Viertel der Fabrik. - "Also nur ein Achtel", stellte Kienast fest; worauf Diederich: "Soll ich mich vielleicht umsonst fuer euch abrackern?" Ein unzufriedenes Schweigen entstand. Diederich stellte die Stimmung wieder her. "Prost Friedrich!" "Prost Diederich!" sagte Kienast. Dann schien Diederich etwas einzufallen. "Du hast es ja in der Hand, deinen Anteil am Geschaeft zu erhoehen, wenn du Geld einlegst. Wie sieht es denn mit deinen Ersparnissen aus? Bei deinem grossartigen Gehalt!" Kienast erklaerte, im Prinzip sage er nicht nein. Aber noch laufe sein Vertrag mit Bueschli & Cie. Auch habe er in diesem Jahr eine betraechtliche Gehaltserhoehung zu erwarten, da waere es ein Verbrechen gegen sich selbst, jetzt zu kuendigen. "Und wenn ich euch mein Geld gebe, muss ich selbst ins Geschaeft eintreten. Bei allem Vertrauen, das ich dir entgegenbringe, lieber Diederich -" Diederich sah es ein. Kienast schlug seinerseits etwas vor. "Wenn du einfach die Mitgift auf Fuenfzigtausend festsetztest! Magda wuerde dann auf ihren Anteil am Geschaeft verzichten." Dies stiess wieder auf Diederichs unbedingten Widerspruch. "Es waere gegen den letzten Willen meines seligen Vaters, der ist mir heilig. Und so grosszuegig, wie ich arbeite, kann in einigen Jahren Magdas Anteil das Zehnfache betragen von dem, was du jetzt verlangst. Nie werde ich mich dazu hergeben, meine arme Schwester so zu schaedigen." Hierauf feixte der Schwager ein wenig. Diederichs Familiensinn ehre ihn, aber mit Grosszuegigkeit allein sei es nicht getan. Und Diederich, merklich gereizt: er sei gottlob fuer seine Geschaeftsfuehrung ausser Gott nur sich selbst verantwortlich. "Fuenfundzwanzigtausend bar und ein Achtel des Reingewinnes, mehr ist nicht zu holen." Kienast trommelte auf den Tisch. "Ich weiss noch nicht, ob ich deine Schwester dafuer uebernehmen kann", erklaerte er. "Mein letztes Wort behalte ich mir noch vor." Diederich zuckte die Achseln, und sie tranken ihr Bier aus. Kienast kam mit zum Essen; Diederich hatte schon gefuerchtet, er werde sich druecken. Gluecklicherweise war Magda noch verfuehrerischer hergerichtet als gestern, - "wie wenn sie gewusst haette, es geht ums Ganze", dachte Diederich, der sie bewunderte. Bei der Mehlspeise hatte sie Kienast wieder so sehr erwaermt, dass er die Hochzeit in vier Wochen wuenschte. "Dein letztes Wort?" fragte Diederich neckisch. Als Antwort zog Kienast die Ringe aus der Tasche. Nach Tisch ging Frau Hessling auf den Fussspitzen aus dem Zimmer, wo die Verlobten sassen, und auch Diederich wollte sich zurueckziehen, aber sie holten ihn zum Spazierengehen. "Wohin geht es denn, und wo sind Mutter und Emmi?" Emmi hatte sich geweigert, mitzukommen, und darum blieb auch Frau Hessling zu Hause. "Weil es sonst schlecht aussehen wuerde, weisst du", sagte Magda. Diederich stimmte ihrer Einsicht zu. Er wischte ihr sogar den Staub fort, der beim Eintritt in die Fabrik an ihrem Pelzjackett haengengeblieben war. Er behandelte Magda mit Achtung, denn sie hatte Erfolg gehabt. Man ging gegen das Rathaus zu. Es schadete nichts, nicht wahr, wenn die Leute einen sahen. Der erste freilich, dem man gleich in der Meisestrasse begegnete, war nur Napoleon Fischer. Er fletschte die Zaehne vor dem Brautpaar und nickte Diederich zu, mit einem Blick, der sagte, er wisse Bescheid. Diederich war dunkelrot; er wuerde den Menschen angehalten und ihm auf offener Strasse einen Krach gemacht haben: aber konnte er? "Es war ein schwerer Fehler, dass ich mich mit dem hinterhaeltigen Proleten auf Vertraulichkeiten eingelassen habe! Es waere auch ohne ihn gegangen! Jetzt schleicht er um das Haus, damit ich daran denke, dass er mich in der Hand hat. Ich werde noch Erpressungen erleben." Aber zwischen ihm und dem Maschinenmeister war gottlob alles unter vier Augen vor sich gegangen. Was Napoleon Fischer ueber ihn behaupten konnte, war Verleumdung. Diederich liess ihn einfach einsperren. Dennoch hasste er ihn fuer seine Mitwisserschaft, dass ihm bei zwanzig Grad Kaelte heiss und feucht ward. Er sah sich um. Fiel denn kein Ziegelstein auf Napoleon Fischer? In der Gerichtsstrasse fand Magda, dass der Gang sich lohne, denn bei Landgerichtsrat Harnisch standen hinter einer Scheibe Meta Harnisch und Inge Tietz, und Magda wusste bestimmt, dass sie bei Kienasts Anblick sehr beunruhigte Gesichter gemacht hatten. Auf der Kaiser-Wilhelm-Strasse war heute leider wenig los; hoechstens dass Major Kunze und Dr. Heuteufel, die in die "Harmonie" gingen, von ferne neugierige Gesichter machten. An der Ecke der Schweinichenstrasse aber trat etwas ein, was Diederich nicht vorausgesehen hatte: gleich vor ihnen ging Frau Daimchen mit Guste. Magda beschleunigte sofort den Schritt und plauderte lebhafter. Richtig drehte Guste sich um, und Magda konnte sagen: "Frau Oberinspektor, hier stelle ich Ihnen meinen Braeutigam Herrn Kienast vor." Der Braeutigam ward gemustert und schien zu entsprechen, denn Guste, mit der Diederich zwei Schritte zurueckblieb, fragte nicht ohne Achtung: "Wo haben Sie ihn denn hergenommen?" Diederich scherzte. "Ja, so nah wie Sie, findet nicht jede den ihren. Aber dafuer solider." - "Fangen Sie schon wieder an?" rief Guste, aber ohne Feindlichkeit. Sie streifte sogar Diederichs Blick und seufzte dabei leicht. "Meiner ist ja immer Gott weiss wo. Man kommt sich vor wir die reine Witwe." Gedankenvoll sah sie Magda nach, die an Kienasts Arm hing. Diederich gab zu bedenken: "Wer tot ist, kann es auch bleiben. Es gibt noch genug Lebendige." Dabei draengte er Guste bis an die Haeuserwand und sah ihr werbend ins Gesicht; und wirklich, ihr liebes, dickes Gesicht ward einen Augenblick lang gewaehrend. Leider war Schweinichenstrasse 77 schon erreicht, und man nahm Abschied. Da hinter dem Sachsentor alles aus war, kehrten die Geschwister mit Herrn Kienast wieder um. Magda, die auf dem Arm ihres Verlobten ruhte, sagte ermunternd zu Diederich: "Nun, was meinst du?" - worauf er rot ward und schnaufte. "Was ist da zu meinen", brachte er hervor, und Magda lachte. In der leeren, stark daemmernden Strasse kam ihnen jemand entgegen. "Ist das nicht -?" fragte Diederich, ohne Ueberzeugung. Aber die Figur naeherte sich: dick, offenbar noch jung, mit einem grossen, weichen Hut, sonst elegant, und die Fuesse setzte er einwaerts. "Wahrhaftig, Wolfgang Buck!" Er dachte enttaeuscht: "Und Guste stellt sich, als waere er am Ende der Welt. Das Luegen muss ich ihr austreiben!" "Da sind Sie ja" - der junge Buck schuettelte Diederich die Hand. "Das freut mich." - "Mich auch", erwiderte Diederich, trotz der Enttaeuschung mit Guste, und er machte seinen Schwager mit seinem Schulfreund bekannt. Buck stattete seine Glueckwuensche ab, dann trat er mit Diederich hinter die beiden anderen. "Sie wollten gewiss zu Ihrer Braut?" bemerkte Diederich. "Sie ist zu Hause, wir haben sie hinbegleitet." - "So?" machte Buck und zuckte die Achseln. "Nun, ich finde sie immer noch", sagte er phlegmatisch. "Vorlaeufig bin ich froh, dass ich Ihnen mal wieder begegnet bin. Unser Gespraech in Berlin, unser einziges, nicht wahr - es war so anregend." Auch Diederich fand dies jetzt - obwohl es ihn damals nur geaergert hatte. Er war ganz belebt durch das Wiedersehen. "Ja, meinen Gegenbesuch bin ich Ihnen schuldig geblieben. Sie wissen wohl, wieviel einem in Berlin immer dazwischen kommt. Hier freilich hat man Zeit. Oede, wie? Zu denken, dass man hier sein Leben verbringen soll" - und Diederich zeigte die kahle Haeuserreihe hinauf. Wolfgang Buck schnupperte mit seiner weich gebogenen Nase in die Luft, auf seinen fleischigen Lippen schien er sie zu kosten, und er machte tiefsinnende Augen. "Ein Leben in Netzig", sagte er ganz langsam. "Nun ja, es kommt darauf hinaus. Unsereiner ist nicht in der Lage, bloss fuer seine Sensationen zu leben. Uebrigens gibt es auch hier welche." Er laechelte verdaechtig. "Der Wachtposten hat bis sehr hoch hinauf Sensation gemacht." "Ach so -" Diederich streckte den Bauch vor. "Sie wollen schon wieder noergeln. Ich stelle fest, dass ich in der Sache durchaus auf seiten Seiner Majestaet stehe." Buck winkte ab. "Lassen Sie nur. Ich kenne ihn." "Ich noch besser", behauptete Diederich. "Wer ihm, wie ich, ganz allein und Aug' in Auge gegenueber gestanden hat, im Tiergarten vorigen Februar, nach dem grossen Krawall, und dies Auge blitzen gesehen hat, dies Fritzenauge, sag' ich Ihnen: der vertraut auf unsere Zukunft." "Auf unsere Zukunft - weil ein Auge geblitzt hat." Bucks Mund und Wangen sanken schwer melancholisch herab. Diederich stiess Luft durch die Nase. "Ich weiss schon, Sie glauben in unserer Zeit an keine Persoenlichkeit. Sonst waeren Sie ja Lassalle oder Bismarck geworden." "Schliesslich koennte ich es mir leisten. Gewiss. Geradeso gut wie er -. Wenn auch weniger beguenstigt von den aeusseren Umstaenden." Sein Ton ward lebhafter und ueberzeugter. "Worauf es fuer jeden persoenlich ankommt, ist nicht, dass wir in der Welt wirklich viel veraendern, sondern dass wir uns ein Lebensgefuehl schaffen, als taeten wir es. Dazu ist nur Talent noetig, und das hat er." Diederich war beunruhigt, er sah sich um. "Wir sind hier zwar unter uns, die Herrschaften dort vor uns haben Wichtigeres zu besprechen, aber ich weiss doch nicht -" "Dass Sie immer glauben, ich habe was gegen ihn. Er ist mir wahrhaftig nicht unsympathischer, als ich mir selbst bin. Ich haette an seiner Stelle den Gefreiten Lueck und unseren Netziger Wachtposten genau so ernst genommen. Waere das noch eine Macht, die nicht bedroht waere? Erst wenn es einen Umsturz gibt, fuehlt man sich. Was wuerde aus ihm, wenn er sich sagen muesste, dass die Sozialdemokratie gar nicht ihn meint, sondern hoechstens eine etwas praktischere Verteilung dessen, was verdient wird." "Oho!" machte Diederich. "Nicht wahr? Das wuerde Sie empoeren. Und ihn auch. Neben den Ereignissen hergehen, die Entwicklung nicht beherrschen, sondern in ihr mit einbegriffen sein: ist das zu ertragen?... Im Innern unbeschraenkt! - und dabei ausserstande, auch nur Hass zu erregen anders als durch Worte und Gesten. Denn woran halten sich die Noergler? Was ist Ernstliches geschehen? Auch der Fall Lueck ist nur wieder eine Geste. Sinkt die Hand, ist alles wie zuvor: aber Darsteller und Publikum haben eine Sensation gehabt. Und nur darauf, mein lieber Hessling, kommt es uns allen heute an. Er selbst, den wir meinen, waere am erstauntesten, glauben Sie es mir, wenn der Krieg, den er immerfort an die Wand malt, oder die Revolution, die er sich hundertmal vorgespielt hat, einmal wirklich ausbraeche." "Darauf werden Sie nicht lange zu warten brauchen!" rief Diederich. "Und dann sollen Sie sehen, dass alle national Gesinnten treu und fest zu ihrem Kaiser stehen!" "Gewiss." Buck zuckte immer haeufiger die Achseln. "Das ist die uebliche Wendung, wie er selbst sie vorgeschrieben hat. Worte lasst ihr euch von ihm vorschreiben, und die Gesinnung war nie so gut geregelt, wie sie es jetzt wird. Aber Taten? Unsere Zeit, bester Zeitgenosse, ist nicht tatbereit. Um seine Erlebnisfaehigkeit zu ueben, muss man vor allem leben, und die Tat ist so lebensgefaehrlich." Diederich richtete sich auf. "Wollen Sie den Vorwurf der Feigheit vielleicht in Verbindung bringen mit -?" "Ich habe kein moralisches Urteil ausgesprochen. Ich habe eine Tatsache der inneren Zeitgeschichte erwaehnt, die uns alle angeht. Uebrigens sind wir zu entschuldigen. Fuer den auf der Buehne Agierenden ist alle Aktion erledigt, denn er hat sie durchgefuehrt. Was will die Wirklichkeit noch von ihm? Sie wissen wohl nicht, wen die Geschichte als den repraesentativen Typus dieser Zeit nennen wird?" "Den Kaiser!" sagte Diederich. "Nein", sagte Buck. "Den Schauspieler." Da schlug Diederich ein Gelaechter an, dass dort vorn das Brautpaar auseinanderfuhr und sich umwandte. Aber man war auf dem Theaterplatz, es wehte eisig hinueber; sie gingen weiter. "Na ja," brachte Diederich hervor, "ich haette mir gleich sagen koennen, wie Sie auf das verrueckte Zeug gekommen sind. Sie haben doch mit dem Theater zu tun." Er klopfte Buck auf die Schulter. "Sind Sie am Ende schon selbst dabei?" Buck bekam unruhige Augen; der Hand, die ihn klopfte, entzog er sich mit einer Wendung, die Diederich unkameradschaftlich fand. "Ich? Ach nein", sagte Buck; und nachdem beide bis zur Gerichtsstrasse unzufrieden geschwiegen hatten: "Ach so. Sie wissen noch nicht, warum ich in Netzig bin." "Wahrscheinlich Ihrer Braut wegen." "Das wohl auch. Vor allem aber habe ich die Verteidigung meines Schwagers Lauer uebernommen." "Sie sind -? Im Prozess Lauer -?" Es nahm Diederich den Atem, er blieb stehen. "Nun ja", sagte Buck und zuckte die Achseln. "Wundert Sie das? Seit kurzem bin ich beim Landgericht Netzig als Rechtsanwalt zugelassen. Hat mein Vater Ihnen nicht davon gesprochen?" "Ich sehe Ihren Herrn Vater selten ... Ich gehe nur wenig aus. Meine Berufspflichten ... Diese Verlobung ..." Diederich verlor sich in Gestammel. "Dann muessen Sie ja schon oft -. Wohnen Sie vielleicht schon ganz hier?" "Nur vorlaeufig - glaube ich." Diederich raffte sich zusammen. "Ich muss sagen: ich habe Sie schon oefter nicht ganz verstanden - aber so wenig doch noch nie wie jetzt, wo Sie mit mir durch halb Netzig gehen." Buck blinzelte ihn an. "Obwohl ich in der Verhandlung morgen Verteidiger bin und Sie der Hauptbelastungszeuge? Das ist doch nur Zufall. Die Rollen koennten auch umgekehrt verteilt sein." "Bitte sehr!" Diederich entruestete sich. "Jeder steht auf seinem Platz. Wenn Sie vor Ihrem Beruf keine Achtung haben -" "Achtung? Was heisst das? Ich freue mich auf die Verteidigung, das leugne ich nicht. Ich werde loslegen, man soll etwas erleben. Ihnen, Herr Doktor, werde ich unangenehme Dinge zu sagen haben; Sie werden mir hoffentlich nichts uebelnehmen, es gehoert zu meiner Wirkung." Diederich bekam Furcht. "Erlauben Sie, Herr Rechtsanwalt, kennen Sie denn meine Aussage? Sie ist fuer Lauer durchaus nicht unguenstig." "Das lassen Sie meine Sorge sein." Bucks Miene ward beaengstigend ironisch. Und damit war man in der Meisestrasse. "Der Prozess!" dachte Diederich schnaufend. In den Aufregungen der letzten Tage hatte er ihn vergessen, jetzt war es, als sollte man sich von heute auf morgen beide Beine abschneiden lassen. Guste, die falsche Kanaille, hatte ihm also absichtlich nichts gesagt von ihrem Verlobten; im letzten Augenblick sollte er den Schrecken bekommen!... Diederich verabschiedete sich von Buck, bevor sie beim Haus waren. Dass nur Kienast nichts merkte! Buck schlug vor, noch irgendwohin zu gehen. "Es zieht Sie wohl nicht besonders zu Ihrer Braut?" fragte Diederich. - "Augenblicklich hab' ich mehr Lust auf einen Kognak." - Diederich lachte hoehnisch. "Darauf scheinen Sie immer Lust zu haben." Damit nur Kienast nichts erfahre, kehrte er nochmals mit Buck um. "Sehen Sie," begann Buck unvermutet, "meine Braut: die gehoert auch zu meinen Fragen an das Schicksal." Und da Diederich "wieso" fragte: "Wenn ich naemlich wirklich ein Netziger Rechtsanwalt bin, dann ist Guste Daimchen bei mir vollkommen an ihrem Platz. Aber weiss ich das? Fuer - andere Faelle, die in meiner Existenz eintreten koennten, habe ich nun drueben in Berlin noch eine zweite Verbindung ..." "Ich habe gehoert: eine Schauspielerin." Diederich erroetete fuer Buck, der das so zynisch eingestand. "Das heisst," stammelte er, "ich will nichts gesagt haben." "Also, Sie wissen", schloss Buck. "Jetzt ist die Sache die, dass ich vorlaeufig dort haenge und mich um Guste nicht so viel bekuemmern kann, wie ich muesste. Moechten Sie sich da nicht des guten Maedchens ein wenig annehmen?" fragte er harmlos und gelassen. "Ich soll -" "Sozusagen den Kochtopf hier und da ein bisschen umruehren, worin ich Wurst und Kohl am Feuer zu stehen habe - indes ich selbst noch draussen beschaeftigt bin. Wir haben doch Sympathie fuereinander." "Danke", sagte Diederich kuehl. "So weit reicht meine Sympathie allerdings nicht. Beauftragen Sie sonst jemand. Ich denke denn doch etwas ernster ueber das Leben." Und er liess Buck stehen. Ausser der Unmoral des Menschen empoerte ihn seine wuerdelose Vertraulichkeit, nachdem sie noch soeben in Anschauung und Praxis sich wieder einmal als Gegner erwiesen hatten. Unleidlich, so einer, aus dem man nicht klug ward! "Was hat er morgen gegen mich vor?" Daheim machte er sich Luft. "Ein Mensch wie eine Qualle! Und von einem geistigen Duenkel! Gott behuete unser Haus vor solcher alles zerfressenden Ueberzeugungslosigkeit; sie ist in einer Familie das sichere Zeichen des Niedergangs!" Er vergewisserte sich, dass Kienast wirklich noch am Abend reisen musste. "Etwas Aufregendes wird Magda dir nicht zu schreiben haben", sagte er unvermittelt und lachte. "Meinetwegen mag in der Stadt Mord und Brand sein, ich bleibe in meinem Kontor und bei meiner Familie." Kaum aber war Kienast fort, stellte er sich vor Frau Hessling hin. "Nun? Wo ist die Vorladung, die fuer mich gekommen ist auf morgen zu Gericht?" Sie musste zugeben, dass sie den bedrohlichen Brief unterschlagen habe. "Er sollte dir die Feststimmung nicht verderben, mein lieber Sohn." Aber Diederich liess keine Beschoenigung gelten. "Ach was: lieber Sohn. Aus Liebe zu mir wird wohl das Essen immer schlechter, ausser wenn fremde Leute da sind; und das Haushaltungsgeld geht fuer euren Firlefanz drauf. Meint ihr, ich fall' euch auf den Schwindel 'rein, dass Magda ihre Spitzenbluse selbst gemacht haben soll? Das koennt ihr dem Esel erzaehlen!" Magda erhob Einspruch gegen die Beleidigung ihres Verlobten, aber es half ihr nicht. "Schweig lieber still! Dein Pelzjackett ist auch halb gestohlen. Ihr steckt mit dem Dienstmaedchen zusammen. Wenn ich sie nach Rotwein schicke, bringt sie billigeren, und den Rest behaltet ihr ..." Die drei Frauen entsetzten sich, worauf Diederich noch lauter schrie. Emmi behauptete, er sei bloss darum so wild, weil er sich morgen vor der ganzen Stadt blamieren solle. Da konnte Diederich nur noch einen Teller auf den Boden schleudern. Magda stand auf, ging zur Tuer und rief zurueck: "Ich brauche dich gottlob nicht mehr!" Sofort war Diederich hinterdrein. "Gib bitte acht, was du redest! Wenn du endlich einen Mann kriegst, verdankst du es allein mir und den Opfern, die ich bringe. Dein Braeutigam hat um deine Mitgift geschachert, dass es schon nicht mehr schoen war. Du bist ueberhaupt bloss Zugabe!" Hier fuehlte er eine heftige Ohrfeige, und bevor er zu Atem kam, war Magda in ihrem Zimmer und hatte abgesperrt. Diederich rieb sich, jaeh verstummt, die Wange. Dann entruestete er sich wohl noch; aber eine Art von Genugtuung ueberwog. Die Krisis war vorueber. In der Nacht hatte er sich fest vorgenommen, mit einiger Verspaetung bei Gericht einzutreffen und durch sein ganzes Auftreten zu zeigen, wie wenig die Geschichte ihn angehe. Aber es hielt ihn nicht; als er das Verhandlungszimmer, das ihm bezeichnet war, betrat, war man dort noch bei einer ganz anderen Sache. Jadassohn, der in seiner schwarzen Robe einen ungemein drohenden Anblick bot, war eben damit beschaeftigt, fuer einen kaum erwachsenen Menschen aus dem Volk zwei Jahre Arbeitshaus zu verlangen. Das Gericht gewaehrte ihm freilich nur eins, aber der jugendliche Verurteilte brach in ein solches Geheul aus, dass es Diederich, angstvoll, wie er selbst gestimmt war, vor Mitleid uebel ward. Er begab sich hinaus und betrat eine Toilette, obwohl an der Tuer stand: Nur fuer den Herrn Vorsitzenden! Gleich nach ihm erschien auch Jadassohn. Wie er Diederich sah, wollte er sich wieder zurueckziehen, aber Diederich fragte sofort, was das denn sei, ein Arbeitshaus, und was so ein Zuhaelter dort tue. Jadassohn erklaerte: "Wenn wir uns darum auch noch kuemmern muessten!" und war schon draussen. Diederichs Inneres zog sich noch mehr zusammen unter dem Gefuehl eines schaudererregenden Abgrundes, wie er sich auftat zwischen Jadassohn, der hier die Macht vertrat, und ihm selbst, der sich zu nahe ihrem Raederwerk gewagt hatte. Es war aus frommer Absicht geschehen, in uebergrosser Verehrung der Macht: gleichviel, jetzt hiess es sich besonnen verhalten, damit sie einen nicht ergriff und zermalmte; sich ducken und ganz klein machen, bis man ihr vielleicht doch noch entrann. Wer erst wieder dem Privatleben gehoerte! Diederich versprach sich, fortan ganz seinem geringen, aber wohlverstandenen Vorteil zu leben. Draussen im Korridor standen jetzt Leute: ein minder gutes Publikum und auch das beste. Die fuenf Toechter Buck, herausgeputzt, als sei der Prozess ihres Schwagers Lauer die groesste Ehre fuer die Familie, schnatterten in einer Gruppe mit Kaethchen Zillich, ihrer Mutter und der Frau Buergermeister Scheffelweis. Die Schwiegermutter dagegen liess den Buergermeister nicht los, und aus den Blicken, die sie nach dem Bruder des Herrn Buck und seinen Freunden Cohn und Heuteufel schleuderte, war zu ersehen, dass sie ihn gegen die Sache der Bucks einnahm. Der Major Kunze, in Uniform, stand mit finsterer Miene dabei und enthielt sich jeder Aeusserung. Gerade erschien auch Pastor Zillich mit Professor Kuehnchen; aber beim Anblick der zahlreichen Gesellschaft blieben sie hinter einem Pfeiler. Der Redakteur Nothgroschen seinerseits ging grau und unbeachtet von den einen zu den anderen. Vergebens suchte Diederich jemand, an den er sich haette halten koennen. Jetzt bereute er, dass er es den Seinen verboten hatte, herzukommen. Er blieb im Dunkeln, hinter der Biegung des Korridors, und streckte nur vorsichtig den Kopf heraus. Ploetzlich zog er ihn zurueck: Guste Daimchen mit ihrer Mutter! Sie ward sofort von den Toechtern Buck umringt, als eine kostbare Verstaerkung ihrer Partei. Gleichzeitig ging dahinten eine Tuer, und Wolfgang Buck trat auf, in Barett und Robe, und darunter Lackschuhe, die er sehr einwaerts setzte. Er laechelte festlich, wie bei einem Empfang, gab allen die Hand, und seiner Braut kuesste er sie. Es werde sehr schoen werden, verhiess er; der Staatsanwalt sei gut disponiert, er selbst auch. Dann begab er sich zu den von ihm geladenen Zeugen, um mit ihnen zu fluestern. In diesem Augenblick verstummte man, denn in der Muendung der Treppe erschien der Angeklagte Herr Lauer und neben ihm seine Frau. Die Buergermeisterin fiel ihr um den Hals: wie sie tapfer sei! "Was ist dabei?" erwiderte sie mit tiefer, klangreicher Stimme. "Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wie, Karl?" Lauer sagte: "Gewiss nicht, Judith." Gerade jetzt aber ging der Landgerichtsrat Fritzsche vorbei. Ein Schweigen entstand; wie er und die Tochter des alten Buck sich begruessten, blinzelte man einander zu, und die Schwiegermutter des Buergermeisters machte eine Bemerkung, halblaut, aber sie war ihr von den Augen zu lesen. Diederich auf seinem schattigen Posten war von Wolfgang Buck entdeckt worden. Buck zog ihn hervor und fuehrte ihn zu seiner Schwester. "Liebe Judith, ich weiss nicht, ob du schon unseren werten Feind kennst, den Herrn Doktor Hessling. Heute wird er uns vernichten." Aber Frau Lauer lachte nicht, sie erwiderte auch Diederichs Gruss nicht, sie sah ihn nur an mit ruecksichtsloser Neugier. Es war schwer, diesen dunklen Blick auszuhalten, und ward noch schwerer, weil sie so schoen war. Diederich fuehlte, wie das Blut ihm ins Gesicht trat, seine Augen irrten ab, er stammelte: "Der Herr Rechtsanwalt scherzt wohl. In der Sache muss ein Irrtum vorliegen ..." Da zogen in dem weissen Gesicht die Brauen sich zusammen, die Mundwinkel sanken ausdrucksvoll herab, und Judith Lauer wandte Diederich den Ruecken. Ein Gerichtsdiener zeigte sich; Wolfgang Buck ging, seinen Schwager Lauer zur Seite, in das Verhandlungszimmer; und da die Tuer nicht eben freigebig geoeffnet ward, stiessen alle einander in Hast hindurch, das minder gute Publikum ward von dem besten ueberwaeltigt. Die Unterroecke der fuenf Schwestern Buck rauschten heftig bei dem Kampf. Diederich gelangte als letzter hinein und musste sich auf der Zeugenbank neben den Major Kunze setzen, der sofort ein Stueck wegrueckte. Landgerichtsdirektor Sprezius, anzusehen wie ein alter wurmiger Geier, erklaerte von dort oben die Sitzung fuer eroeffnet und rief die Zeugen auf, um ihnen den Ernst des Eides in Erinnerung zu bringen - wobei Diederich sofort ein Gesicht bekam wie ehemals in der Religionsstunde. Landgerichtsrat Harnisch ordnete Akten und sah sich im Publikum nach seiner Tochter um. Mehr beachtet ward der alte Landgerichtsrat Kuehlemann, der das Krankenzimmer verlassen und seinen Platz zur Linken des Vorsitzenden eingenommen hatte. Man fand ihn schlecht aussehen, die Schwiegermutter des Buergermeisters wollte wissen, er werde sein Reichstagsmandat niederlegen - und wohin ging das viele Geld, wenn er starb? Bei den Zeugen drueckte Pastor Zillich die Hoffnung aus, der Alte werde seine Millionen fuer einen Kirchenbau bestimmen; aber Professor Kuehnchen bezweifelte es, mit durchdringender Fluesterstimme. "Der gibt auch nach'm Tode nischt her, der hat immer gedacht, man muss das Seine zusammennaehm, und womoeglich den andern ihr's auch ..." Da entliess der Vorsitzende die Zeugen aus dem Sitzungssaal. Sie fanden sich, da kein Zeugenzimmer vorhanden war, im Korridor wieder zusammen. Die Herren Heuteufel, Cohn und Buck _junior_ nahmen eine Fensternische ein; Diederich, unter dem wuetenden Blick des Majors, dachte peinvoll: "Jetzt wird der Angeklagte vernommen. Wuesste ich, was er sagt. Ich moechte ihn ebenso gern entlasten wie ihr!" Vergebens versuchte er gegenueber Pastor Zillich seine milde Gesinnung zu beteuern: er habe immer gesagt, die Sache sei aufgebauscht worden. Zillich wandte sich verlegen weg, und Kuehnchen pfiff, davonlaufend, durch die Zaehne: "Na warte nur, mein Schibbchen, dir wer'n mer das Handwerk legen." Stumm lastete die allgemeine Missbilligung auf Diederich. Endlich erschien der Gerichtsdiener. "Herr Doktor Hessling!" Diederich riss sich zusammen, um nur in kommentmaessiger Haltung an den Zuschauern vorbeizukommen. Er sah krampfhaft geradeaus; der Blick der Frau Lauer lag jetzt auf ihm! Er schnaufte, und er schwankte ein wenig. Links neben dem Beisitzer, der seine Naegel betrachtete, stand drohend aufgerichtet Jadassohn. Das Licht des Fensters hinter ihm schien durch seine abstehenden Ohren, die blutig leuchteten, und seine Miene heischte von Diederichs eine so leichenhafte Gefuegigkeit, dass Diederichs Blick die Flucht ergriff. Rechts, vor dem Angeklagten und etwas tiefer, fand er Wolfgang Buck sitzen, nachlaessig, mit den Faeusten auf den fetten Schenkeln, von denen die Robe zurueckfiel, und so gescheit und aufmunternd anzusehen, als vertrete er den Geist des Lichts. Landgerichtsdirektor Sprezius sprach Diederich die Eidesformel vor, immer nur zwei Worte zur Zeit und mit Herablassung. Diederich schwor folgsam; dann sollte er den Hergang der Dinge an jenem Abend im Ratskeller berichten. Er begann. "Wir waren eine angeregte Gesellschaft, drueben am Tisch sassen auch Herren ..." Da er schon steckenblieb, ward im Publikum gelacht. Sprezius fuhr auf, er hackte mit dem Geierschnabel zu und drohte, er werde den Saal raeumen lassen. "Sonst wissen Sie nichts?" fragte er unwirsch. Diederich gab zu bedenken, infolge geschaeftlicher und anderer Aufregungen haetten sich ihm die Vorgaenge inzwischen etwas verwirrt. "Dann werde ich Ihnen zur Auffrischung des Gedaechtnisses Ihre Aussage vor dem Untersuchungsrichter vorlesen" - und der Vorsitzende liess sich das Protokoll reichen. Daraus erfuhr Diederich zu seiner peinlichen Verwunderung, er habe vor dem Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Fritzsche die bestimmte Angabe gemacht, dass von seiten des Angeklagten eine schwere Beleidigung Seiner Majestaet des Kaisers gefallen sei. Was er darueber zu aeussern habe. "Es kann wohl sein," stammelte er; "aber es waren viele Herren da. Ob es nun gerade der Angeklagte war, der das gesagt hat ..." Sprezius beugte sich ueber den Richtertisch. "Denken Sie nach, Sie stehen hier unter Ihrem Eid. Andere Zeugen werden bekunden, dass Sie ganz allein auf den Angeklagten zugetreten sind und das betreffende Gespraech mit ihm gefuehrt haben." - "War ich das?" fragte Diederich, rot uebergossen. Da lachte unaufhaltsam der ganze Saal; Jadassohn sogar verzog das Gesicht zu einem verachtungsvollen Feixen. Sprezius hatte schon den Mund geoeffnet, um loszufahren: aber Wolfgang Buck stand auf. Sein weiches Gesicht ward mit einem sichtbaren Ruck energisch, und er fragte Diederich: "Sie waren an dem Abend wohl stark angetrunken?" Sofort fielen Staatsanwalt und Vorsitzender ueber ihn her. "Ich beantrage, die Frage nicht zuzulassen!" rief Jadassohn schrill. "Herr Verteidiger," kraechzte Sprezius, "Sie haben nur mir die Frage vorzulegen; ob ich sie dann an den Zeugen richte, ist meine Sache!" Aber die beiden, Diederich sah es staunend, hatten einen entschlossenen Gegner gefunden. Wolfgang Buck stand da, mit klangvoller Rednerstimme beanstandete er das Verhalten des Vorsitzenden, das die Rechte der Verteidigung verletze, und beantragte Gerichtsbeschluss darueber, ob ihm gemaess der Strafprozessordnung das direkte Fragerecht an den Zeugen zustehe. Sprezius hackte vergeblich zu, es blieb ihm nichts uebrig, als mit den vier Richtern rueckwaerts im Beratungszimmer zu verschwinden. Buck sah sich triumphierend um; seine Cousinen bewegten die Haende wie zum Applaus; aber auch sein Vater war inzwischen eingetreten, und man sah, wie der alte Buck seinem Sohn ein Zeichen der Missbilligung gab. Der Angeklagte seinerseits, zornige Erregung im apoplektischen Gesicht, schuettelte seinem Verteidiger die Hand. Diederich, der allen Blicken ausgesetzt war, gab sich Haltung und hielt Umschau. Aber ach, Guste Daimchen wich ihm aus! Nur der alte Buck winkte wohlwollend: Diederichs Aussage hatte ihm gefallen. Er bemuehte sich sogar aus der engen Tribuene heraus, um Diederich seine weiche, weisse Hand zu geben. "Ich danke Ihnen, lieber Freund", sagte er. "Sie haben die Sache so behandelt, wie sie es verdient." Und Diederich in seiner Verlassenheit bekam feuchte Augen angesichts der Guete des grossen Mannes. Erst nachdem Herr Buck sich wieder auf seinen Platz begeben hatte, fiel es Diederich ein, dass er ihm hier ja die Geschaefte besorgte! Und auch sein Sohn Wolfgang war durchaus nicht so schlapp, wie Diederich gedacht hatte. Die politischen Gespraeche hatte er augenscheinlich nur gefuehrt, um sie hier gegen ihn auszunutzen. Treue, wahre deutsche Treue, die gab es in der Welt nicht, auf niemand konnte man sich verlassen. "Soll ich mich hier noch lange von allen Seiten anoeden lassen?" Zum Glueck kehrte der Gerichtshof zurueck. Der alte Kuehlemann wechselte mit dem alten Buck einen bedauernden Blick, und Sprezius verlas, mit merklicher Selbstbeherrschung, den Beschluss. Ob der Verteidiger das Recht der direkten Fragestellung habe, blieb unentschieden, denn die Frage selbst: War der Zeuge damals betrunken gewesen? ward als nicht zur Sache gehoerig abgelehnt. Darauf fragte der Vorsitzende, ob der Herr Staatsanwalt noch eine Frage an den Zeugen zu richten habe. "Vorlaeufig nicht," sagte Jadassohn mit Geringschaetzung, "aber ich beantrage, den Zeugen noch nicht zu entlassen." Und Diederich durfte sich setzen. Jadassohn erhob die Stimme. "Ausserdem beantrage ich die sofortige Vorladung des Untersuchungsrichters Dr. Fritzsche, der darueber aussagen soll, wie die Gesinnung des Zeugen Hessling gegen den Angeklagten frueher war." Diederich erschrak - im Zuschauerraum aber wandte man sich nach Judith Lauer um: sogar die beiden Assessoren am Richtertisch sahen hin ... Jadassohn bekam bewilligt, was er wollte. Dann wurde Pastor Zillich herbeigeholt, vereidigt und sollte seinerseits ueber die kritische Nacht berichten. Er erklaerte, die Eindruecke haetten sich damals ueberstuerzt und sein christliches Gewissen schwer bedraengt, denn just an jenem Abend sei in den Strassen von Netzig Blut geflossen, wenn auch zu einem patriotischen Zweck. "Das gehoert nicht hierher!" entschied Sprezius - und eben jetzt betrat den Saal der Regierungspraesident Herr von Wulckow, im Jagdanzug, mit grossen, kotigen Stiefeln. Alles sah sich um, der Vorsitzende machte auf seinem Sitz eine Verbeugung, und Pastor Zillich zitterte. Vorsitzender und Staatsanwalt drangen abwechselnd auf ihn ein, Jadassohn sagte sogar mit einem Ausdruck von entsetzlicher Hinterhaeltigkeit: "Herr Pastor, Sie als Geistlichen brauche ich auf die Heiligkeit des Eides, den Sie geleistet haben, nicht besonders aufmerksam zu machen." Da knickte Zillich ein und gab zu, dass er die dem Angeklagten vorgeworfene Aeusserung allerdings gehoert habe. Der Angeklagte sprang auf und schlug mit der Faust auf die Bank. "Ich habe den Namen des Kaisers gar nicht genannt! Ich habe mich gehuetet!" Sein Verteidiger beruhigte ihn mit einem Wink und sagte: "Wir werden den Beweis erbringen, dass nur die provokatorische Absicht des Zeugen Dr. Hessling den Angeklagten zu seinen, hier falsch wiedergegebenen Aeusserungen veranlasst hat." Vorlaeufig bitte er den Herrn Vorsitzenden, den Zeugen Zillich darueber zu befragen, ob er nicht eine Predigt gehalten habe, die ausdruecklich gegen die Hetzereien des Zeugen Hessling gerichtet gewesen sei. Pastor Zillich stammelte, er habe nur im allgemeinen zum Frieden geraten und damit seiner Pflicht als Vertreter der Religion genuegt. Jetzt wollte Buck etwas anderes wissen. "Hat nicht der Zeuge Zillich neuerdings ein Interesse daran, sich mit dem Hauptbelastungszeugen Doktor Hessling gut zu stellen, weil naemlich seine Tochter -." Schon fuhr Jadassohn dazwischen: er protestiere gegen die Stellung der Frage. Sprezius ruegte sie als unzulaessig, und auf der Tribuene entstand ein missbilligendes Gemurmel weiblicher Stimmen. Der Regierungspraesident beugte sich ueber die Bank zum alten Buck und sagte deutlich: "Ihr Sohn macht ja nette Zicken!" Inzwischen war der Zeuge Kuehnchen aufgerufen. Der kleine Greis stuermte in den Saal, seine Brillen funkelten; schon von der Tuer schrie er seine Personalien herueber, und die Eidesformel sagte er gelaeufig her, ohne sie sich vorsprechen zu lassen. Dann aber war er zu keiner anderen Aussage zu bewegen, als dass an jenem Abend die Wogen der nationalen Begeisterung hochgegangen seien. Zuerst die glorreiche Tat des Postens! Dann der herrliche Brief Seiner Majestaet mit dem Bekenntnis zum positiven Christentum! "Wie der Krach war mit dem Angeklagten? Ja, meine Herren Richter, davon weess 'ch Sie nischt. Da hab' 'ch grade ae bisschen geschlummert." - "Aber nachher ist doch von der Sache geredet worden!" verlangte der Vorsitzende. "Ich nicht!" rief Kuehnchen. "Ich hab' eegal von unsern glorreichen Taten im Jahre siebzig gered't. Die Franktiroehrs! hab 'ch gesagt, das war Sie eene Bande. Mein steifer Finger, da hat mich ae Franktiroehr draufgebissen, bloss weil ich ihm mit mei'm Saebel ae kleenes bisschen die Kehle abschneiden wollte! So eene Gemeinheit von dem Kerl!" Und Kuehnchen wollte den Finger am Richtertisch umherzeigen. "Abtreten!" kraechzte Sprezius; und er drohte wieder einmal mit der Raeumung des Saals. Major Kunze trat auf: steif, wie auf Raedern, und den Eid leistete er in einem Ton, als stiesse er gegen Sprezius schwere Beleidigungen aus. Darauf erklaerte er kurzweg, dass er mit dem ganzen Geseire nichts zu tun habe; er sei erst spaeter in den Ratskeller gekommen. "Ich kann nur sagen, das Verhalten des Herrn Doktor Hessling riecht mir nach Denunziantentum." Aber seit einer Weile roch es im Saal nach etwas anderem. Niemand wusste, woher es kam, auf der Tribuene misstraute man einander und rueckte, das Taschentuch am Munde, diskret vom Nachbar ab. Der Vorsitzende schnupperte in die Luft, und der alte Kuehlemann, dessen Kinn schon laengst auf seiner Brust lag, ruehrte sich im Schlaf. Wie Sprezius ihm vorhielt, die Herren, die ihm damals die Vorgaenge berichtet haetten, seien doch nationale Maenner gewesen, erwiderte der Major nur, das sei ihm gleich, den Herrn Doktor Hessling habe er gar nicht gekannt. Da aber trat Jadassohn vor; seine Ohren funkelten; mit einer Stimme wie ein Messer sagte er: "Herr Zeuge, ich richte an Sie die Frage, ob Sie den Angeklagten nicht vielleicht um so besser kennen. Wollen Sie sich darueber aeussern, ob er Ihnen nicht noch vor acht Tagen hundert Mark geliehen hat." Vor Schrecken ward es ganz still im Saal, und alles starrte auf den Major in Uniform, der dastand und an seiner Antwort stammelte. Jadassohns Kuehnheit machte Eindruck. Unverweilt nutzte er seinen Erfolg aus und erreichte von Kunze, dass er zugab, die Entruestung der Nationalgesinnten ueber Lauers Aeusserungen sei echt gewesen, auch seine eigene. Zweifellos habe der Angeklagte Seine Majestaet gemeint. - Hier hielt Wolfgang Buck sich nicht mehr. "Da der Herr Vorsitzende unnoetig findet, es zu ruegen, wenn der Herr Staatsanwalt seine eigenen Zeugen beleidigt, kann es auch uns gleich sein!" Sofort hackte Sprezius nach ihm. "Herr Verteidiger! Das ist meine Sache, was ich ruege und was nicht!" - "Eben das stelle ich fest", fuhr Buck unbeirrt fort. "Zur Sache selbst behaupten wir nach wie vor und werden durch Zeugen beweisen, dass der Angeklagte den Kaiser gar nicht gemeint hat." "Ich habe mich gehuetet!" rief der Angeklagte dazwischen. Buck fuhr fort: "Sollte dies dennoch als wahr unterstellt werden, so beantrage ich, den Herausgeber des Gothaischen Almanachs darueber als Sachverstaendigen zu vernehmen, welche deutsche Fuersten juedisches Blut haben." Damit setzte er sich wieder, befriedigt von dem Rauschen der Sensation, das durch den Saal ging. Ein droehnender Bass sagte: "Unerhoert!" Sprezius wollte schon loshacken, sah aber noch rechtzeitig, wer es gewesen war: Wulckow! Sogar Kuehlemann war davon erwacht. Der Gerichtshof steckte die Koepfe zusammen, dann verkuendete der Vorsitzende, der Antrag des Verteidigers werde abgelehnt, da ein Wahrheitsbeweis nicht zulaessig sei. Kundgebung der Missachtung genuege zum Tatbestande des Delikts. Buck war geschlagen; seine feisten Wangen senkten sich in kindlicher Traurigkeit. Es ward gekichert, die Schwiegermutter des Buergermeisters lachte ungeniert. Diederich auf seiner Zeugenbank war ihr dankbar. Er fuehlte, angstvoll lauschend, wie die oeffentliche Meinung einlenkte und ganz leise denen naeher kam, die geschickter waren und die Macht hatten. Er tauschte einen Blick mit Jadassohn. Der Redakteur Nothgroschen war dran. Grau und unauffaellig war er ploetzlich da und funktionierte glatt, wie ein Aussagebeamter. Jeder, der ihn kannte, wunderte sich: so sicher hatte er ihn nie gesehen. Er wusste alles, belastete den Angeklagten auf das schwerste und redete fliessend, als sage er einen Leitartikel her; hoechstens dass zwischen den Absaetzen der Vorsitzende ihm das Stichwort gab, mit Anerkennung, wie einem Musterschueler. Buck, der sich erholt hatte, hielt ihm die Stellungnahme der "Netziger Zeitung" fuer Lauer vor. Darauf erwiderte der Redakteur: "Wir sind ein liberales, also unparteiisches Blatt. Wir geben die Stimmung wieder. Da aber jetzt und hier die Stimmung dem Angeklagten unguenstig ist -." Er musste sich draussen im Korridor darueber informiert haben! Buck nahm eine ironische Stimme an. "Ich stelle fest, dass der Zeuge eine etwas sonderbare Auffassung seiner Eidespflicht bekundet." Aber Nothgroschen war nicht einzuschuechtern. "Ich bin Journalist," erklaerte er, und er setzte hinzu: "Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, mich vor Beleidigungen des Verteidigers zu schuetzen." Sprezius liess sich nicht bitten; und er entliess den Redakteur in Gnaden. Es schlug zwoelf; Jadassohn machte den Vorsitzenden aufmerksam, dass der Untersuchungsrichter Dr. Fritzsche sich zur Verfuegung des Gerichts halte. Er ward aufgerufen - und kaum, dass er sich in der Tuer zeigte, gingen alle Augen hin und her zwischen ihm und Judith Lauer. Sie war noch bleicher geworden, der schwarze Blick, der ihn zum Richter begleitete, vergroesserte sich noch, er bekam etwas stumm Eindringliches; aber Fritzsche vermied ihn. Auch ihn fand man schlecht aussehend, sein Schritt dagegen bekundete Entschlossenheit. Diederich stellte fest, dass er von seinen zwei Gesichtern fuer diese Gelegenheit das trockene gewaehlt hatte. Welche Eindruecke er waehrend der Voruntersuchung von dem Zeugen Hessling gewonnen habe? Der Zeuge hatte seine Aussage durchaus freiwillig und selbstaendig gemacht, in Form einer durch das frische Erlebnis noch bewegten Auseinandersetzung. Die Zuverlaessigkeit des Zeugen, die Fritzsche an der Hand seiner ferneren Ermittelungen hatte nachpruefen koennen, stand ausser allem Zweifel. Dass der Zeuge heute kein deutliches Erinnerungsbild mehr hatte, war nur durch die Erregung des Augenblicks zu erklaeren ... Und der Angeklagte? - Hier hoerte man den Saal aufhorchen. Fritzsche schluckte hinunter. Auch der Angeklagte hatte persoenlich einen eher guenstigen Eindruck auf ihn gemacht, trotz der vielen belastenden Momente. "Halten Sie, bei widerstreitenden Zeugenaussagen, den Angeklagten des ihm zur Last gelegten Delikts faehig?" fragte Sprezius. Fritzsche erwiderte: "Der Angeklagte ist ein gebildeter Mann; ausdruecklich beleidigende Worte zu gebrauchen, wird er sich gehuetet haben." "Das sagt der Angeklagte selbst", bemerkte der Vorsitzende streng. Fritzsche sprach schneller. Der Angeklagte war durch seine buergerliche Wirksamkeit gewoehnt, Autoritaet mit fortschrittlichen Neigungen zu verbinden. Er hielt sich offenbar fuer einsichtsvoller und zur Kritik berechtigter als die meisten anderen Menschen. Es war also denkbar, dass er in gereiztem Zustand - und durch die Erschiessung des Arbeiters von seiten des Wachtpostens hatte er sich gereizt gefuehlt - seinen politischen Anschauungen einen Ausdruck gab, der, ob aeusserlich vielleicht auch einwandfrei, die beleidigende Absicht hindurchschimmern liess. Hier sah man den Vorsitzenden und den Staatsanwalt aufatmen. Die Landgerichtsraete Harnisch und Kuehlemann warfen Blicke auf das Publikum, durch das eine lebhafte Bewegung ging. Der Assessor links besah auch jetzt noch seine Naegel; der rechts aber, ein junger Mann mit nachdenklichem Gesicht, beobachtete den Angeklagten, den er gleich vor sich hatte. Die Haende des Angeklagten waren krampfig um die Bruestung seiner Bank gespannt, und die Augen, hervortretende braune Augen, richtete er auf seine Frau. Sie aber sah unverwandt auf Fritzsche, halbgeoeffneten Mundes, wie abwesend, mit einem Ausdruck von Leiden, Scham und Schwaeche. Die Schwiegermutter des Buergermeisters aeusserte deutlich: "Und zwei Kinder hat sie zu Hause." Ploetzlich schien Lauer das Gefluester um ihn her zu bemerken, alle diese Blicke, die wegsahen, wenn er sie streifte. Er sank zusammen, sein stark geroetetes Gesicht entleerte sich so jaeh vom Blut, dass der junge Assessor erschreckt auf seinem Stuhl rueckte. Diederich, dem es immer wohler ward, war wahrscheinlich der einzige, der dem Dialog zwischen dem Vorsitzenden und dem Untersuchungsrichter noch folgte. Dieser Fritzsche! Niemandem, auch Diederich selbst nicht, war die Sache aus guten Gruenden anfangs peinlicher gewesen. Hatte er nicht auf Diederich als Zeugen eine nahezu pflichtwidrige Einwirkung geuebt? Und das protokollierte Ergebnis von Diederichs Aussage war nun dennoch schwer belastend, und Fritzsches eigenes Zeugnis erst recht. Er war nicht weniger ruecksichtslos vorgegangen als Jadassohn. Seine engen und besonderen Beziehungen zum Hause Lauer hatten keineswegs vermocht, ihn der Aufgabe zu entfremden, die ihm oblag, dem Schutze der Macht. Nichts Menschliches hielt stand vor der Macht. Welche Lehre fuer Diederich ... Auch Wolfgang Buck empfing sie, auf seine Art. Von unten betrachtete er Fritzsche, mit einer Miene, als muesste er sich erbrechen. Wie der Untersuchungsrichter mit Drehungen des Koerpers, die nicht unbefangen wirkten, auf den Ausgang zusteuerte, ward lauter gefluestert. Die Schwiegermutter des Buergermeisters sagte, mit dem Lorgnon nach der Frau des Angeklagten zielend: "Eine nette Gesellschaft!" Man widersprach ihr nicht; man hatte angefangen, die Lauers ihrem Schicksal zu ueberlassen. Guste Daimchen biss sich auf die Lippe, Kaethchen Zillich schickte einen raschen Senkblick zu Diederich. Dr. Scheffelweis beugte sich hinueber zu dem Haupt der Familie Buck, drueckte ihm die Hand und sagte suess: "Ich hoffe, lieber Freund und Goenner, alles wird noch gut." Der Vorsitzende befahl dem Gerichtsdiener: "Lassen Sie mal den Zeugen Cohn 'rein!" Die Reihe war an den Entlastungszeugen! Der Vorsitzende schnupperte in die Luft. "Hier riecht es aber schlecht", bemerkte er. "Krecke, machen Sie hinten ein Fenster auf!" Und er suchte mit den Augen unter dem minder guten Publikum, das dort oben eng gedraengt sass. Dagegen war auf den unteren Baenken freier Raum, und der freieste um den Regierungspraesidenten von Wulckow in seiner verschwitzten Jagdjoppe.... Das geoeffnete Fenster, durch das es eisig hereinblies, bewirkte Murren unter den auswaertigen Journalisten, die dort hinten verstaut sassen. Aber Sprezius richtete nur den Schnabel gegen sie: da duckten sie sich in ihre Rockkragen. Jadassohn sah siegesgewiss dem Zeugen entgegen. Sprezius liess ihn eine Weile reden, dann raeusperte Jadassohn sich; er hielt einen Akt in der Hand. "Zeuge Cohn," begann er, "Sie sind Inhaber des unter Ihrem Namen bestehenden Warenhauses seit 1889?" Und unvermittelt: "Geben Sie zu, dass gleich damals einer Ihrer Lieferanten, ein gewisser Lehmann, sich in Ihren Lokalitaeten durch Erschiessen das Leben genommen hat?" Und mit daemonischer Befriedigung blickte er auf Cohn, denn die Wirkung seiner Worte war ausserordentlich. Cohn begann zu zappeln und nach Luft zu schnappen. "Die alte Verleumdung!" kreischte er. "Er hat es doch gar nicht meinetwegen getan! Er war ungluecklich verheiratet! Mit der Geschichte haben die Leute mich schon einmal kaputt gemacht, und nun faengt der Mann wieder an!" Auch der Verteidiger protestierte. Sprezius hackte auf Cohn zu. Der Herr Staatsanwalt sei kein Mann! Und wegen des Ausdrucks Verleumdung nehme das Gericht den Zeugen in eine Ordnungsstrafe von fuenfzig Mark. Damit war Cohn erledigt. Der Bruder des Herrn Buck ward vernommen. Ihn fragte Jadassohn geradeheraus: "Zeuge Buck, Sie haben ein notorisch schlechtgehendes Geschaeft, wovon leben Sie?" Hier entstand ein solches Gemurmel, dass Sprezius schnell eingriff: "Herr Staatsanwalt, gehoert das wirklich zur Sache?" Aber Jadassohn war allem gewachsen. "Herr Vorsitzender, die Anklagebehoerde hat ein Interesse, den Nachweis zu erbringen, dass der Zeuge sich in wirtschaftlicher Abhaengigkeit von seinen Verwandten, besonders aber von seinem Schwager, dem Angeklagten, befindet. Die Glaubwuerdigkeit des Zeugen ist danach zu bemessen." Der lange, elegante Herr Buck stand mit gesenktem Kopf da. "Das genuegt", erklaerte Jadassohn; und Sprezius entliess diesen Zeugen. Seine fuenf Toechter rueckten unter den Blicken der Menge auf ihrer Bank zusammen wie eine Laemmerherde im Unwetter. Das minder gute Publikum der oberen Reihen lachte feindselig. Sprezius bat wohlwollend um Ruhe und liess sich den Zeugen Heuteufel kommen. Wie nun Heuteufel die Hand zum Schwur hob, schleuderte Jadassohn ihm die seine mit einem dramatischen Wurf entgegen. "Ich moechte zunaechst an den Zeugen die Frage richten, ob er zugibt, die das Delikt der Majestaetsbeleidigungen darstellenden Aeusserungen durch seine Zustimmung beguenstigt und noch verschaerft zu haben." Heuteufel erwiderte: "Ich gebe gar nichts zu", - worauf Jadassohn ihm seine Aussage im Vorverhoer entgegenhielt. Mit erhobener Stimme: "Ich beantrage Gerichtsbeschluss darueber, dass die Beeidigung dieses Zeugen unterbleiben soll, weil er der Teilnahme am Delikt verdaechtig ist." Noch schneidender: "Die Gesinnung des Zeugen darf als gerichtsnotorisch gelten. Der Zeuge gehoert zu den von Seiner Majestaet dem Kaiser mit Recht so genannten vaterlandslosen Gesellen. Ueberdies befleissigt er sich in regelmaessigen Versammlungen, die er als Sonntagsfeiern fuer freie Menschen bezeichnet, der Verbreitung des krassesten Atheismus, wodurch seine Tendenzen gegenueber einem christlichen Monarchen ohne weiteres charakterisiert sind." Und Jadassohns Ohren strahlten Feuer aus, wie ein ganzes Glaubensbekenntnis. Wolfgang Buck stand auf, laechelte skeptisch und meinte, die religioesen Ueberzeugungen des Herrn Staatsanwalts seien offenbar von moenchischer Strenge, es koenne ihm nicht zugemutet werden, dass er einen Nichtchristen fuer glaubwuerdig halte. Das Gericht aber werde wohl anderer Meinung sein und den Antrag des Staatsanwalts ablehnen. Da wuchs Jadassohn furchtbar empor. Wegen der Verhoehnung seiner Person beantragte er gegen den Verteidiger eine Ordnungsstrafe von hundert Mark! Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurueck. Sofort brach im Saal ein aufgeregtes Durcheinander von Meinungen aus. Dr. Heuteufel schob die Haende in die Taschen und mass mit langen Blicken Jadassohn, der, dem Schutze des Gerichts entzogen, von Panik ergriffen ward und gegen die Wand wich. Diederich war es, der ihm zu Hilfe kam, denn er hatte dem Herrn Staatsanwalt leise eine wichtige Mitteilung zu machen ... Schon kehrten die Richter zurueck. Die Beeidigung des Zeugen Heuteufel ward vorerst ausgesetzt. Der Verteidiger war wegen Verhoehnung des Herrn Staatsanwalts in eine Ordnungsstrafe von achtzig Mark genommen. In das weitere Verhoer Heuteufels griff der Verteidiger ein, der vom Zeugen wissen wollte, wie er, als intimer Bekannter des Angeklagten, sein Familienleben beurteile. Heuteufel machte eine Bewegung, durch den Saal rauschte es: man hatte verstanden. Aber ob Sprezius die Frage zuliess? Er hatte schon den Mund geoeffnet, um sie abzulehnen, begriff aber noch rechtzeitig, dass man einer Sensation nicht ausweichen duerfe - worauf Heuteufel den mustergueltigen Zustaenden im Hause Lauer hohes Lob spendete. Jadassohn trank die Worte des Zeugen, bebend vor Ungeduld. Endlich konnte er, mit namenlosem Triumph in der Stimme, seine Frage stellen. "Will der Zeuge sich auch darueber aeussern, welcher Art die Weiber sind, aus deren Bekanntschaft er persoenlich die Kenntnis des Familienlebens schoepft, und ob er nicht in einem gewissen Hause verkehrt, das im Volksmund Klein-Berlin heisst?" Und noch im Sprechen vergewisserte er sich, dass die Damen im Publikum, und gleich ihnen die Richter, tief verletzte Gesichter bekamen. Der Hauptentlastungszeuge war vernichtet! Heuteufel versuchte noch zu antworten: "Der Herr Staatsanwalt wird es wissen. Wir sind uns dort wohl begegnet." Aber das diente nur dazu, dass Sprezius ihm eine Ordnungsstrafe von fuenfzig Mark auferlegen konnte. "Der Zeuge hat im Saal zu bleiben", entschied der Vorsitzende schliesslich. "Das Gericht braucht ihn noch zur weiteren Aufklaerung des Tatbestandes." Heuteufel aeusserte: "Ich meinerseits bin aufgeklaert ueber den Betrieb hier und wuerde es vorziehen, das Lokal zu verlassen." Sofort wurden aus den fuenfzig Mark hundert. Wolfgang Buck sah sich unruhig um. Seine Lippen schienen die Stimmung im Saal zu schmecken, sie verzogen sich, als aeusserte sich die Stimmung in diesem merkwuerdigen Geruch, der seit das Fenster geschlossen war, sich wieder gelagert hatte. Buck sah die Sympathien, die ihn hereinbegleitet hatten, zersprengt und abgestumpft, seine Kampfmittel unnuetz verbraucht; und das Gaehnen der vom Hunger in die Laenge gezogenen Gesichter, die Ungeduld der Richter, die nach der Uhr schielten, verhiess ihm nichts Gutes. Er sprang auf; retten, was zu retten war! Und er machte seine Stimme energisch, um die Vorladung weiterer Zeugen fuer die Nachmittagssitzung zu beantragen. "Da der Herr Staatsanwalt es zum System erhebt, die Glaubwuerdigkeit unserer Zeugen zu bezweifeln, sind wir bereit, den guten Leumund des Angeklagten zu beweisen durch die Aussagen der ersten Maenner von Netzig. Kein Geringerer als Herr Buergermeister Dr. Scheffelweis wird dem Gericht die buergerlichen Verdienste des Angeklagten bezeugen. Der Herr Regierungspraesident von Wulckow wird nicht umhin koennen, ihm seine staatsfreundliche und kaisertreue Gesinnung zu bestaetigen." "Nanu", sagte dahinten aus dem freien Raum der droehnende Bass. Buck strengte seine Stimme an. "Fuer die sozialen Tugenden des Angeklagten aber werden seine saemtlichen Arbeiter eintreten." Und Buck setzte sich, hoerbar keuchend. Jadassohn bemerkte kalt: "Der Herr Verteidiger beantragt eine Volksabstimmung." Die Richter berieten fluesternd; und Sprezius verkuendete: das Gericht gebe nur dem Antrage des Verteidigers statt, der sich auf die Vernehmung des Buergermeisters Dr. Scheffelweis beziehe. Da der Buergermeister im Saal war, wurde er sogleich aufgerufen. Er arbeitete sich aus seiner Bank heraus. Frau und Schwiegermutter hielten ihn von beiden Seiten fest und gaben ihm hastig Forderungen mit, die einander widersprechen mussten, denn der Buergermeister langte sichtlich verstoert am Richtertisch an. Welche Gesinnung der Angeklagte in der buergerlichen Oeffentlichkeit betaetigte? Dr. Scheffelweis wusste Gutes darueber zu bekunden. So hatte der Angeklagte sich in den staedtischen Kollegien eingesetzt fuer die Wiederherstellung des altberuehmten Pfaffenhauses, wo die Haare aufbewahrt wurden, die bekanntlich Dr. Martin Luther dem Teufel aus dem Schwanz gerissen hatte. Freilich, auch den Saalbau der "Freien Gemeinde" hatte er unterstuetzt und dadurch unleugbar viel Anstoss erregt. Im Geschaeftsleben sodann genoss der Angeklagte die allgemeine Achtung; die sozialen Reformen, die er in seiner Fabrik eingefuehrt hatte, wurden vielfach bewundert, - wenn freilich auch dagegen eingewendet ward, dass sie die Ansprueche der Arbeiter ins ungemessene steigerten und so den Umsturz vielleicht doch zu befoerdern geeignet waren. "Wuerde der Herr Zeuge", fragte der Verteidiger, "den Angeklagten des ihm zur Last gelegten Delikts fuer faehig halten?" - "Einerseits", erwiderte Scheffelweis, "gewiss nicht." - "Aber andererseits?" fragte der Staatsanwalt. Der Zeuge erwiderte: "Andererseits gewiss." Nach dieser Antwort durfte der Buergermeister sich zurueckziehen; seine zwei Damen empfingen ihn, eine so unzufrieden wie die andere; und der Vorsitzende schickte sich an, die Sitzung aufzuheben, da raeusperte Jadassohn sich. Er beantragte, nochmals den Zeugen Doktor Hessling zu vernehmen, der seine Aussage zu ergaenzen wuensche. Sprezius klappte missgelaunt mit den Lidern, das Publikum, das soeben aus den Baenken herausrutschte, murrte laut; - aber Diederich war schon vorgetreten, festen Schrittes, und hatte schon mit klarer Stimme zu sprechen begonnen. Nach reiflicher Ueberlegung sei er zu der Einsicht gelangt, dass er seine im Vorverhoer gemachte Aussage vollinhaltlich aufrechterhalten koenne; und er wiederholte sie, aber verschaerft und erweitert. Er fing mit der Erschiessung des Arbeiters an und gab die kritischen Bemerkungen der Herren Lauer und Heuteufel wieder. Die Zuhoerer, die das Fortgehen vergessen hatten, verfolgten die Schlacht der Gesinnungen ueber die blutbetropfte Kaiser-Wilhelm-Strasse bis in den Ratskeller, sahen die feindlichen Reihen sich bis zum Entscheidungskampf ordnen, Diederich wie mit geschwungenem Degen unter den gotischen Kronleuchter vorruecken und den Angeklagten herausfordern auf Leben und Tod. "Denn, meine Herren Richter, ich leugne es nicht laenger, ich habe ihn herausgefordert! Wird er das Wort sprechen, an dem ich ihn packen kann? Er sprach es und, meine Herren Richter, ich habe ihn gepackt und habe damit nur meine Pflicht erfuellt und wuerde sie auch heute wieder erfuellen, moegen mir daraus in gesellschaftlicher und geschaeftlicher Beziehung selbst noch mehr Nachteile erwachsen, als ich in der letzten Zeit zu ertragen gehabt habe! Der uneigennuetzige Idealismus, meine Herren Richter, ist ein Vorrecht des Deutschen, er wird ihn unentwegt betaetigen, mag ihm angesichts der Menge der Feinde gelegentlich auch der Mut sinken. Als ich vorhin mit meiner Aussage noch zoegerte, war es nicht nur, wie der Untersuchungsrichter mir guetigst zubilligte, eine Verwirrung des Gedaechtnisses: es war, ich gestehe es, ein vielleicht begreifliches Zurueckweichen vor der Schwere des Kampfes, den ich auf mich nehmen sollte. Aber ich nehme ihn auf mich, denn kein Geringerer als Seine Majestaet unser erhabener Kaiser verlangt es von mir ..." Diederich sprach fliessend weiter, mit einem Schwung in den Saetzen, der einem den Atem nahm. Jadassohn fand, dass der Zeuge anfange, die Wirkungen seines Plaidoyers vorwegzunehmen, und blickte unruhig auf den Vorsitzenden. Sprezius aber dachte offenbar nicht daran, Diederich zu unterbrechen. Mit unbewegtem Geierschnabel und ohne die Lider zu klappen, sah er auf Diederichs eiserne Miene, worin es drohend blitzte. Der alte Kuehlemann sogar liess die Lippe haengen und hoerte zu. Wolfgang Buck aber: vorgebeugt auf seinem Stuhl, spaehte er zu Diederich hinauf, gespannt, sachkundig und die Augen voll eines feindlichen Entzueckens. Das war eine Volksrede! Ein Auftritt von bombensicherer Wirkung! Ein Schlager! "Moegen unsere Buerger", rief Diederich, "endlich aus dem Schlummer erwachen, in dem sie sich so lange gewiegt haben, und nicht bloss dem Staat und seinen Organen die Bekaempfung der umwaelzenden Elemente ueberlassen, sondern selbst mit Hand anlegen! Das ist Befehl Seiner Majestaet und, meine Herren Richter, da sollte ich zoegern? Der Umsturz erhebt das Haupt, eine Rotte von Menschen, nicht wert den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, die geheiligte Person des Monarchen in den Staub zu ziehen ..." Im minder guten Publikum lachte jemand. Sprezius hackte zu und drohte den Lacher in Strafe zu nehmen. Jadassohn seufzte. Jetzt war es Sprezius freilich nicht mehr moeglich, den Zeugen zu unterbrechen. In Netzig hatte der kaiserliche Kampfruf bisher leider nur zu wenig Widerhall gefunden! Hier verschloss man Augen und Ohren vor der Gefahr, man verharrte in den veralteten Anschauungen einer spiessbuergerlichen Demokratie und Humanitaet, die den vaterlandslosen Feinden der goettlichen Weltordnung den Weg ebneten. Eine forsche nationale Gesinnung, einen grosszuegigen Imperialismus begriff man hier noch nicht. "Die Aufgabe der modern gesinnten Maenner ist es, auch Netzig dem neuen Geist zu erobern, im Sinne unseres herrlichen jungen Kaisers, der jeden Treugesinnten, er sei edel oder unfrei, zum Handlanger seines erhabenen Wollens bestellt hat!" Und Diederich schloss: "Daher, meine Herren Richter, war ich berechtigt, dem Angeklagten, als er noergeln wollte, mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ich habe ohne persoenlichen Groll gehandelt, um der Sache willen. Sachlich sein heisst deutsch sein! Und ich meinerseits" - er blitzte zu Lauer hinueber - "bekenne mich zu meinen Handlungen, denn sie sind der Ausfluss eines tadellosen Lebenswandels, der auch im eigenen Hause auf Ehre haelt und weder Luege noch Sittenlosigkeit kennt!" Grosse Bewegung im Saal. Diederich, hingerissen von der edlen Gesinnung, die er ausdrueckte, berauscht durch seine Wirkung, fuhr fort, den Angeklagten anzublitzen. Da aber wich er zurueck: der Angeklagte, zitternd und wankend, stemmte sich am Gelaender seiner Bank empor; er hatte rollende, blutunterlaufene Augen, und sein Kiefer bewegte sich, als habe ihn der Schlag geruehrt. "Oh!" machten weibliche Stimmen, voll erwartungsvollen Schauderns. Aber der Angeklagte hatte nur Zeit, einige rauhe Laute gegen Diederich auszustossen: sein Verteidiger hatte ihn am Arm erfasst und redete auf ihn ein. Inzwischen verkuendete der Vorsitzende, dass der Herr Staatsanwalt sein Plaidoyer um vier Uhr beginnen werde, und verschwand samt den Beisitzern. Diederich, halb betaeubt, sah sich auf einmal bestuermt von Kuehnchen, Zillich, Nothgroschen, die ihn beglueckwuenschten. Fremde Leute schuettelten ihm die Hand: die Verurteilung sei todsicher, der Lauer duerfe einpacken. Der Major Kunze erinnerte den erfolgreichen Diederich daran, dass zwischen ihnen niemals eine Meinungsverschiedenheit entstanden sei. Auf dem Korridor kam ganz nahe an Diederich, den gerade eine Menge Damen umgaben, der alte Buck vorueber. Er zog seine schwarzen Handschuhe an und sah dabei dem jungen Mann ins Gesicht: ohne die Verbeugung zu erwidern, die Diederich wider Willen machte, ihm immer ins Gesicht, mit einem Blick, pruefend und traurig, so traurig, dass auch Diederich, mitten aus seinem Triumph heraus, ihm traurig nachsah. Ploetzlich merkte er, dass die fuenf Toechter Buck sich nicht entbloedeten, ihm Komplimente zu machen. Sie flatterten, rauschten und fragten, warum er denn zu der spannenden Verhandlung nicht auch seine Schwestern mitgebracht habe. Da mass er diese fuenf herausgeputzten Gaense, eine nach der anderen, von oben bis unten und erklaerte ihnen, streng und abweisend, es gaebe Dinge, die denn doch ernster seien als eine Theatervorstellung. Erstaunt liessen sie ihn stehen. Der Korridor leerte sich; zuletzt erschien noch Guste Daimchen. Sie machte eine Bewegung auf Diederich zu. Aber Wolfgang Buck holte sie ein, laechelnd, als sei nichts geschehen; und mit ihm waren der Angeklagte und seine Frau. Schnell sandte Guste zu Diederich einen Blick hin, der sein Zartgefuehl anrief. Er drueckte sich hinter einen Pfeiler und liess, indes ihm das Herz klopfte, die Geschlagenen vorueber. Wie er gehen wollte, trat aus dem Amtszimmer der Regierungspraesident, Herr von Wulckow. Diederich stellte sich, den Hut in der Hand, am Wege auf, schlug im richtigen Augenblick die Hacken zusammen, und wirklich, Wulckow blieb stehen. "Na also!" sagte er aus der Tiefe seines Bartes und klopfte Diederich auf die Schulter. "Sie haben das Rennen gemacht. Sehr brauchbare Gesinnung. Wir sprechen uns noch." Und er ging weiter auf seinen kotigen Stiefeln, schwenkte den Bauch in der verschwitzten Jagdhose und hinterliess, durchdringend wie je, diesen Geruch gewalttaetiger Maennlichkeit, der bei allem, was geschah, im Gerichtssaal gelagert hatte. Beim Ausgang drunten hielt sich noch immer der Buergermeister auf, mit Frau und Schwiegermutter, die von beiden Seiten auf ihn eindrangen, und deren Forderungen er, bleich und hoffnungslos, in Einklang zu bringen suchte. Zu Hause wussten sie schon alles. Sie hatten, alle drei, im Vestibuel auf das Ende der Verhandlung gewartet und sich von Meta Harnisch erzaehlen lassen, was vorging. Frau Hessling umarmte ihren Sohn unter stummen Traenen. Die Schwestern standen etwas betreten dabei, denn noch gestern hatten sie nur Geringschaetzung gehabt fuer Diederichs Rolle im Prozess, die sich nun als so glaenzend erwies. Aber Diederich, in der schoenen Vergesslichkeit des Sieges, liess Wein zum Essen auftragen, und er erklaerte ihnen, der heutige Tag sichere fuer alle Zeit ihre gesellschaftliche Stellung in Netzig. "Die fuenf Damen Buck werden sich hueten, auf der Strasse wegzusehen. Sie koennen froh sein, wenn ihr sie zurueckgruesst!" Die Verurteilung des Lauer war, so versicherte Diederich, nur mehr eine Formalitaet. Sie war entschieden, und mit ihr auch Diederichs unaufhaltsamer Aufstieg! "Freilich -" und er nickte in sein Glas - "trotz voller Pflichterfuellung haette es schief gehen koennen, und dann, meine Lieben, das wollen wir uns nur gestehen, dann waere ich wahrscheinlich aufgeflogen und Magdas Heirat mit!" Da Magda erbleichte, klopfte er ihr den Arm. "Jetzt sind wir fein heraus." Und das Glas erhoben, mit maennlicher Festigkeit: "Welch eine Wendung durch Gottes Fuegung!" Er ordnete an, dass beide sich schoen machten und mitkaemen. Frau Hessling bat um Nachsicht, sie fuerchtete zu sehr die Aufregung. Diesmal konnte Diederich warten, die Schwestern durften sich anziehen, so lange sie mochten. Als sie eintrafen, waren schon alle im Saal, aber es waren nicht dieselben. Saemtliche Bucks fehlten, und mit ihnen Guste Daimchen, Heuteufel, Cohn, die ganze Loge, der freisinnige Wahlverein. Sie gaben sich besiegt! Die Stadt wusste es, man draengte sich herbei, ihre Niederlage zu erleben; das minder gute Publikum war vorgerueckt bis in die vorderen Baenke. Wer von dem einstigen Kluengel sich noch hier fand, Kuehnchen und Kunze trugen Sorge, dass jeder auf ihren Gesichtern die gute Gesinnung lese. Auch einige verdaechtige Gestalten freilich sassen dazwischen: junge Leute mit mueden, aber ausdrucksvollen Mienen, samt mehreren auffallenden Maedchen, die unheimlich schoene Farben im Gesicht hatten; und alle tauschten Gruesse mit Wolfgang Buck. Das Stadttheater! Buck hatte sich nicht entbloedet, sie zu seinem Plaidoyer einzuladen! Der Angeklagte wandte hastig den Kopf, sooft jemand eintrat. Er wartete auf seine Frau! "Wenn er meint, dass sie noch kommt!" dachte Diederich. Aber da kam sie: noch bleicher als heute frueh, begruesste ihren Gatten mit einem Blick, der flehend war; setzte sich still an das Ende einer Bank und richtete die Augen geradeaus nach dem Richtertisch, stumm und stolz, wie ins Schicksal ... Der Gerichtshof hatte den Saal betreten. Der Vorsitzende eroeffnete die Sitzung und erteilte das Wort dem Herrn Staatsanwalt. Jadassohn begann sofort mit aeusserster Heftigkeit; nach einigen Saetzen fand er schon keine Steigerung mehr und wirkte matt; die Mitglieder des Stadttheaters laechelten einander geringschaetzig zu. Jadassohn bemerkte es, er fing an, die Arme zu schwenken, dass die Robe flog; seine Stimme ueberschlug sich, und die Ohren loderten. Die geschminkten Maedchen fielen auf die Bruestung ihrer Bank, so ausgelassen kicherten sie. "Merkt denn Sprezius nichts?" fragte die Schwiegermutter des Buergermeisters. Aber das Gericht schlief. Diederich in seinem Herzen frohlockte; er hatte seine Rache an Jadassohn! Jadassohn konnte nichts vorbringen, als womit er selbst schon das Rennen gemacht hatte! Es war gemacht, das wusste Wulckow, und auch Sprezius wusste es, darum schlief er, mit offenen Augen. Jadassohn selbst fuehlte es am besten; er nahm sich immer unsicherer aus, je geraeuschvoller er ward. Als er schliesslich zwei Jahre Gefaengnis beantragte, gaben alle, die er gelangweilt hatte, ihm unrecht: wie es schien, auch die Richter. Der alte Kuehlemann schrak auf, mit einem Schnarcher. Sprezius klappte mehrmals die Lider, um sich zu ermuntern, und dann sagte er: "Der Herr Verteidiger hat das Wort." Wolfgang Buck erhob sich langsam. Seine sonderbaren Freunde auf der Tribuene murmelten beifaellig, was Buck trotz Sprezius' geschaerftem Schnabel in Ruhe abwartete. Dann erklaerte er leichthin, als werde er mit allem in zwei Minuten fertig werden, dass die Beweisaufnahme ein dem Angeklagten durchaus guenstiges Bild ergeben habe. Der Herr Staatsanwalt vertrete mit Unrecht die Anschauung, dass die Aussage von Zeugen, die erst infolge drohender Eingriffe in ihre eigene Existenz schlecht ausgesagt haetten, irgendeinen Wert habe. Vielmehr sie habe den Wert, dass sie auf geradezu glaenzende Weise die Unschuld des Angeklagten belege, da so viele als wahrheitsliebend bekannte Maenner nur durch eine Erpressung -. Weiter kam er natuerlich nicht. Als der Vorsitzende sich beruhigt hatte, fuhr Buck gelassen fort. Wolle man aber als erwiesen annehmen, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Aeusserung wirklich getan habe, so entfalle hier doch der Begriff der Strafbarkeit; denn der Zeuge Doktor Hessling habe offen eingestanden, dass er den Angeklagten mit Absicht und Vorbedacht provoziert habe. Es frage sich vielmehr, ob nicht eben der Zeuge Hessling, durch seine provokatorische Absicht, der eigentliche geistige Urheber einer strafbaren Handlung sei, die er mit der unwillkuerlichen Hilfe eines anderen und unter bewusster Ausnutzung seiner Erregung vollfuehrt habe. Der Verteidiger empfahl dem Herrn Staatsanwalt die naehere Beschaeftigung mit dem Zeugen Hessling. Hier wandten viele sich nach Diederich um, und ihm ward schwuel. Aber die wegwerfende Miene des Vorsitzenden ermutigte ihn wieder. Buck machte sein Organ milde und warm. Nein, er wolle nicht das Unglueck des Zeugen Hessling, den er als das Opfer eines weit Hoeheren betrachte. "Warum haeufen sich in diesen Zeiten die Anklagen wegen Majestaetsbeleidigung? Man wird sagen: infolge solcher Vorgaenge wie die Erschiessung des Arbeiters. Ich erwidere: nein; sondern dank den Reden, die diese Vorgaenge begleiten." Sprezius rueckte den Kopf, wetzte schon den Schnabel, zog sich aber noch zurueck. Buck liess sich nicht stoeren; er machte sein Organ maennlich und stark. "Drohungen und ueberspannte Ansprueche auf der einen Seite zeitigen Zurueckweisungen auf der anderen. Der Grundsatz: wer nicht fuer mich ist, ist wider mich, zieht eine grelle Grenze zwischen Byzantinern und Majestaetsbeleidigern." Da hackte Sprezius zu. "Herr Verteidiger, ich kann nicht dulden, dass Sie an Worten des Kaisers hier Kritik ueben. Wenn Sie damit fortfahren, wird das Gericht Sie in Ordnungsstrafe nehmen." "Ich fuege mich der Anordnung des Herrn Vorsitzenden", sagte Buck, und die Worte wurden in seinem Munde immer runder und gewichtiger. "Ich werde also nicht vom Fuersten sprechen, sondern vom Untertan, den er sich formt; nicht von Wilhelm dem Zweiten, sondern vom Zeugen Hessling. Sie haben ihn gesehen! Ein Durchschnittsmensch mit gewoehnlichem Verstand, abhaengig von Umgebung und Gelegenheit, mutlos, solange hier die Dinge schlecht fuer ihn standen, und von grossem Selbstbewusstsein, sobald sie sich gewendet hatten." Diederich auf seinem Platz schnaufte. Warum schuetzte Sprezius ihn nicht? Es waere seine Pflicht gewesen! Einen nationalgesinnten Mann liess er in oeffentlicher Sitzung veraechtlich machen - von wem? Vom Verteidiger, dem berufsmaessigen Vertreter der subversiven Tendenzen! Da war etwas faul im Staat!... Es begann in ihm zu kochen, wenn er Buck ansah. Das war der Feind, der Antipode; da gab es nur eins: zerschmettern! Diese beleidigende Menschlichkeit in Bucks dickem Profil! Man fuehlte seine herablassende Liebe zu den Worten, die er bildete, um Diederich zu kennzeichnen! "Wie er", sagte Buck, "waren zu jeder Zeit viele Tausende, die ihr Geschaeft versahen und eine politische Meinung hatten. Was hinzukommt und ihn zu einem neuen Typus macht, ist einzig die Geste: das Prahlerische des Auftretens, die Kampfstimmung einer vorgeblichen Persoenlichkeit, das Wirkenwollen um jeden Preis, waere er auch von anderen zu bezahlen. Die Andersdenkenden sollen Feinde der Nation heissen, und waeren sie zwei Drittel der Nation. Klasseninteressen, mag sein, aber umgelogen durch Romantik. Eine romantische Prostration vor einem Herrn, der seinem Untertan von seiner Macht das Noetige leihen soll, um die noch kleineren niederzuhalten. Und da es in Wirklichkeit und im Gesetz weder den Herrn noch den Untertan gibt, erhaelt das oeffentliche Leben einen Anstrich schlechten Komoediantentums. Die Gesinnung traegt Kostuem, Reden fallen, wie von Kreuzrittern, indes man Blech erzeugt oder Papier; und das Pappschwert wird gezogen fuer einen Begriff wie den der Majestaet, den doch kein Mensch mehr, ausser in Maerchenbuechern, ernsthaft erlebt. Majestaet ..." wiederholte Buck, das Wort durchschmeckend, und einige Hoerer schmeckten es mit. Die Leute vom Theater, denen es offenbar mehr auf die Worte als auf den Sinn ankam, legten die Hand an die Ohren und murmelten beifaellig. Den anderen sprach Buck zu gewaehlt, und dass er an keinen Dialekt anklang, befremdete. Aber Sprezius war im Sessel emporgestiegen, er kreischte beutegierig: "Herr Verteidiger, zum letzten Male fordere ich Sie auf, die Person des Monarchen nicht in die Debatte zu ziehen." Durch das Publikum lief eine Bewegung. Wie Buck den Mund wieder oeffnete, versuchte jemand zu klatschen, Sprezius hackte noch rechtzeitig zu. Es war eins der auffallenden Maedchen gewesen. "Erst der Herr Vorsitzende", sagte Buck, "hat die Person des Monarchen genannt. Aber, da sie nun genannt ist, darf ich, ohne Verlegenheit fuer das Gericht, feststellen, dass diese Person durch die Vollstaendigkeit, mit der sie im heute gegebenen Moment die Tendenzen des Landes ausdrueckt und darstellt, etwas fast Verehrungswuerdiges bekommt. Ich will den Kaiser - und der Herr Vorsitzende wird es nicht auf sich nehmen, mich zu unterbrechen - einen grossen Kuenstler nennen. Kann ich mehr tun? Wir alle kennen nichts Hoeheres ... Ebendarum sollte es nicht erlaubt sein, dass jeder mittelmaessige Zeitgenosse ihm nachaefft. Im Glanz des Thrones mag einer seine zweifellos einzige Persoenlichkeit spielen lassen, mag reden, ohne dass wir mehr von ihm erwarten als Reden, mag blitzen, blenden, den Hass imaginaerer Rebellen herausfordern und den Beifall eines Parterres, das seine buergerliche Wirklichkeit darueber nicht vergisst ..." Diederich erbebte; und alle hatten die Muender offen und gespannte Augen, als bewegte Buck sich auf einem Seil zwischen zwei Tuermen. Ob er stuerzte? Sprezius hielt den Schnabel gezueckt. Aber kein Zug von Ironie zeichnete die Miene des Verteidigers: es schwang sich etwas darin auf wie eine erbitterte Begeisterung. Ploetzlich liess er die Mundwinkel fallen, grau schien es um ihn her zu werden. "Aber ein Netziger Papierfabrikant?" fragte er. Er war nicht gestuerzt, er hatte wieder Boden unter den Fuessen! Nun sah alles sich nach Diederich um, und man laechelte sogar. Auch Emmi und Magda laechelten. Buck hatte seine Wirkung, und Diederich musste sich leider sagen, dass ihr gestriges Gespraech auf der Strasse hierfuer die Generalprobe gewesen sei. Er duckte sich unter dem offenen Hohn des Redners. "Die Papierfabrikanten neigen heute dazu, sich eine Rolle anzumassen, fuer die sie nicht fabriziert sind. Zischen wir sie aus! Sie haben kein Talent! Das aesthetische Niveau unseres oeffentlichen Lebens, das vom Auftreten Wilhelms des Zweiten eine so ruhmreiche Erhoehung erfahren hat, kann durch Kraefte wie den Zeugen Hessling nur verlieren ... Und mit dem Aesthetischen, meine Herren Richter, sinkt oder steigt das Moralische. Erlogene Ideale ziehen unlautere Sitten nach sich, dem politischen Schwindel folgt der buergerliche." Buck hatte sein Organ streng gemacht. Zum ersten Male erhob er es nun bis zum Pathos. "Denn, meine Herren Richter, ich beschraenke mich nicht auf die mechanistische Doktrin, die der Partei des sogenannten Umsturzes so teuer ist. Mehr Veraenderung als alle Wirtschaftsgesetze erzeugt in der Welt das Beispiel eines grossen Mannes. Und wehe, wenn es ein falsch verstandenes Beispiel war! Dann kann es geschehen, dass ueber das Land sich ein neuer Typus verbreitet, der in Haerte und Unterdrueckung nicht den traurigen Durchgang zu menschlicheren Zustaenden sieht, sondern den Sinn des Lebens selbst. Schwach und friedfertig von Natur, uebt er sich, eisern zu scheinen, weil in seiner Vorstellung Bismarck es war. Und mit unberechtigter Berufung auf einen noch Hoeheren wird er laermend und unsolide. Kein Zweifel: die Siege seiner Eitelkeit werden geschaeftlichen Zwecken dienen. Zuerst bringt die Komoedie seiner Gesinnung einen Majestaetsbeleidiger ins Gefaengnis. Spaeter findet sich, was daran zu verdienen ist. Meine Herren Richter!" Buck breitete die Arme aus, als solle seine Toga die Welt umfassen, er trug die gesammelte Miene eines Fuehrers. Und er legte los, mit allem, was er hatte. "Sie sind souveraen; und Ihre Souveraenitaet ist die erste und staerkste. In Ihrer Hand ist das Schicksal des einzelnen. Sie koennen ihn in das Leben schicken oder ihn sittlich toeten - was kein Fuerst kann. Die Norm aber der Individuen, die Sie gutheissen oder verwerfen, bildet ein Geschlecht. Und so haben Sie Macht ueber unsere Zukunft. Bei Ihnen liegt die unermessliche Verantwortung, ob kuenftig Maenner wie der Angeklagte die Gefaengnisse fuellen und Wesen wie der Zeuge Hessling der herrschende Teil der Nation sein sollen. Entscheiden Sie sich zwischen den beiden! Entscheiden Sie sich zwischen Streberei und mutiger Arbeit, zwischen Komoedie und Wahrheit! Zwischen einem, der, um selbst emporzukommen, Opfer verlangt, und dem anderen, der Opfer darbringt, damit Menschen es besser haben! Der Angeklagte hat getan, was erst wenige vermochten: er hat sich seines Herrentums begeben, hat denen, die unter ihm standen, gleiches Recht zugebilligt, Behagen und Hoffnungsfreude. Und jemand, der in seinem Naechsten so sehr sich selbst achtet, sollte faehig sein, von der Person des Kaisers mit Nichtachtung zu sprechen?" Die Hoerer atmeten. Mit neuen Gefuehlen blickte man auf den Angeklagten, der die Stirn in die Hand stuetzte, auf seine Frau, die starr vor sich hinsah. Mehrere schluchzten. Der Vorsitzende sogar hatte eine betretene Miene. Seine Lider klappten nicht mehr; mit runden Augen sass er da, als haette Buck ihn eingefangen. Der alte Kuehlemann nickte achtungsvoll, und an Jadassohn zeigten sich unwillkuerliche Zuckungen. Aber Buck missbrauchte seinen Erfolg, er liess sich berauschen. "Das Erwachen des Buergers!" rief er aus. "Die wahrhaft nationale Gesinnung! Die stille Tat eines Lauer tut mehr dafuer als hundert hallende Monologe selbst eines gekroenten Kuenstlers!" Sofort klappte Sprezius wieder; und man sah ihm an, er hatte sich besonnen, wie die Dinge eigentlich lagen, und versprach sich, nicht zum zweiten Male auf den Leim zu gehen. Jadassohn feixte; und im Saal fuehlten die meisten, der Verteidiger habe verspielt. Unter allgemeiner Unruhe liess der Vorsitzende ihn das Lob des Angeklagten beenden. Als Buck sich dann setzte, wollten die Schauspieler klatschen; aber Sprezius hackte nicht einmal mehr zu, er warf nur einen gelangweilten Blick hin und fragte, ob der Herr Staatsanwalt zu replizieren wuensche. Jadassohn verneinte geringschaetzig, und der Gerichtshof zog sich rasch zurueck. "Das Urteil wird bald gefunden sein", sagte Diederich mit Achselzucken - obwohl ihm von Bucks Rede noch arg beklommen war. "Gott sei Dank!" sagte die Schwiegermutter des Buergermeisters. "Man sollte nicht glauben, dass vor fuenf Minuten die Leute noch obenauf waren." Sie wies auf Lauer, der sich das Gesicht trocknete, und auf Buck, den wahrhaftig die Schauspieler beglueckwuenschten. Schon kehrten die Richter zurueck, und Sprezius verkuendete das Urteil: sechs Monate Gefaengnis - was allen die natuerlichste Loesung schien. Dazu war noch auf Verlust der vom Angeklagten bekleideten oeffentlichen Aemter erkannt worden. Der Vorsitzende begruendete das Urteil damit, dass eine beleidigende Absicht zum Tatbestande des Delikts nicht erforderlich sei. Daher tue auch die Frage, ob eine Provokation stattgefunden habe, nichts zur Sache. Im Gegenteil: dass der Angeklagte es gewagt habe, vor national gesinnten Zeugen so zu sprechen, falle erschwerend ins Gewicht. Die Behauptung des Angeklagten, dass er nicht den Kaiser gemeint habe, sei vom Gericht fuer hinfaellig befunden. "Den Hoerern der Rede musste sich - namentlich bei ihrer Parteistellung und der ihnen bekannten antimonarchischen Richtung des Angeklagten - die Ansicht aufdraengen, dass seine Aeusserung sich gegen den Kaiser richte. Wenn der Angeklagte vorgibt, dass er sich wohl gehuetet habe, eine Majestaetsbeleidigung zu begehen, so hat er eben nicht die Beleidigung selbst, sondern nur ihre strafrechtlichen Folgen vermeiden wollen." Dies leuchtete allen ein, man fand es von Lauer begreiflich, aber hinterlistig. Der Verurteilte ward sofort verhaftet; als man auch dies noch miterlebt hatte zerstreute man sich, unter Bemerkungen, die ihm nicht guenstig waren. Nun war es wohl aus mit Lauer, denn was sollte in dem halben Jahr, das er absitzen musste, aus seinem Geschaeft werden! Infolge des Urteils war er auch nicht mehr Stadtverordneter. Er konnte kuenftig weder nuetzen noch schaden! Dem Buckschen Kluengel, der so dick tat, war der Denkzettel zu goennen. Man sah sich nach der Frau des Straeflings um; aber sie war verschwunden. "Nicht einmal die Hand hat sie ihm gegeben! Nette Verhaeltnisse!" Aber in den Tagen, die folgten, geschahen Dinge, die zu noch herberen Urteilen noetigten. Judith Lauer hatte sofort ihre Koffer gepackt und war nach dem Sueden gereist. Nach dem Sueden! - indes ihr leiblicher Mann dort oben in der Vogtei sass, mit einer Wache unter seinem Gitterfenster. Und - ein auffallendes Zusammentreffen! Landgerichtsrat Fritzsche nahm ploetzlich Urlaub. Eine Karte von ihm aus Genua gelangte an Doktor Heuteufel, der sie umherzeigte: wahrscheinlich, um sein eigenes Benehmen in Vergessenheit zu bringen. Es waere kaum noch noetig gewesen, die Lauerschen Dienstboten und die armen verlassenen Kinder auszuforschen: man wusste Bescheid! Der Skandal war so gross, dass die "Netziger Zeitung" eingriff, mit einer an die oberen Zehntausend gerichteten Warnung, nicht den umstuerzlerischen Tendenzen durch Zuegellosigkeit entgegenzukommen. In einem zweiten Artikel legte Nothgroschen dar, dass man unrecht tue, Reformen, wie die in Lauers Betrieb eingefuehrten, besonders zu ruehmen. Denn was hatten die Arbeiter von der Beteiligung? Im Durchschnitt, nach Lauers eigenen Aufstellungen, noch nicht achtzig Mark im Jahr. Das konnte man ihnen auch in Form eines Weihnachtsgeschenkes zuwenden! Aber freilich, dann war es keine Demonstration mehr gegen die bestehende Gesellschaftsordnung! Dann hatte auch die vom Gericht festgestellte antimonarchische Gesinnung des Fabrikherrn nichts dabei zu gewinnen! Und wenn Herr Lauer auf den Dank der Arbeiter gezaehlt hatte, konnte er sich jetzt eines Besseren belehren: vorausgesetzt, so fuegte Nothgroschen hinzu, dass er im Gefaengnis das sozialdemokratische Blatt zu lesen bekam. Denn das warf ihm vor, dass er durch seine leichtsinnige Majestaetsbeleidigung mehrere hundert Arbeiterfamilien in ihrer Existenz gefaehrdet habe. Die "Netziger Zeitung" trug der veraenderten Lage noch in anderer, sehr bezeichnender Weise Rechnung. Ihr Direktor Tietz wandte sich an das Hesslingsche Werk wegen eines Teils der Papierlieferung. Die Auflage sei gestiegen und Gausenfeld zur Zeit ueberlastet. Diederich sagte sich sofort, dass dahinter der alte Kluesing selbst stecke. Er war beteiligt an der Zeitung, ohne ihn geschah dort nichts. Wenn der etwas aus der Hand liess, fuerchtete er offenbar, sonst noch mehr zu verlieren. Die Kreisblaetter! Die Lieferungen fuer die Regierung! Angst vor Wulckow, das war es. Dass Diederich durch seine Zeugenaussage den Praesidenten auf sich aufmerksam gemacht hatte, musste der Alte wohl erfahren haben - obwohl er kaum mehr in die Stadt kam. Die alte Papierspinne dort hinten in ihrem Netz, das ueber die Provinz und noch weiter gespannt war, witterte Gefahr und ward unruhig. "Er moechte mich abspeisen mit der 'Netziger Zeitung'! Aber so billig tun wir's nicht. In dieser harten Zeit! Hat er 'ne Ahnung von meiner Grosszuegigkeit. Wenn ich erst Wulckow hinter mir habe: - ich beerbe ihn einfach!" sagte Diederich laut, mit einem Schlag auf das Schreibpult, so dass Soetbier emporschrak. "Hueten Sie sich vor Aufregungen!" hoehnte Diederich. "In Ihren Jahren, Soetbier! Ich gebe zu, frueher haben Sie manches geleistet fuer die Firma. Aber die Geschichte mit dem Hollaender war schlimm; da haben Sie mich entmutigt, und jetzt haette ich ihn noetig fuer die 'Netziger Zeitung'. Sie sollten sich ausruhen, es gelingt nichts mehr." Zu den Folgen, die der Prozess fuer Diederich hatte, gehoerte auch ein Brief des Majors Kunze. Dieser wuenschte ein bedauerliches Missverstaendnis aufzuklaeren und teilte mit, dass der Aufnahme des hochverdienten Herrn Doktors in den Kriegerverein nichts mehr im Wege stehe. Diederich, geruehrt durch seinen Triumph, haette am liebsten gleich die beiden Haende des alten Soldaten ergriffen. Gluecklicherweise erkundigte er sich und erfuhr, dass der Brief auf Herrn von Wulckow selbst zurueckzufuehren war! Der Regierungspraesident hatte den Kriegerverein mit seinem Besuch beehrt und sich gewundert, den Doktor Hessling nicht dort zu finden. Da ward Diederich es inne, was fuer eine Macht er war. Er handelte demgemaess. Er antwortete auf die private Eroeffnung des Majors durch ein offizielles Schreiben an den Verein und forderte den persoenlichen Besuch von zwei Mitgliedern des Vorstandes, der Herren Major Kunze und Professor Kuehnchen. Sie kamen auch; Diederich empfing sie, zwischen Geschaeftsbesuchen, die er absichtlich auf diese Stunde gelegt hatte, in seinem Bureau und diktierte ihnen die Adresse, von deren Ueberreichung er die Annahme ihres ehrenvollen Antrags abhaengig machte. Darin liess er sich bestaetigen, dass er, mit glaenzender Unerschrockenheit allen Verleumdungen trotzend, seine treudeutsche und kaisertreue Gesinnung bewaehrt habe. Durch sein Eingreifen sei es gelungen, den vaterlandslosen Elementen Netzigs eine empfindliche Schlappe beizubringen. Aus einem unter den groessten persoenlichen Opfern gefuehrten Kampf sei Diederich als lauterer, echt deutscher Charakter hervorgegangen. Bei der Feier seiner Aufnahme verlas Kunze die Adresse, und Diederich, Traenen in der Stimme, bekannte sich unwuerdig, so viel Lob entgegenzunehmen. Wenn in Netzig die nationale Sache Fortschritte mache, so sei dies, naechst Gott, einem Hoeheren zu danken, dessen erhabene Weisungen er seinerseits in freudigem Gehorsam ausfuehre ... Alle, auch Kunze und Kuehnchen, waren bewegt. Es war ein grosser Abend. Diederich stiftete einen Pokal - und er hielt eine Rede, worin er die Schwierigkeiten beruehrte, denen die neue Militaervorlage im Reichstage begegnete. "Einzig unser scharfes Schwert", rief Diederich aus, "sichert unsere Stellung in der Welt, und es scharf zu erhalten, ist der Beruf Seiner Majestaet des Kaisers! Wenn der Kaiser ruft, wird es herausfliegen aus der Scheide! Die Gesellschaft im Reichstag, die da was dreinreden will, mag sich hueten, dass es sie nicht zuerst trifft! Mit Seiner Majestaet ist nicht zu spassen, meine Herren, das kann ich Ihnen nur sagen." Diederich blitzte, und er nickte schwerwiegend, als wuesste er manches. Im selben Augenblick kam ihm wirklich ein Einfall. "Neulich auf dem Brandenburgischen Provinziallandtag hat der Kaiser dem Reichstag den Standpunkt klargemacht. Er hat gesagt: 'Wenn die Kerls mir meine Soldaten nicht bewilligen, raeum' ich die ganze Bude aus!'" - Das Wort erregte Begeisterung; und als Diederich allen, die ihm zutranken, nachgekommen war, haette er nicht mehr sagen koennen, ob es von ihm selbst war oder nicht doch vom Kaiser. Schauer der Macht stroemten aus dem Wort auf ihn ein, als waere es echt gewesen ... Tags darauf stand es in der "Netziger Zeitung" und schon am Abend im "Lokal-Anzeiger". Schlechtgesinnte Blaetter verlangten ein Dementi, aber es blieb aus. V. Noch schwellten solche Hochgefuehle Diederichs Brust, da bekamen Emmi und Magda eine Einladung von Frau von Wulckow, nachmittags zum Tee. Es konnte nur wegen des Stueckes sein, das die Regierungspraesidentin beim naechsten Fest der "Harmonie" auffuehren liess. Emmi und Magda sollten Rollen bekommen. Freudegeroetet kehrten sie heim: Frau von Wulckow war ueberaus gnaedig gewesen; eigenhaendig hatte sie ihnen immer wieder Kuchen auf den Teller gelegt. Inge Tietz mochte platzen. Offiziere spielten mit! Man brauchte besondere Toiletten; wenn Diederich vielleicht glaubte, dass sie mit ihren fuenfzig Mark -. Aber Diederich eroeffnete ihnen einen unbegrenzten Kredit. Nichts von dem, was sie kauften, fand er schoen genug. Das Wohnzimmer lag voll von Baendern und kuenstlichen Blumen, die Maedchen verloren den Kopf, weil Diederich ihnen dreinredete: da kam Besuch, Guste Daimchen. "Ich habe doch der gluecklichen Braut noch gar nicht richtig gratuliert", sagte sie und versuchte goennerhaft zu laecheln; aber ihre Augen gingen besorgt ueber die Baender und Blumen. "Das ist wohl auch fuer das dumme Stueck?" fragte sie. "Wolfgang hat davon gehoert, er sagt, es ist unerhoert dumm." Magda erwiderte: "Dir muss er es doch sagen, weil du nicht mitspielst." Und Diederich erklaerte: "Damit entschuldigt er sich dafuer, dass Sie seinetwegen bei Wulckows nicht eingeladen werden." Guste lachte geringschaetzig. "Auf Wulckows verzichten wir, aber zum Harmonieball gehen wir gerade." Diederich fragte: "Wollen Sie den ersten Eindruck des Prozesses nicht lieber voruebergehen lassen?" Er sah sie teilnehmend an. "Liebes Fraeulein Guste, wir sind so alte Bekannte, ich darf Sie wohl darauf hinweisen, dass Ihre Verbindung mit den Bucks Ihnen jetzt in der Gesellschaft nicht gerade nuetzt." - Guste zuckte mit den Augen, man sah, sie hatte sich das schon selbst gedacht. Magda bemerkte: "Gott sei Dank, mit meinem Kienast ist es nicht so." Worauf Emmi: "Aber Herr Buck ist interessanter. Neulich bei seiner Rede hab' ich geweint, wie im Theater." - "Und ueberhaupt!" rief Guste ermutigt. "Erst gestern hat er mir diese Tasche geschenkt." Sie hielt den vergoldeten Sack empor, nach dem Emmi und Magda schon lange schielten. Magda sagte spitz: "Er hat wohl viel verdient mit der Verteidigung. Kienast und ich, wir sind fuer Sparsamkeit." Aber Guste hatte ihre Genugtuung gehabt. "Dann will ich auch nicht laenger stoeren", sagte sie. Diederich begleitete sie hinunter. "Ich bringe Sie nach Haus, wenn Sie artig sind," sagte er, "aber vorher muss ich noch einen Blick in die Fabrik tun. Gleich wird Schicht gemacht." - "Ich kann ja mitgehen", meinte Guste. Um ihr zu imponieren, fuehrte er sie geradeswegs zu der grossen Papiermaschine. "So was haben Sie wohl noch nicht gesehen?" Und mit Wichtigkeit erlaeuterte er ihr das System von Bassins, Walzen und Zylindern, worueber hin, durch die ganze Laenge des Saales, die Masse floss: zuerst waesserig, dann immer trockener - und am Ende der Maschine lief auf grossen Rollen das fertige Papier ... Guste schuettelte den Kopf. "Nein so was! Und der Krach, den sie macht! Und die Hitze hier!" Diederich, mit seiner Wirkung noch nicht zufrieden, fand einen Grund, um die Arbeiter anzudonnern; und wie Napoleon Fischer dazukam, war nur er schuld! Beide schrien gegen den Laerm der Maschine an, Guste verstand nichts; aber Diederichs geheime Angst sah in dem duennen Bart des Maschinenmeisters immer das gewisse Grinsen, das an seine Mitwisserschaft in der Angelegenheit des Hollaenders erinnerte und die offene Verleugnung jeder Autoritaet war. Je heftiger Diederich sich gebaerdete, desto ruhiger ward der andere. Diese Ruhe war Aufruhr! Schnaufend und bebend oeffnete Diederich die Tuer zum Packraum und liess Guste eintreten. "Der Mann ist Sozialdemokrat!" erklaerte er. "So ein Kerl waere imstande, hier Feuer zu legen. Aber ich entlass' ihn nicht: nun gerade nicht! Wollen sehen, wer der Staerkere ist. Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich!" Und da Guste ihn bewundernd ansah: "Das haetten Sie wohl nicht gedacht, auf was fuer einem gefahrvollen Posten unsereiner steht. Furchtlos und treu, ist mein Wahlspruch. Sehen Sie, ich verteidige hier unsere heiligsten nationalen Gueter geradeso gut wie unser Kaiser. Dazu gehoert mehr Mut, als wenn einer vor Gericht schoene Reden haelt." Guste sah es ein, sie hatte eine andaechtige Miene. "Hier ist es kuehler," bemerkte sie, "wenn man aus der Hoelle nebenan kommt. Die Frauen hier koennen froh sein." - "Die?" erwiderte Diederich. "Die haben es wie im Paradies!" Er fuehrte Guste zu dem Tisch: eine der Frauen sortierte die Bogen, eine zweite pruefte nach, und die dritte zaehlte immerfort bis fuenfhundert. Alles ging mit unerklaerlicher Schnelligkeit; die Bogen flogen ununterbrochen einander nach, wie von selbst und ohne Widerstand gegen die arbeitenden Haende, die im endlos ueber sie hingehenden Papier sich aufzuloesen schienen: Haende und Arme, die Frau selbst, ihre Augen, ihr Gehirn, ihr Herz. Das alles war da und lebte, damit die Bogen flogen ... Guste gaehnte - indes Diederich erklaerte, dass diese Weiber, die im Akkord arbeiteten, sich schaendliche Nachlaessigkeiten zuschulden kommen liessen. Er wollte schon dazwischenfahren, weil ein Bogen mitflog, woran eine Ecke fehlte. Aber Guste sagte ploetzlich mit einer Art von Trotz: "Sie brauchen sich uebrigens nicht einzubilden, dass Kaethchen Zillich sich fuer Sie besonders interessiert ... Wenigstens nicht mehr als fuer gewisse andere Leute", setzte sie hinzu; und auf seine verwirrte Frage, was sie denn meine, laechelte sie bloss anzueglich. "Ich muss Sie doch bitten", wiederholte er. Darauf nahm Guste ihre goennerhafte Miene an. "Ich sage es nur zu Ihrem Besten. Denn Sie scheinen nichts zu merken? Mit Assessor Jadassohn zum Beispiel? Aber Kaethchen ist ueberhaupt so eine." Jetzt lachte Guste laut, so begossen sah Diederich aus. Sie ging weiter, und er folgte. "Mit Jadassohn?" forschte er angstvoll. Da hoerte der Laerm der Maschine auf, die Glocke ging, die den Schluss der Arbeit anzeigte, und ueber den Hof entfernten sich schon Arbeiter. Diederich zuckte die Achseln. "Was Fraeulein Zillich macht, laesst mich kalt", erklaerte er. "Hoechstens um den alten Pastor tut es mir leid, wenn sie wirklich so eine ist. Wissen Sie das denn genauer?" Guste sah weg. "Ueberzeugen Sie sich doch selbst!" Worauf Diederich geschmeichelt lachte. "Lassen Sie das Gas brennen!" rief er dem Maschinenmeister zu, der vorbeiging. "Ich drehe selbst ab." Gerade ward der Lumpensaal weit geoeffnet fuer die Fortgehenden. "Oh!" rief Guste, "dort drinnen ist es aber romantisch!" Denn sie erblickte dahinten in der Daemmerung lauter bunte Flecken aus grauen Huegeln und darueber einen Wald von Aesten. "Ach", sagte sie im Naehertreten. "Ich dachte, weil es hier schon so dunkel ist ... Das sind ja bloss Lumpensaecke und Heizungsrohre." Und sie verzog das Gesicht. Diederich jagte die Arbeiterinnen empor, die trotz der Betriebsordnung sich auf den Saecken ausruhten. Mehrere, kaum, dass die Arbeit fortgelegt war, strickten schon, andere assen. "Das koennte euch passen", schnaubte er. "Waerme schinden auf meine Kosten! Raus!" Sie standen langsam auf, ohne ein Wort, ohne Widerstand in der Miene; und vorbei an der fremden Dame, nach der alle dumpf neugierig den Kopf wandten, trabten sie in ihren Maennerschuhen hinaus, schwerfaellig wie eine Herde und umgeben von dem Dunst, worin sie lebten. Diederich behielt jede scharf im Auge, bis sie draussen war. "Fischer!" schrie er ploetzlich. "Was hat die Dicke da unterm Tuch?" Der Maschinenmeister erklaerte mit seinem zweideutigen Grinsen: "Das ist nur, weil sie was erwartet", - worauf Diederich unzufrieden den Ruecken wandte. Er belehrte Guste. "Ich glaubte, ich haette eine erwischt. Sie stehlen naemlich Lumpen. Jawohl. Sie machen Kinderkleider draus." Und da Guste die Nase ruempfte: "Das ist doch zu gut fuer die Proletenkinder!" Mit den Spitzen ihrer Handschuhe hob Guste einen der Fetzen vom Boden. Ploetzlich hatte Diederich ihr Handgelenk gefangen und kuesste es gierig, im Spalt des Handschuhs. Erschreckt sah sie sich um. "Ach so, alle Leute sind schon fort." Sie lachte selbstsicher. "Ich hab' mir doch gleich gedacht, was Sie jetzt noch in der Fabrik zu tun haben." Diederich machte ein herausforderndes Gesicht. "Na und Sie? Warum sind Sie ueberhaupt gekommen heute? Sie haben wohl gemerkt, dass ich doch nicht so ohne bin? Freilich Ihr Wolfgang -. Jeder kann sich nicht so blamieren wie er, neulich vor Gericht." Darauf sagte Guste entruestet: "Seien Sie nur ganz still, Sie werden doch nie so ein feiner Mann wie er." Aber ihre Augen sagten etwas anderes. Diederich sah es; erregt lachte er auf. "Wie der es eilig hat mit Ihnen! Wissen Sie auch, wofuer er Sie ansieht? Fuer einen Kochtopf mit Wurst und Kohl, und ich soll ihn umruehren!" - "Jetzt luegen Sie", sagte Guste vernichtend; aber Diederich war im Zuge. "Ihm ist naemlich nicht genug Wurst und Kohl drin. - Anfangs hat er natuerlich auch gedacht, Sie haetten eine Million geerbt. Aber fuer fuenfzigtausend Mark ist solch ein feiner Mann nicht zu haben." Da kochte Guste auf. Diederich fuhr zurueck, so gefaehrlich sah es aus. "Fuenfzigtausend! Ihnen ist gewiss nicht wohl? Wie komme ich dazu, dass ich mir das muss sagen lassen! Wo ich bare dreihundertfuenfzigtausend auf der Bank zu liegen hab', in richtiggehenden Papieren! Fuenfzigtausend! Wer so etwas Ehrenruehriges von mir herumerzaehlt, den kann ich ueberhaupt belangen!" Sie hatte Traenen in den Augen; Diederich stammelte Entschuldigungen. "Lassen Sie nur" - und Guste benutzte ihr Taschentuch. "Wolfgang weiss genau, woran er bei mir ist. Aber Sie selbst, Sie haben den Schwindel geglaubt. Darum waren Sie auch so frech!" rief sie. Ihre rosigen Fettpolster zitterten vor Zorn, und die kleine eingedrueckte Nase war ganz weiss geworden. Er sammelte sich. "Daran sehen Sie doch, dass Sie mir auch ohne Geld gefallen", gab er zu bedenken. Sie biss sich auf die Lippen. "Wer weiss", sagte sie mit einem Blick von unten, schmollend und unsicher. "Fuer Leute, wie Sie, sind fuenfzigtausend auch schon Geld." Er hielt es fuer angezeigt, eine Pause zu machen. Sie zog aus ihrem goldenen Beutel den Puderquast, und sie setzte sich. "Ich bin wirklich ganz echauffiert von Ihrem Betragen!" Aber sie lachte wieder. "Haben Sie mir vielleicht sonst noch etwas zu zeigen in Ihrer sogenannten Fabrik?" Er nickte bedeutsam. "Wissen Sie wohl, wo Sie jetzt sitzen?" - "Na, auf einem Lumpensack." - "Aber auf was fuer einem! In dieser Ecke, hinter den Saecken hier hab' ich mal einen Arbeiter und ein Maedchen ertappt, wie sie gerade: Sie verstehen. Natuerlich sind beide geflogen; und am Abend, jawohl, am selben Abend -" er hob den Zeigefinger, in seinen Augen entstand ein Schauder hoeherer Dinge - "haben sie den Kerl totgeschossen, und das Maedchen ist verrueckt geworden." Guste sprang auf. "War das -? Ach Gott, das war der Arbeiter, der den Wachtposten gereizt hat ...? Also hinter den Saecken haben sie -?" Ihre Augen gingen ueber die Saecke, als suchte sie Blut darauf. Sie hatte sich nahe zu Diederich gefluechtet. Ploetzlich sahen sie einander in die Augen: darin bewegten sich die gleichen abgruendigen Schauder, des Lasters oder des Uebersinnlichen. Sie atmeten hoerbar einander an. Guste schloss, eine Sekunde lang, die Lider: da plumpsten sie auch schon beide auf die Saecke, rollten, ineinander verwickelt, hinab und durch den dunkeln Raum dahinter, schlugen um sich, keuchten und prusteten, als seien sie dort unten am Ertrinken. Guste zuerst erreichte wieder das Licht. Den Fuss, an dem er sie festhalten wollte, stiess sie ihm ins Gesicht und sprang heraus, dass es krachte. Als Diederich sich gluecklich ihr nachgearbeitet hatte, standen sie da und schnauften. Gustes Busen, Diederichs Bauch gingen beide im Sturm. Sie erlangte vor ihm die Sprache zurueck. "Das muessen Sie mit 'ner andern versuchen! Wie komm' ich ueberhaupt dazu!" Immer erbitterter: "Ich hab' Ihnen doch gesagt, dass es dreihundertfuenfzigtausend sind!" Diederich bewegte die Hand, um auszudruecken, dass er seinen Missgriff zugebe. Aber Guste schrie auf: "Und wie ich aussehe! Soll ich so vielleicht durch die Stadt gehen?" Er erschrak aufs neue und lachte ratlos. Sie stampfte auf. "Haben Sie denn keine Buerste?" Gehorsam machte er sich auf den Weg; Guste rief ihm nach: "Dass gefaelligst Ihre Schwestern nichts merken! Sonst reden morgen die Leute von mir!" Er ging nur bis an das Kontor. Wie er zurueckkehrte, sass Guste wieder auf dem Sack, das Gesicht in den Haenden, und durch ihre lieben, dicken Finger rannen Traenen. Diederich blieb stehen, hoerte ihrem Wimmern zu, und auf einmal begann er auch zu weinen. Mit troestender Hand buerstete er sie ab. "Es ist doch nichts geschehen", wiederholte er. Guste stand auf. "Das waere auch noch schoener", - und sie musterte ihn mit Ironie. Da fasste auch Diederich Mut. "Ihr Herr Braeutigam braucht es ja nicht zu wissen", bemerkte er. Und Guste: "Wenn schon!" - wobei sie sich auf die Lippen biss. Betroffen durch dies Wort buerstete er schweigend weiter, zuerst sie, dann sich, indes Guste ihre Kleider glaettete. "Nun los!" sagte sie. "Eine Papierfabrik sehe ich mir so bald nicht wieder an." Er spaehte ihr unter den Hut. "Wer weiss", sagte er. "Denn dass Sie Ihren Buck lieben, das glaub' ich Ihnen seit fuenf Minuten nicht mehr." Schnell rief Guste: "O doch!" Und ohne Pause fragte sie: "Was bedeutet denn das Zeug hier?" Er erklaerte: "Das ist der Sandfang, durch die Rinne schwemmen wir die Lumpen; Knoepfe und so weiter bleiben zurueck, wie Sie sehen. Die Leute haben natuerlich wieder nicht aufgeraeumt." Mit der Schirmspitze stocherte sie in dem Haufen; er setzte hinzu: "Im Jahr behalten wir mehrere Saecke Ueberbleibsel!" - "Und was ist das da?" fragte Guste und griff rasch hin, nach etwas, das glaenzte. Diederich riss die Augen auf. "Ein Brillantknopf!" Sie liess ihn funkeln. "Echt sogar! Wenn Sie oefter so was finden, ist Ihr Geschaeft nicht so uebel." Diederich sagte zweifelnd: "Den muss ich natuerlich abliefern." Sie lachte. "An wen denn? Die Abfaelle gehoeren doch Ihnen!" Er lachte auch. "Na, nicht gerade die Brillanten. Wir werden schon noch ausfindig machen, wer uns das geliefert hat." Guste sah ihn von unten an. "Sie sind schoen dumm", sagte sie. Er erwiderte mit Ueberzeugung: "Nein! Sondern ich bin ein Ehrenmann!" Darauf hob sie nur die Schultern. Langsam zog sie den linken Handschuh aus und legte sich den Brillanten auf den kleinen Finger. "Er muss als Ring gefasst werden!" rief sie aus, wie erleuchtet, betrachtete versunken ihre Hand und seufzte. "Na, sollen ihn andere Leute finden!" - und unvermutet warf sie den Knopf zurueck in die Lumpen. "Sind Sie verrueckt?" Diederich bueckte sich, sah ihn nicht gleich und liess sich schnaufend auf die Knie. In der Hast warf er alles durcheinander. "Gott sei Dank!" Er hielt ihr den Brillanten hin; aber Guste nahm ihn nicht. "Ich goenne ihn dem Arbeiter, der ihn morgen zuerst sieht. Der steckt ihn ein, darauf koennen Sie sich verlassen, der ist nicht so dumm." - "Ich auch nicht", erklaerte Diederich. "Denn wahrscheinlich waere der Stein doch weggeworfen worden. Unter solchen Umstaenden brauche ich es nicht fuer inkorrekt zu halten -." Er legte den Brillanten wieder auf ihren Finger. "Und wenn es auch inkorrekt waere, er steht Ihnen so gut." Guste sagte ueberrascht: "Wieso? Wollen Sie ihn mir denn schenken?" Er stammelte: "Sie haben ihn ja gefunden, da muss ich wohl." Da jubelte Guste. "Das wird mein schoenster Ring!" - "Warum?" fragte Diederich, voll banger Hoffnung. Guste sagte ausweichend: "Ueberhaupt ..." Und mit einem ploetzlichen Blick: "Weil er nichts kostet, wissen Sie." Hierueber erroetete Diederich, und sie sahen einander blinzelnd in die Augen. "Ach Herr Gott!" rief Guste ploetzlich. "Es muss schrecklich spaet sein. Schon sieben? Was sag' ich nur meiner Mutter?... Ich weiss, ich sag' ihr, ich hab' bei einem Troedler den Brillanten entdeckt, und er hat gedacht, er ist unecht, und hat bloss fuenfzig Pfennig verlangt!" Sie oeffnete ihren goldenen Sack und liess den Knopf hineinfallen. "Also adieu ... Aber Sie sehen aus! Wenigstens muessen Sie sich die Krawatte binden." Im Sprechen tat sie es schon selbst. Er fuehlte ihre warmen Haende unter seinem Kinn; ihre feuchten, dicken Lippen bewegten sich ganz nahe. Ihm ward heiss, er hielt den Atem zurueck. "So", machte Guste und brach ernstlich auf. "Ich drehe nur das Gas ab", rief er ihr nach. "Warten Sie doch!" - "Ich warte schon", antwortete sie von draussen; - aber als er auf den Hof trat, war sie fort. Verdutzt sperrte er die Fabrik zu und redete laut dabei vor sich hin. "Nun sag' mir einer, ist das Instinkt oder Berechnung?" Er schuettelte sorgenvoll den Kopf ueber das ewige Raetsel der Weiblichkeit, das in Guste verkoerpert war. Vielleicht, so sagte sich Diederich, ging es vorwaerts mit Guste, freilich ging es langsam. Die Ereignisse, die sich um den Prozess gruppierten, hatten ihr Eindruck gemacht, aber noch nicht genug. Auch hoerte er nichts mehr von Wulckow. Nach dem so viel versprechenden Schritt des Regierungspraesidenten beim Kriegerverein wartete Diederich unbedingt auf weiteres: eine Heranziehung, eine vertrauliche Verwendung, er wusste nicht wie und was. Der Harmonieball konnte es bringen; warum hatten sonst die Schwestern Rollen bekommen im Stueck der Praesidentin. Nur dauerte alles zu lange fuer Diederichs Tatenlust. Es war eine Zeit voll Unruhe und Drang. Man quoll ueber von Hoffnungen, Aussichten, Plaenen; in jeden Tag, der anfing, haette man das alles auf einmal ergiessen wollen; und wenn er aus war, war er leer geblieben. Ein Trieb nach Bewegung erfasste Diederich. Mehrmals versaeumte er den Stammtisch und ging spazieren, ohne Ziel und ins Freie, was sonst nicht vorkam. Er kehrte dem Mittelpunkt der Stadt den Ruecken, stapfte mit dem Schritt eines von Tatkraft schweren Mannes die abendlich leere Meisestrasse zu Ende, durchmass die lange Gaebbelchenstrasse, mit den vorstaedtischen Gasthaeusern, bei denen Fuhrleute ein- oder ausspannten, und kam auch unter der Vogtei vorbei. Dort oben sass, bewacht von einem Gitterfenster und einem Soldaten, der Herr Lauer, der sich dies nicht hatte traeumen lassen. "Hochmut kommt vor dem Fall", dachte Diederich. "Wie man sich bettet, so liegt man." Und obwohl er den Ereignissen, die den Fabrikbesitzer in die Vogtei gefuehrt hatten, nicht ganz fremd war, schien Lauer ihm jetzt ein Wesen mit einem Kainsmal, ein unheimlicher Gesell. Einmal glaubte er im Hof des Gefaengnisses eine Gestalt zu bemerken. Es war schon zu dunkel, aber vielleicht -? Ein Gruseln ueberlief Diederich, und er enteilte. Hinter dem Burgtor fuehrte die Landstrasse zu dem Huegel mit der Schweinichenburg, wo einst der kleine Diederich gemeinsam mit Frau Hessling das Grausen vor dem Burggespenst genossen hatte. Solche Kindereien lagen ihm jetzt fern; - vielmehr bog er jedesmal, bald hinter dem Tor, in die Gausenfelder Strasse ein. Er hatte es sich nicht vorgenommen und tat es nur zoegernd, denn es waere ihm nicht lieb gewesen, wenn jemand ihn auf diesem Wege ueberrascht haette. Aber es liess ihn nicht: die grosse Papierfabrik zog ihn an wie ein verbotenes Paradies, er musste ihr auf einige Schritte nahekommen, sie umkreisen, ueber ihre Mauer schnueffeln ... Eines Abends ward Diederich aus dieser Taetigkeit aufgeschreckt durch Stimmen, die im Dunkeln schon ganz nahe waren. Kaum dass er noch Zeit behielt, sich in den Graben zu kauern. Und waehrend die Leute, wahrscheinlich Angestellte der Fabrik, die sich verspaetet hatten, an seinem Versteck vorueberkamen, drueckte Diederich die Augen zu, aus Furcht, und auch weil er fuehlte, ihr begehrliches Funkeln haette ihn verraten koennen. Als er schon wieder beim Burgtor war, hatte er noch immer Herzklopfen und sah sich nach einem Glas Bier um. Gleich im Winkel des Tores stand der "Gruene Engel", eins der niedersten Gasthaeuser, krumm vor Alter, schmutzig und uebel beleumdet. Soeben verschwand in dem gewoelbten Gang eine Frauensperson. Diederich, von jaeher Abenteuerlust gepackt, drang hinterdrein. Wie sie das roetliche Licht einer Stallaterne durchschreiten musste, wollte die Person ihr Gesicht, das verschleiert war, auch noch mit dem Muff bedecken; aber Diederich hatte sie schon erkannt. "Guten Abend, Fraeulein Zillich!" - "Guten Abend, Herr Doktor!" Und da standen sie beide mit offenem Munde. Kaethchen Zillich war die erste, die etwas hervorbrachte, von Kindern, die hier im Hause wohnten, und die sie in die Sonntagsschule ihres Vaters bringen sollte. Diederich setzte zum Sprechen an, aber sie redete weiter, immer hastiger. Nein, die Kinder wohnten eigentlich nicht hier, aber ihre Eltern verkehrten in der Schenke, und die Eltern durften nichts wissen von der Sonntagsschule, denn sie waren Sozialdemokraten ... Sie faselte; und Diederich, der zuerst nur an sein eigenes schlechtes Gewissen gedacht hatte, ward darauf hingewiesen, dass Kaethchen in einer noch viel verdaechtigeren Lage sei. Er ersparte es sich also, seine Anwesenheit im "Gruenen Engel" zu erklaeren, und schlug einfach vor, dann koenne man in der Gaststube auf die Kinder warten. Kaethchen weigerte sich angstvoll, irgend etwas zu verzehren, aber Diederich bestellte aus eigener Machtvollkommenheit auch fuer sie Bier. "Prost!" sagte er, und in seiner Miene lag die ironische Erinnerung daran, dass sie bei ihrer letzten Zusammenkunft im traulichen Wohnzimmer des Pfarrhauses sich beinahe verlobt haetten. Kaethchen ward unter ihrem Schleier rot und blass und verschuettete ihr Bier. Immerfort flatterte sie kraftlos vom Stuhl auf und wollte fort; aber Diederich hatte sie hinter den Tisch in die Ecke geschoben und sass breit davor. "Nun muessen die Kinder aber gleich kommen!" sagte er gutmuetig. Statt ihrer kam Jadassohn: ploetzlich stand er da und sah versteinert aus. Auch die beiden anderen regten sich nicht. "Also doch!" dachte Diederich. Jadassohn schien etwas Aehnliches zu denken; keiner der Herren fand Worte. Kaethchen begann wieder von Kindern und Sonntagsschulen. Sie sprach flehend und weinte fast. Jadassohn hoerte ihr mit Missbilligung zu, er liess sogar die Bemerkung fallen, gewisse Geschichten seien ihm zu verwickelt, - und er blickte inquisitorisch auf Diederich. "Im Grunde", versetzte Diederich, "ist es doch einfach. Fraeulein Zillich sucht hier nach Kindern, und wir beide helfen ihr." "Ob sie eins kriegt, kann man nicht wissen", ergaenzte Jadassohn schneidend; da sagte Kaethchen: "Und von wem auch nicht." Die Herren setzten die Glaeser hin. Kaethchen hatte es aufgegeben zu weinen, sie schob sogar den Schleier hinauf und sah mit merkwuerdig hellen Augen von einem zum andern. Ihre Stimme hatte etwas Offenes, Unverbluemtes bekommen. "Na ja, wenn Sie nun doch mal beide da sind", setzte sie hinzu, indes sie aus Jadassohns Dose eine Zigarette nahm; und dann leerte sie auf einen Zug den Kognak, der vor Diederich stand. Jetzt war es an Diederich, nach Fassung zu ringen. Jadassohn schien nicht unbekannt mit Kaethchens anderem Gesicht. Die beiden fuhren fort, Doppelsinnigkeiten auszutauschen, bis Diederich sich gegen Kaethchen entruestete. "Heute lernt man Sie aber gruendlich kennen!" rief er und schlug auf den Tisch. Sofort hatte Kaethchen ihr Damengesicht zurueck. "Was meinen Sie eigentlich, Herr Doktor?" Jadassohn ergaenzte: "Ich nehme an, dass Sie der Ehre der Dame nicht zu nahe treten wollen!" - "Ich meine nur," stammelte Diederich, "so gefaellt Fraeulein Zillich mir viel besser." Er rollte die Augen vor Ratlosigkeit. "Neulich, wie wir uns beinahe verlobt haetten, hat sie mir nicht halb so gefallen." Da lachte Kaethchen los: ein Gelaechter, ganz frei aus dem Herzen, wie Diederich es auch noch nicht kannte. Ihm ward warm dabei, er lachte mit, Jadassohn auch, alle drei waelzten sich lachend auf ihren Stuehlen umher und riefen nach mehr Kognak. "Nun muss ich aber gehen," sagte Kaethchen, "sonst kommt Papa vor mir nach Haus. Er hat Krankenbesuche gemacht; dabei verteilt er immer solche Bilder." Sie zog zwei bunte Bildchen aus ihrer ledernen Tasche. "Da haben Sie auch welche." Jadassohn bekam die Suenderin Magdalena, Diederich das Lamm mit dem Hirten; er war nicht zufrieden. "Ich will auch eine Suenderin." Kaethchen suchte, fand aber keine mehr. "Also bleibt es bei dem Schaf", entschied sie, und man zog ab, Kaethchen in der Mitte eingehaengt. Ruckweise und in weitem Bogen schwenkten alle drei sich durch die schlecht beleuchtete Gaebbelchenstrasse dahin, wobei sie ein Kirchenlied sangen, das Kaethchen angestimmt hatte. An einer Ecke erklaerte sie, eilen zu muessen, und verschwand in der Seitengasse. "Adieu Schaf!" rief sie Diederich zu, der ihr vergeblich nachstrebte. Jadassohn hielt ihn fest, und ploetzlich nahm er seine staatserhaltende Stimme an, um Diederich zu ueberzeugen, dass dies alles nur ein zufaelliger Scherz sei. "Es liegt durchaus nichts Missverstaendliches vor, das moechte ich feststellen." "Ich denke nicht daran, hier etwas misszuverstehen", sagte Diederich. "Und wenn ich", fuhr Jadassohn fort, "den Vorzug haette, von der Familie Zillich fuer eine naehere Verbindung in Aussicht genommen zu sein, dieser Vorfall wuerde mich keineswegs abhalten. Ich folge nur einer Ehrenpflicht, wenn ich dies ausspreche." Diederich erwiderte: "Ich weiss Ihr korrektes Verhalten voll und ganz zu wuerdigen." Darauf schlugen die Herren die Absaetze zusammen, schuettelten einander die Haende und trennten sich. Kaethchen und Jadassohn hatten beim Abschied ein Zeichen ausgetauscht; Diederich war ueberzeugt, sie wuerden sich gleich jetzt wieder im "Gruenen Engel" zusammenfinden. Er oeffnete den Winterrock, ein Hochgefuehl schwellte ihn, weil er eine boesartige Falle aufgedeckt und sich streng kommentmaessig aus der Sache gezogen hatte. Er empfand eine gewisse Achtung und Sympathie fuer Jadassohn. Auch er selbst wuerde so gehandelt haben! Unter Maennern verstaendigte man sich. Aber so ein Weib! Kaethchens anderes Gesicht, die Pfarrerstochter, der unvermutet das entfesselte Weib ins Gesicht gestiegen war, dies tueckische Doppelwesen, so fremd der Biederkeit, die Diederich am Grunde seines eigenen Herzens wusste: es erschuetterte ihn wie ein Blick ins Bodenlose. Er knoepfte den Rock wieder zu. Es gab also noch andere Welten ausserhalb der buergerlichen, als nur die, worin jetzt der Herr Lauer lebte. Schnaufend setzte er sich zum Abendessen. Seine Stimmung schien so bedrohlich, dass die drei Frauen Schweigen bewahrten. Frau Hessling nahm ihren Mut zusammen. "Schmeckt es dir nicht, mein lieber Sohn?" Anstatt einer Antwort herrschte Diederich die Schwestern an. "Mit Kaethchen Zillich verkehrt ihr nicht mehr!" Da sie ihn ansahen, erroetete er und stiess drohend aus: "Sie ist eine Verworfene!" Aber sie verzogen nur den Mund; und auch die furchtbaren Andeutungen, in denen er sich polternd erging, schienen sie nicht weiter aufzuregen. "Du sprichst wohl von Jadassohn?" fragte Magda endlich, ganz gelassen. Diederich fuhr zurueck. Sie waren also eingeweiht und mitverschworen: alle Weiber wahrscheinlich. Auch Guste Daimchen! Die hatte schon einmal davon angefangen. Er musste sich die Stirn trocknen. Magda sagte: "Wenn du vielleicht ernste Absichten gehabt hast bei Kaethchen, uns hast du ja nicht gefragt", worauf Diederich, um sein Ansehen zu verteidigen, dem Tisch einen Stoss gab, dass alle aufkreischten. Er verbitte sich derartige Zumutungen, schrie er. Es gebe hoffentlich noch anstaendige Maedchen. Frau Hessling bat zitternd: "Du brauchst ja nur deine Schwestern anzusehen, mein lieber Sohn." Und Diederich sah sie wirklich an; er blinzelte, und er ueberlegte zum erstenmal, nicht ohne Bangen, was diese beiden weiblichen Wesen, die seine Schwestern waren, bisher wohl mit ihrem Leben angefangen hatten ... "Ach was," entschied er und richtete sich stramm auf, "euch zieht man einfach die Kandare fester. Wenn ich eine Frau habe, die soll sich wundern!" Da die Maedchen einander zulaechelten, erschrak er, denn er hatte an Guste Daimchen gedacht, und vielleicht dachten auch sie mit ihrem Laecheln an Guste? Zu trauen war keiner. Er sah Guste vor sich, weissblond, mit dem dicken, rosigen Gesicht. Ihre fleischigen Lippen oeffneten sich, sie streckte ihm die Zunge heraus. Das hatte vorhin Kaethchen Zillich getan, als sie ihm "Adieu Schaf!" zurief, und Guste, die ihr im Typus so aehnlich war, wuerde mit ausgestreckter Zunge und in halbbetrunkenem Zustand genau so ausgesehen haben! Magda sagte eben: "Kaethchen ist schoen dumm; aber begreiflich ist es ja, wenn man so lange warten muss und keiner kommt." Sofort griff Emmi ein. "Wen meinst du, bitte? Wenn Kaethchen sich mit irgendeinem Kienast begnuegt haette, wuerde sie wohl auch nicht mehr warten." Magda, im Bewusstsein, die Tatsachen fuer sich zu haben, blaehte einfach ihre Bluse auf und schwieg. "Ueberhaupt", Emmi warf die Serviette hin und erhob sich. "Wie kannst du das gleich glauben, was die Maenner von Kaethchen reden. Das ist abscheulich, sollen wir denn alle wehrlos sein gegen ihren Klatsch?" Empoert liess sie sich in der Ecke nieder und begann zu lesen. Magda hob nur die Schultern - indes Diederich angstvoll und vergeblich nach einem Uebergang suchte, um zu fragen, ob vielleicht auch Guste Daimchen -? Bei einer so langen Verlobung -? "Es gibt Situationen," aeusserte er, "wo es nicht mehr Klatsch ist." Da schleuderte Emmi auch das Buch hin. "Und wenn schon! Kaethchen tut, was sie will! Wir Maedchen haben ebensogut wie ihr das Recht, unsere Individualitaet auszuleben! Die Maenner sollen froh sein, wenn sie uns dann nachher noch kriegen!" Diederich stand auf. "Das will ich in meinem Hause nicht hoeren", sagte er ernst, und er blitzte Magda so lange an, bis sie nicht mehr lachte. Frau Hessling brachte ihm die Zigarre. "Von meinem Diedel weiss ich ganz genau, dass er so eine niemals heiraten wird;" - sie streichelte ihn troestend. Er versetzte mit Nachdruck: "Ich kann mir nicht denken, Mutter, dass ein echter deutscher Mann das jemals getan hat." Sie schmeichelte. "O, alle sind nicht so ideal wie mein lieber Sohn. Manche denken materieller und nehmen mit dem Geld auch mal was in den Kauf, worueber die Leute reden." Unter seinem gebieterischen Blick schwatzte sie angstvoll weiter. "Zum Beispiel Daimchen. Gott, nun er ist tot, und es kann ihm gleich sein, aber seinerzeit hat man doch viel geredet." Jetzt sahen alle drei Kinder sie fordernd an. "Na ja," erklaerte sie schuechtern. "Das mit Frau Daimchen und dem Herrn Buck. Guste kam doch zu frueh." Nach diesem Ausspruch musste Frau Hessling sich hinter den Ofenschirm zurueckziehen, denn alle drei drangen gleichzeitig auf sie ein. "Das ist das Neueste!" riefen Emmi und Magda. "Also wie war die Geschichte!" Wogegen Diederich donnernd dem Weiberklatsch Einhalt gebot. "Wenn wir deinen Maennerklatsch angehoert haben!" riefen die Schwestern und suchten ihn fortzudraengen von dem Ofenschirm. Die Mutter sah haenderingend in das Handgemenge. "Ich habe doch nichts gesagt, Kinder! Nur damals sagten es alle, und der Herr Buck hat der Frau Daimchen doch auch die Mitgift geschenkt." "Also daher!" rief Magda. "So sehen in der Familie Daimchen die Erbonkel aus! Daher die goldenen Taschen!" Diederich verteidigte Gustes Erbschaft. "Sie kommt aus Magdeburg!" "Und der Braeutigam?" fragte Emmi. "Kommt der auch aus Magdeburg?" Ploetzlich verstummten alle und sahen einander an, wie betaeubt. Dann kehrte Emmi ganz still auf das Sofa zurueck, sie nahm sogar das Buch wieder auf. Magda fing an, den Tisch abzuraeumen. Auf den Ofenschirm, hinter dem Frau Hessling sich duckte, schritt Diederich zu. "Siehst du nun, Mutter, wohin es fuehrt, wenn man seine Zunge nicht huetet? Du willst doch wohl nicht behaupten, dass Wolfgang Buck seine eigene Schwester heiratet." Wimmernd kam es aus der Tiefe: "Ich kann doch nichts dafuer, mein lieber Sohn. Ich dachte schon laengst nicht mehr an die alte Geschichte, und es ist ja auch nicht sicher. Kein lebender Mensch weiss mehr etwas." Aus ihrem Buch heraus warf Emmi dazwischen: "Der alte Herr Buck wird wohl wissen, wo er jetzt das Geld fuer seinen Sohn holt." Und in das Tischtuch hinein, das sie faltete, sagte Magda: "Es soll manches vorkommen." Da hob Diederich die Arme, als habe er die Absicht, den Himmel anzurufen. Rechtzeitig unterdrueckte er aber das Entsetzen, das ihn uebermannen wollte. "Bin ich denn hier unter Raeuber und Moerder gefallen?" fragte er sachlich und ging in strammer Haltung zur Tuer. Dort wandte er sich um. "Ich kann euch natuerlich nicht hindern, eure feine Wissenschaft in die Stadt hinauszuposaunen. Was mich betrifft, ich werde erklaeren, dass ich mit euch nichts mehr zu tun habe. In die Zeitung werde ich es setzen!" Und er ging ab. Er vermied den Ratskeller und bedachte einsam bei Klappsch eine Welt, in der solche Greuel umgingen. Dagegen war mit kommentmaessigem Verhalten freilich nicht aufzukommen. Wer den Bucks ihren schaendlichen Raub abjagen wollte, durfte auch vor starken Mitteln nicht zurueckschrecken. "Mit gepanzerter Faust", sagte er ernst in sein Bier hinein; und das Deckelklappen, womit er das vierte Glas herbeirief, klang wie Schwertgeklirr ... Nach einer Weile verlor seine Haltung an Haerte; Bedenken kamen. Sein Eingreifen wuerde immerhin bewirken, dass die ganze Stadt mit den Fingern auf Guste Daimchen zeigte. Kein Mann, der halbwegs Komment hatte, heiratete solch ein Maedchen noch. Diederichs eigenstes Empfinden sagte es ihm, seine eingewurzelte Erziehung zur Mannhaftigkeit und zum Idealismus. Schade! Schade um Gustes dreihundertfuenfzigtausend Mark, die nun herrenlos und ohne Bestimmung waren. Die Gelegenheit waere guenstig gewesen, ihnen eine zu geben ... Diederich schuettelte den Gedanken mit Entruestung ab. Er erfuellte nur seine Pflicht! Ein Verbrechen galt es zu verhindern. Das Weib mochte dann sehen, wo es blieb im Kampf der Maenner. Was lag an einem dieser Geschoepfe, die ihrerseits, Diederich hatte es erfahren, jedes Verrates faehig waren. Nur noch des fuenften Glases bedurfte es, und sein Entschluss stand fest. Beim Morgenkaffee bekundete er ein grosses Interesse fuer die Toiletten der Schwestern zum Harmonieball. Zwei Tage nur mehr, und noch nichts fertig! Die Hausschneiderin war so selten zu haben gewesen, sie naehte jetzt bei Bucks, Tietz', Harnischs und ueberall. Die grosse Inanspruchnahme dieses Maedchens schien Diederich geradezu mit Bewunderung zu erfuellen. Er erbot sich, selbst hinzugehen und sie, koste es was es wolle, zur Stelle zu schaffen. Nicht ohne Muehe gelang es ihm. Zum zweiten Fruehstueck begab er sich alsdann so geraeuschlos, dass nebenan im Wohnzimmer das Gespraech nicht gestoert ward. Gerade erging sich die Hausschneiderin in Anspielungen auf einen Skandal, der bestimmt sei, alles Dagewesene in den Schatten zu stellen. Die Schwestern schienen ganz ahnungslos, und als endlich Namen fielen, zeigten sie sich entsetzt und unglaeubig. Frau Hessling beklagte es am lautesten, dass Fraeulein Gehritz so etwas auch nur denken koenne. Die Schneiderin beteuerte dagegen, in der ganzen Stadt wisse man es schon. Soeben komme sie von der Buergermeisterin Scheffelweis, deren Mutter geradezu verlangt habe, dass ihr Schwiegersohn einschreite! Dennoch machte es ihr Muehe, die Damen zu ueberzeugen. Diederich hatte den Vorgang eher umgekehrt erwartet. Er war zufrieden mit den Seinen. Aber hatten denn die Waende tatsaechlich Ohren gehabt? Man war zu glauben versucht, dass ein Geruecht, in einem verschlossenen Zimmer ausgebrochen, mit dem Rauch des Ofens hinaus und ueber die ganze Stadt zog. Beruhigt war er trotzdem noch nicht. Er sagte sich, dass das gesunde Empfinden des arbeitenden Volkes unter Umstaenden ein Faktor sei, den man billigen und sogar benutzen koenne. Bis zum Mittagessen ging er um Napoleon Fischer herum: da - es laeutete schon - entstand bei der Satiniermaschine ein gellendes Geschrei, und Diederich und der Maschinenmeister, die gleichzeitig hinstuerzten, zogen gemeinsam den Arm einer jungen Arbeiterin heraus, der von einer Stahlwalze ergriffen worden war. Er troff von schwarzem Blut, Diederich liess sofort nach dem staedtischen Krankenhaus telephonieren. Inzwischen, so uebel der Anblick des Armes ihm machte, blieb er selbst dabei, waehrend der Person ein Notverband angelegt ward. Sie sah zu, leise wimmernd und mit Augen, weich im Entsetzen, wie ein junges Tier, das getroffen ist. Diederichs menschenfreundliche Fragen nach ihren haeuslichen Verhaeltnissen verstand sie nicht. Napoleon Fischer antwortete fuer sie. Ihr Vater war durchgegangen, die Mutter bettlaegerig; das Maedchen ernaehrte sich und ihre zwei kleinen Geschwister. Sie war erst vierzehn Jahre alt. - Das sehe man ihr nicht an, meinte Diederich. Uebrigens seien die Arbeiterinnen oft genug vor der Maschine gewarnt worden. "Sie hat sich das Unglueck selbst zuzuschreiben, ich bin zu nichts verpflichtet. Na," sagte er milder, "nun kommen Sie mal mit, Fischer!" Im Kontor schenkte er zwei Kognaks ein. "Das kann man brauchen auf den Schrecken ... Sagen Sie ehrlich, Fischer, glauben Sie, dass ich zahlen muss? Die Schutzvorrichtung an der Maschine halten Sie doch wohl fuer genuegend?" Und da der Maschinenmeister die Achseln zuckte: "Sie wollen sagen, ich kann es auf einen Prozess ankommen lassen? Das tue ich aber nicht, ich zahle gleich." Napoleon Fischer zeigte verstaendnislos sein grosses gelbes Gebiss, und Diederich fuhr fort: "Ja, so bin ich. Sie dachten wohl, das koennte bloss der Herr Lauer? Was den betrifft, so sind Sie ja jetzt durch Ihr eigenes Parteiblatt ueber seine Arbeiterfreundlichkeit aufgeklaert. Ich lasse mich freilich nicht wegen Majestaetsbeleidigung einsperren und mache dadurch meine Arbeiter brotlos; ich suche mir praktischere Mittel aus, um meine soziale Gesinnung zu bekunden." Er machte eine feierliche Pause. "Und darum habe ich mich entschlossen, dem Maedchen die ganze Zeit, die es im Krankenhaus liegt, seinen Lohn weiterzuzahlen. Wieviel ist es denn?" fragte er rasch. "Eine Mark fuenfzig", sagte Napoleon Fischer. "Na ja ... Soll sie acht Wochen liegen. Soll sie zwoelf Wochen liegen ... Ewig natuerlich geht es nicht." "Sie ist erst vierzehn", sagte Napoleon Fischer, von unten. "Sie kann Schadenersatz verlangen." Diederich erschrak, er schnaufte. Napoleon Fischer hatte schon wieder sein unbestimmbares Grinsen aufgesetzt und sah seinem Arbeitgeber auf die Faust, die angstvoll in der Tasche geballt war. Diederich zog sie hervor. "Nun setzen Sie die Leute von meinem hochherzigen Entschluss in Kenntnis! Das passt Ihnen wohl nicht in den Kram? Die Gemeinheiten der Kapitalisten erzaehlt ihr euch natuerlich lieber. In euren Versammlungen schwingt ihr jetzt wahrscheinlich grosse Reden ueber Herrn Buck." Napoleon Fischer sah verstaendnislos aus, was Diederich nicht beachtete. "Ich finde es wohl auch nicht eben schoen," fuhr er fort, "wenn jemand seinen Sohn ausgerechnet das Maedchen heiraten laesst, mit dessen Mutter er selbst was gehabt hat, und zwar vor der Geburt der Tochter ... Aber -" In Napoleon Fischers Gesicht begann es zu arbeiten. "Aber!" wiederholte Diederich stark. "Ich waere durchaus nicht einverstanden, wenn meine Leute sich deswegen den Mund verrenken, und wenn Sie, Fischer, nun vielleicht die Arbeiter gegen die staedtischen Behoerden aufhetzen, weil ein Magistratsrat etwas getan hat, was ihm keiner beweisen kann." Seine Faust schlug entruestet durch die Luft. "Mir hat man schon nachgesagt, dass ich den Prozess gegen Lauer angezettelt habe. Ich will an nichts schuld sein, meine Leute sollen sich ruhig halten." Seine Stimme ward vertraulicher, er neigte sich naeher zu dem anderen hin. "Na, und weil ich Ihren Einfluss kenne, Fischer ..." Ploetzlich war seine Hand offen, und auf ihrer Flaeche lagen drei grosse Goldstuecke. Napoleon Fischer sah sie und verzerrte das Gesicht, als erblickte er den Teufel. "Nein!" rief er, "und abermals nein! Meine Ueberzeugung kann ich nicht verraten! Fuer allen Mammon der Welt nicht!" Er hatte rote Augen und kreischte. Diederich wich zurueck; so nahe hatte er dem Umsturz noch nie ins Gesicht gesehen. "Die Wahrheit muss ans Licht!" kreischte Napoleon Fischer. "Dafuer werden wir Proletarier sorgen: Das koennen Sie nicht verhindern, Herr Doktor! Die Schandtaten der besitzenden Klassen ..." Diederich hielt ihm schnell noch einen Kognak hin. "Fischer," sagte er eindringlich, "das Geld biete ich Ihnen dafuer, dass mein Name in der Sache nicht genannt wird." Aber Napoleon Fischer wehrte ab; ein hoher Stolz erschien in seiner Miene. "Zeugniszwang, Herr Doktor, ueben wir nicht. Wir nicht. Wer uns mit Agitationsstoff versorgt, hat nichts zu fuerchten." "Dann ist alles in Ordnung", sagte Diederich erleichtert. "Ich wusste schon, Fischer, dass Sie ein grosser Politiker sind. Und darum, wegen des Maedchens, ich meine die verunglueckte Arbeiterin -. Ich habe Ihnen soeben mit meiner Mitteilung ueber die Buckschen Schweinereien einen Gefallen getan ..." Napoleon Fischer grinste geschmeichelt. "Weil Herr Doktor sagen, dass ich ein grosser Politiker bin ... Ich will von dem Schadenersatz weiter nicht reden. Intimitaeten aus den ersten Kreisen sind fuer uns doch wichtiger als -" "- als so ein Maedchen", ergaenzte Diederich. "Sie denken immer als Politiker." "Immer", bestaetigte Napoleon Fischer. "Mahlzeit, Herr Doktor." Er zog sich zurueck - indes Diederich feststellte, dass die proletarische Politik ihre Vorzuege habe. Er schob seine drei Goldstuecke wieder in die Tasche. Am Abend des naechsten Tages waren alle Spiegel des Hauses im Wohnzimmer zusammengetragen. Emmi, Magda und Inge Tietz drehten sich dazwischen umher, bis ihnen die Haelse schmerzten; dann liessen sie sich nervoes auf den Rand eines Stuhles nieder. "Mein Gott, es ist doch Zeit!" Aber Diederich war fest entschlossen, nicht wieder zu frueh zu kommen, wie beim Prozess Lauer. Die ganze Wirkung der Persoenlichkeit ging zum Teufel, wenn man zu frueh da war. Als sie endlich gingen, entschuldigte Inge Tietz sich nochmals bei Frau Hessling, dass sie ihr den Platz im Wagen wegnehme. Nochmals sagte Frau Hessling: "Ach Gott, es ist gern geschehen. Ich alte Frau bin zu schwach fuer so was Grosses. Geniesst ihr es nur, Kinder!" Und sie umarmte unter Traenen ihre Toechter, die kuehl abwehrten. Denn sie wussten, dass die Mutter bloss Angst hatte, weil jetzt ueberall von nichts weiter gesprochen wurde als von der furchtbaren Klatschgeschichte, an der sie selbst schuld war. Im Wagen fing Inge gleich wieder davon an. "Na, Bucks und Daimchens! Gespannt bin ich bloss, ob sie heute die edle Dreistigkeit haben und da sind." Magda sagte ruhig: "Das muessen sie wohl. Sonst geben sie ja zu, dass es wahr ist." - "Wennschon", erklaerte Emmi. "Ich finde, dass das ihre Sache ist. Ich rege mich darueber nicht auf." - "Ich auch nicht", setzte Diederich hinzu. "Ich habe es eigentlich erst heute abend von Ihnen gehoert, Fraeulein Tietz." Hierueber geriet Inge Tietz ausser sich. So leicht duerfe man den Skandal denn doch nicht nehmen. Ob er glaube, dass sie sich das Ganze ausgedacht habe. "Die Bucks haben schon laengst Butter auf dem Kopf wegen der Sache: das wissen ihre eigenen Dienstboten." - "Also Dienstbotenklatsch", sagte Diederich, waehrend er einen kleinen Stoss erwiderte, den Magda ihm mit dem Knie gab. Dann musste man schon aussteigen und die Stufen hinuntergehen, die den neuen Teil der Kaiser-Wilhelm-Strasse mit der tief gelegenen alten Riekestrasse verbanden. Diederich fluchte; denn es begann zu regnen, die Ballschuhe wurden nass; auch standen vor dem Festlokal Proleten, die feindselig gafften. Haette man nicht, als der ganze Stadtteil hoeher gelegt wurde, auch dieses Geruempel niederreissen koennen? Das historische Harmoniehaus hatte erhalten werden sollen - als ob die Stadt nicht die Mittel gehabt haette, in zentraler Lage ein modernes, erstklassiges Gesellschaftsgebaeude zu bauen. In dem alten Kasten roch es ja nach Moder! Und gleich beim Eingang kicherten immer die Damen, weil eine Statue der Freundschaft dastand, die zwar eine hohe Peruecke, aber sonst nichts anhatte. "Vorsicht," sagte Diederich auf der Treppe, "sonst brechen wir ein." Denn die beiden duennen Bogen der Treppe griffen durch die Luft wie zwei vom Alter abgemagerte Arme. Das braune Rosa ihres Holzes war blass geworden. Droben aber, wo sie sich vereinigten, laechelte auf dem Gelaender aus seinem blanken Marmorgesicht noch immer der bezopfte Buergermeister, der dies alles der Stadt hinterlassen hatte und der ein Buck gewesen war. Diederich sah ungnaedig an ihm vorbei. In der tiefen Spiegelgalerie war es ganz still; eine einzelne Dame nur hielt sich dahinten auf, sie schien durch einen Tuerspalt in den Festsaal zu spaehen - und ploetzlich wurden die Maedchen von Entsetzen ergriffen: die Vorstellung hatte begonnen! Magda stuerzte durch die Galerie und brach in Weinen aus. Da drehte die Dame sich um, mit dem Finger auf den Lippen. Es war Frau von Wulckow, die Dichterin. Sie laechelte erregt und fluesterte: "Es geht gut, mein Stueck gefaellt. Sie kommen gerade rechtzeitig, Fraeulein Hessling, gehen Sie nur und kleiden sich um." Ach ja! Emmi und Magda hatten erst im zweiten Akt zu tun. Auch Diederich hatte den Kopf verloren. Indes die Schwestern mit Inge Tietz, die ihnen helfen sollte, durch die Nebenraeume nach der Garderobe eilten, stellte er sich der Praesidentin vor und blieb ratlos stehen. "Jetzt duerfen Sie nicht hinein, es wuerde stoeren", sagte sie. Diederich stammelte Entschuldigungen, und dann rollte er die Augen, wobei er zwischen den gemalten Ranken der halb erblindeten Wandspiegel seinem geheimnisvoll blassen Abbild begegnete. Der zartgelbe Lack der Waende zeigte launische Spruenge, und auf den Panneaus starben die Farben der Blumen und Gesichter ... Frau von Wulckow schloss eine kleine Tuer, durch die jemand einzutreten schien, eine Schaeferin mit ihrem bebaenderten Stab. Sie schloss die Tuer ganz vorsichtig, damit nur die Vorstellung nicht gestoert werde, aber es flog doch ein wenig Staub auf, als sei es Puder aus dem Haar der gemalten Schaeferin. "Dies Haus ist so romantisch", fluesterte Frau von Wulckow. "Finden Sie nicht auch, Herr Doktor? Wenn man sich hier im Spiegel sieht, glaubt man einen Reifrock anzuhaben" - worauf Diederich, immer ratloser, ihr Haengekleid ansah. Die entbloessten Schultern waren hohl und nach vorn gebogen, die Haare von slawischem Weissblond, und Frau von Wulckow trug einen Zwicker. "Sie passen hier glaenzend herein, Frau Praesidentin ... Frau Graefin", verbesserte er und sah sich mit einem Laecheln belohnt fuer seine kuehne Schmeichelei. Nicht jeder wuerde Frau von Wulckow so treffsicher daran erinnert haben, dass sie eine geborene Graefin Zuesewitz war! "Tatsaechlich", bemerkte sie, "sollte man kaum glauben, dass dies Haus seinerzeit nicht fuer eine wirklich vornehme Gesellschaft gebaut worden ist, sondern nur fuer die guten Netziger Buerger." Sie laechelte nachsichtig. "Ja, das ist komisch", bestaetigte Diederich mit einem Kratzfuss. "Aber heute koennen sich zweifellos nur Frau Graefin hier ganz zu Hause fuehlen." "Sie haben gewiss Sinn fuer das Schoene", vermutete Frau von Wulckow; und da Diederich es bestaetigte, erklaerte sie, dann duerfe er den ersten Akt doch nicht ganz versaeumen, sondern muesse durch den Tuerspalt sehen. Sie selbst trat schon laengst von einem Fuss auf den anderen. Sie wies mit dem Faecher nach der Buehne. "Herr Major Kunze wird gleich abgehen. Er ist ja nicht besonders gut, aber was wollen Sie, er sitzt im Vorstand der Harmonie und hat den Leuten die kuenstlerische Bedeutung meines Werkes erst zum Verstaendnis gebracht." Indes Diederich den Major unschwer wiedererkannte, denn er hatte sich gar nicht veraendert, erlaeuterte die Dichterin ihm mit fliegender Gelaeufigkeit die Vorgaenge. Das junge Bauernmaedchen, mit dem Kunze sich unterhielt, war seine natuerliche Tochter, also eine Grafentochter, weshalb das Stueck denn auch "Die heimliche Graefin" hiess. Gerade klaerte Kunze sie, baerbeissig wie immer, ueber diesen Umstand auf. Auch eroeffnete er ihr, er werde sie mit einem armen Vetter verheiraten und ihr die Haelfte seiner Besitztuemer vererben. Hierueber herrschte, als er abgegangen war, laute Freude bei dem Maedchen und ihrer Pflegemutter, der braven Paechtersfrau. "Wer ist denn die schreckliche Person?" fragte Diederich, bevor er es bedacht hatte. Frau von Wulckow war erstaunt. "Es ist doch die komische Alte vom Stadttheater. Wir hatten sonst niemand fuer die Rolle; aber meine Nichte spielt ganz gern mit ihr." Und Diederich erschrak; mit der schrecklichen Person hatte er die Nichte gemeint. "Das Fraeulein Nichte ist ganz reizend", beteuerte er schnell und blinzelte entzueckt nach dem dicken roten Gesicht, das gleich auf den Schultern sass - und es waren Wulckows Schultern! "Talent hat sie aber auch", setzte er der Sicherheit wegen hinzu. Frau von Wulckow wisperte: "Passen Sie nur auf" - und da kam aus der Kulisse Assessor Jadassohn. Welch eine Ueberraschung! Er hatte ganz neue Buegelfalten und trug in seinem imposant geschweiften Cutaway eine riesenhafte Plastronkrawatte mit einem roten Funkelstein von entsprechendem Umfang. Aber so sehr der Stein auch funkelte, Jadassohns Ohren ueberstrahlten ihn. Da sein Kopf frisch geschoren und sehr platt war, standen die Ohren frei heraus und beleuchteten wie zwei Lampen seine festliche Pracht. Er spreizte die gelb behandschuhten Haende, als plaedierte er fuer viele Jahre Zuchthaus; und tatsaechlich sagte er der Nichte, die geradezu konsterniert schien, und der heulenden komischen Alten die peinlichsten Dinge ... Frau von Wulckow wisperte: "Er ist ein schlechter Charakter." "Und ob", sagte Diederich mit Ueberzeugung. "Kennen Sie denn mein Stueck?" "Ach so. Nein. Aber ich sehe schon, was er will." Naemlich Jadassohn der der Sohn und Erbe des alten Grafen Kunze war, hatte gelauscht und war durchaus nicht gesonnen, die Haelfte seiner ihm von Gott verliehenen Besitztuemer an die Nichte abzutreten. Er verlangte gebieterisch, dass sie augenblicklich das Feld raeume; widrigenfalls er sie als Erbschleicherin verhaften und Kunze entmuendigen lassen werde. "Das ist eine Gemeinheit", bemerkte Diederich. "Sie ist doch seine Schwester." Die Dichterin erklaerte ihm: "Nun ja. Aber andererseits hat er recht, wenn er ein Fideikommiss aus den Guetern machen will. Er arbeitet eben fuer das ganze Geschlecht, mag auch der einzelne zu kurz kommen. Fuer die heimliche Graefin ist das natuerlich tragisch." "Wenn man es recht bedenkt -", Diederich war hocherfreut. Dieser aristokratische Gesichtspunkt kam auch ihm selbst zustatten, wenn er keine Neigung fuehlte, Magda bei ihrer Verheiratung am Geschaeft zu beteiligen. "Frau Graefin, Ihr Stueck ist erstklassig", sagte er, durchdrungen. Aber da zog Frau von Wulckow ihn angstvoll am Arm: im Publikum entstanden Geraeusche, es scharrte, schnupfte sich aus und kicherte. "Er uebertreibt", stoehnte die Dichterin. "Ich habe es ihm immer gesagt." Denn Jadassohn fuehrte sich wirklich unerhoert auf. Die Nichte samt der komischen Alten klemmte er hinter den Tisch ein und fuellte mit den tobenden Bekundungen seiner graeflichen Persoenlichkeit die ganze Buehne. Je mehr das Haus ihn missbilligte, desto herausfordernder lebte er dort oben sich aus. Jetzt zischte man sogar; ja, mehrere wandten sich nach der Tuer um, hinter der Frau von Wulckow bebte, und zischten. Vielleicht geschah es nur, weil die Tuer kreischte - aber die Dichterin fuhr zurueck, sie verlor den Zwicker und tastete in hilflosem Entsetzen durch die Luft, bis Diederich ihn ihr zurueckbrachte. Er versuchte, sie zu troesten. "Es hat nichts zu sagen, Jadassohn geht doch hoffentlich bald ab?" Sie horchte durch die geschlossene Tuer. "Ja, Gott sei Dank", plapperte sie, und die Zaehne schlugen ihr aufeinander. "Jetzt ist er fertig, jetzt flieht meine Nichte mit der komischen Alten, und dann kommt Kunze wieder mit dem Leutnant, wissen Sie." "Ein Leutnant spielt auch mit?" fragte Diederich achtungsvoll. "Ja, das heisst, er ist noch auf dem Gymnasium, er ist ein Sohn des Herrn Landgerichtsdirektors Sprezius: der arme Verwandte, wissen Sie, den der alte Graf seiner Tochter zum Mann geben will. Er verspricht dem Alten, dass er die heimliche Graefin in der ganzen Welt suchen wird." "Sehr begreiflich", sagte Diederich. "Es liegt in seinem eigenen Interesse." "Sie werden sehen, er ist ein edler Mensch." "Aber Jadassohn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Graefin, den haetten Sie nicht mitspielen lassen sollen", sagte Diederich vorwurfsvoll und mit heimlicher Genugtuung. "Schon wegen der Ohren." Frau von Wulckow sagte niedergeschlagen: "Ich dachte nicht, dass sie auf der Buehne so wirken wuerden. Glauben Sie nun, dass es ein Misserfolg wird?" "Frau Graefin!" Diederich legte die Hand auf das Herz. "Ein Stueck wie die 'heimliche Graefin' ist nicht so leicht Umzubringen!" "Nicht wahr? Es kommt beim Theater doch wohl auf die kuenstlerische Bedeutung an." "Gewiss. Freilich, so ein Paar Ohren haben auch viel Einfluss" - und Diederich machte ein bedenkliches Gesicht. Frau von Wulckow rief flehend aus: "Wo doch der zweite Akt noch viel besser ist! Er spielt in einer protzigen Fabrikantenfamilie, und die heimliche Graefin dient dort als Stubenmaedchen. Dann ist da ein Klavierlehrer, kein feiner Mensch, eine der Toechter hat er sogar gekuesst, und nun macht er der Graefin einen Heiratsantrag, den sie natuerlich weit von sich weist. Ein Klavierlehrer! Wie koennte sie!" Diederich bestaetigte, es sei ausgeschlossen. "Aber nun sehen Sie, wie tragisch: die Tochter, die sich von dem Klavierlehrer hat kuessen lassen, verlobt sich auf einem Ball mit einem Leutnant, und wie der Leutnant ins Haus kommt, da ist es derselbe Leutnant, der -" "O Gott, Frau Graefin!" Diederich streckte schuetzend die Haende vor, ganz erregt durch so viele Verwicklungen. "Wie kommen Sie nur auf all die Geschichten?" Die Dichterin laechelte leidenschaftlich. "Ja, naemlich das ist das Interessanteste: Nachher weiss man es nicht mehr. Es geht so geheimnisvoll zu im Gemuet! Manchmal denke ich mir, ich muss es geerbt haben." "Haben Sie denn so viele Dichter in Ihrer werten Familie?" "Das nicht. Aber wenn nicht mein grosser Vorfahre die Schlacht bei Kroechenwerda gewonnen haette, wer weiss, ob ich die 'heimliche Graefin' geschrieben haben wuerde. Es kommt schliesslich immer auf das Blut an!" Bei dem Namen der Schlacht machte Diederich einen Kratzfuss, und er wagte nichts mehr zu fragen. "Jetzt muss gleich der Vorhang fallen", sagte Frau von Wulckow. "Hoeren Sie etwas?" Er hoerte nichts; nur fuer die Dichterin gab es nicht Tuer noch Waende. "Jetzt schwoert der Leutnant der fernen Graefin die ewige Treue", fluesterte sie. "So"; und alles Blut wich ihr aus dem Gesicht. Gleich darauf schoss es heftig zurueck; man klatschte: nicht stuermisch; aber man klatschte. Die Tuer ward von drinnen geoeffnet. Dort hinten rollte nochmals der Vorhang hinauf, und da der junge Sprezius und die Wulckowsche Nichte hervorkamen, ward der Beifall lebhafter. Ploetzlich schnellte aus der Kulisse Jadassohn, pflanzte sich vor die beiden und machte Miene, den Erfolg einzuheimsen - worauf gezischt ward. Frau von Wulckow wandte sich entruestet ab. Der Schwiegermutter des Buergermeisters Scheffelweis und der Landgerichtsraetin Harnisch, die ihr Glueck wuenschten, erklaerte sie: "Herr Assessor Jadassohn ist als Staatsanwalt unmoeglich. Ich werde es meinem Mann sagen." Die Damen gaben den Ausspruch sofort weiter und hatten viel Erfolg damit. Ploetzlich war die Spiegelgalerie voll von Gruppen, die ueber Jadassohns Ohren herfielen. "Die Praesidentin hat recht wacker gedichtet; nur Jadassohns Ohren -." Als man hoerte, dass Jadassohn im zweiten Akt nicht mehr wiederkomme, war man doch enttaeuscht. Wolfgang Buck ging mit Guste Daimchen auf Diederich zu. "Haben Sie gehoert?" fragte er. "Jadassohn soll eine Amtshandlung vornehmen und seine Ohren konfiszieren." Diederich sagte missbilligend: "Ich mache keine Witze, wenn es jemandem schlecht geht." Und dabei ueberwachte er eifrig die Blicke, die Buck und seine Begleiterin trafen. Alle Mienen lebten auf, wenn sie die beiden erblickten; Jadassohn war vergessen. Vom Ausgang trug die duenne Schreistimme des Professor Kuehnchen etwas durch den Wirrwarr, das klang wie "Affenschande". Da die Pastorin Zillich ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm legte, wandte er sich her, und jetzt verstand man es deutlich: "Eine ausgewachsene Affenschande ist es!" Guste sah sich um; sie bekam Schlitzaugen. "Dort sprechen sie auch davon", sagte sie geheimnisvoll. "Wovon?" stammelte Diederich. "Wir wissen schon. Und wer es aufgebracht hat, weiss ich auch." Hier brach Diederich der Schweiss aus. "Was haben Sie denn?" fragte Guste. Buck, der durch die Seitentuer nach dem Buefett schielte, sagte phlegmatisch: "Hessling ist ein vorsichtiger Politiker, er hoert nicht gern mit an, dass der Buergermeister zwar einerseits ein guter Ehemann ist, aber andererseits auch seiner Schwiegermutter nichts abschlagen kann." Sofort ward Diederich dunkelrot. "Das ist eine Gemeinheit! Wie kann jemand sich solch eine Gemeinheit ausdenken!" Guste kicherte heftig. Buck blieb unbewegt. "Erstens scheint es Tatsache zu sein, denn die Frau Buergermeister hat die beiden ueberrascht und sich einer Freundin anvertraut. Dann aber lag es ja auf der Hand." Guste brachte hervor: "Na Sie, Herr Doktor, waeren natuerlich nie darauf gekommen." Dabei blinzelte sie verliebt ihrem Verlobten zu. Diederich blitzte. "Aha!" sagte er stramm. "Jetzt weiss ich freilich genug." Und er drehte ihnen den Ruecken. Sie erfanden also selbst Gemeinheiten, noch dazu ueber den Buergermeister! Diederich durfte den Kopf hoch tragen. Er stiess zu der Gruppe Kuehnchens, die sich nach dem Buefett hin bewegte und ein Kielwasser von sittlicher Entruestung hinterliess. Die Schwiegermutter des Buergermeisters schwur mit rotem Gesicht, "diese Gesellschaft" werde ihr Haus kuenftig nur noch von aussen sehen, und mehrere Damen schlossen sich ihrem Vorsatz an, trotz Abraten des Warenhausbesitzers Herrn Cohn, der bis auf weiteres alles in Zweifel zog, weil eine derartige sittliche Entgleisung bei einem bewaehrten alten Liberalen wie dem Herrn Buck ganz ausgeschlossen erscheine. Professor Kuehnchen war vielmehr der Meinung, dass ein zu weit gehender Radikalismus auch die Moral gefaehrde. Selbst Doktor Heuteufel, der doch die Sonntagsfeiern fuer freie Menschen veranstaltete, machte die Bemerkung, an Familiensinn, man koenne auch sagen Nepotismus, habe es dem alten Buck niemals gefehlt. "Beispiele dafuer liegen Ihnen allen auf der Zunge. Und dass er jetzt, um das Geld in der Familie zu erhalten, sich anschickt, seine unehelichen Kinder mit seinen ehelichen zu verheiraten, das, meine Herrschaften, wuerde ich aerztlich als greisenhafte Ausschreitung einer frueher noch beherrschten Naturanlage diagnostizieren." Hierbei bekamen die Damen erschreckte Gesichter, und die Pastorin Zillich schickte ihr Kaethchen in die Garderobe nach ihrem Schnupftuch. Auf ihrem Wege kam Kaethchen an Guste Daimchen vorbei, aber sie begruesste sie nicht, sondern schlug die Augen nieder; da machte Guste ein betretenes Gesicht. Am Buefett bemerkte man es und aeusserte Missbilligung, vermischt mit Mitleid. Guste musste nun eben erfahren, was es hiess, sich ueber die oeffentliche Moral hinwegzusetzen. Mochte ihr zugebilligt werden, dass sie vielleicht getaeuscht und schlecht beeinflusst sei: Frau Oberinspektor Daimchen aber, die wusste doch wohl Bescheid, und sie war gewarnt! Die Schwiegermutter des Buergermeisters berichtete von ihrem Besuch bei Gustes Mutter und von ihren vergeblichen Anstrengungen, durch Anklopfen ein Gestaendnis hervorzulocken aus der verhaerteten alten Frau, der eine legitime Verbindung mit dem Hause Buck wohl einen Jugendtraum erfuellte!... "Na, und der Herr Rechtsanwalt Buck!" kreischte Kuehnchen. Tatsaechlich, wen wollte dieser Herr glauben machen, dass er ueber die neue Schande, die seine Familie traf, nicht genau unterrichtet sei? Waren ihm die Verbrechen im Hause Lauer etwa unbekannt gewesen? Und doch sah man ihn nicht zoegern, die schmutzige Waesche seiner Schwester und seines Schwagers oeffentlich vor Gericht auszubreiten, nur um von sich reden zu machen! Doktor Heuteufel, den es noch immer draengte, seine eigene Haltung im Prozess nachtraeglich zu verbessern, erklaerte: "Das ist kein Verteidiger, das ist ein Komoediant!" Und als Diederich zu bedenken gab, Buck habe nun einmal gewisse, wenn auch anfechtbare Ueberzeugungen in Politik und Moral, da ward ihm erwidert: "Herr Doktor, Sie sind sein Freund. Dass Sie fuer ihn eintreten, spricht zu Ihren Gunsten, aber Sie machen uns nichts weiss;" - worauf Diederich sich zurueckzog, mit bekuemmerter Miene, aber nicht ohne einen Blick auf den Redakteur Nothgroschen, der bescheiden an einer Schinkensemmel kaute und alles hoerte. Ploetzlich entstand eine Stille, denn drinnen, nahe der Buehne, erblickte man den alten Herrn Buck in einem Kreis junger Maedchen. Es schien, er erklaerte ihnen die Malereien an den Waenden, das Leben von ehemals, das verblichen und heiter den ganzen Saal umgab, mit dem Umkreis der Stadt, wie sie gewesen war, mit verschwundenen Wiesen und Gaerten und den Menschen allen, laermend einst als Herren hier in diesem Festhaus, nun aber in hingetaeuschte Tiefen gebannt vor dem Geschlecht, das eben jetzt laermte ... Jetzt sah es gar aus, als ahmten sie, die Maedchen und der Alte, den Figuren nach. Gerade ueber ihnen war das Burgtor abgebildet, und ein Herr in Peruecke und Amtskette trat heraus, derselbe, der aus Marmor zu Haeupten der Treppe stand. In dem lieblichen Gehoelz voller Blumen aber, das damals wohl dort, statt der Papierfabrik Gausenfeld, geblueht hatte, tanzten ihm helle Kinder entgegen, warfen einen Kranz ueber ihn und wollten ihn damit umherdrehen. Der Widerschein von rosigen kleinen Wolken fiel auf sein glueckliches Gesicht. So gluecklich laechelte in diesem Augenblick auch der alte Buck, liess sich von den Maedchen hin und her ziehen und war von ihnen gefangen, wie in einem lebenden Kranz. Seine Sorglosigkeit war unbegreiflich, sie war aufreizend. Hatte er schon sein Gewissen bis zu dem Grade abgestumpft, dass er seine natuerliche Tochter -: "_Unsere_ Toechter sind eben doch keine natuerlichen Kinder", sagte Frau Warenhausbesitzer Cohn. "Meine Sidonie mit Guste Daimchen Arm in Arm!"... Buck und seine jungen Freundinnen merkten gar nicht, dass sie sich am Ende eines leeren Raumes befanden. Vorn bildete feindliches Publikum eine Mauer; die Augen fingen zu funkeln an, und der Mut wuchs. "Die Familie ist die laengste Zeit obenauf gewesen! Einen haben sie schon in der Vogtei, gleich kommt Nummer zwei!"... "Das ist ja der reinste Rattenfaenger!" murrte es; und drueben: "Ich sehe es nicht noch laenger mit an!" Jaeh entrangen sich zwei Damen dem allgemeinen Druck, nahmen einen Anlauf und durchkreuzten den leeren Raum. Frau Rat Harnisch, die in ihrer roten Samtschleppe dahinkugelte, traf am Ziel puenktlich auf die gelbe Frau Cohn, mit demselben Griff bemaechtigte die eine sich ihrer Sidonie, die andere ihrer Meta, und welch eine Genugtuung, als sie wieder anlangten! "Ich war einer Ohnmacht nahe", sagte die Pastorin Zillich, da nun gottlob auch Kaethchen sich einfand. Die gute Laune kehrte zurueck, man scherzte ueber den alten Suender und verglich ihn mit dem Grafen im Stueck der Praesidentin. Freilich, Guste war keine heimliche Graefin; in einer Dichtung konnte man, der Praesidentin zu gefallen, mit solchen Zustaenden sympathisieren. Uebrigens waren sie dort noch ertraeglich, denn die Graefin sollte nur ihren Vetter heiraten, waehrend Guste -! Der alte Buck, der niemand mehr um sich sah, als seine kuenftige Schwiegertochter und eine seiner Nichten, bekam eine fragende Miene; ja, unter den Blicken, die ihn in seiner Verlassenheit musterten, ward er sichtlich verlegen. Man machte einander darauf aufmerksam; - und Diederich sogar fragte sich, ob Frau Hesslings alte Skandalgeschichte denn etwa gar wahr sei? Da er das Phantom, das er selbst in die Welt geschickt hatte, hier einen Koerper annehmen und immer drohender um sich greifen sah, war ihm selber bange geworden. Diesmal galt es nicht irgendeinem Lauer, es galt dem alten Herrn Buck, der ehrwuerdigsten Figur aus Diederichs Kindertagen, dem grossen Mann der Stadt, der Verkoerperung ihres Buergersinnes, dem zum Tode Verurteilten von Achtundvierzig! Im eigenen Herzen fuehlte Diederich ein Straeuben gegen sein Unterfangen. Auch schien es Wahnwitz; ein Streich wie dieser zerschmetterte den Alten noch laengst nicht. Kam es aber heraus, wer der Urheber war, dann musste Diederich darauf gefasst sein, dass alle sich gegen ihn wendeten ... Gleichwohl blieb es ein Streich, und er hatte getroffen. Jetzt war es nicht mehr bloss die Familie, die broeckelte und an dem Alten als Last hing: der Bruder vor dem Bankerott, der Schwiegersohn im Gefaengnis, die Tochter auf Reisen mit einem Liebhaber, und von den Soehnen einer verbauert, der andere verdaechtig durch Gesinnung und Lebensfuehrung, - jetzt schwankte er, zum ersten Male, selbst. Herunter mit ihm, damit Diederich hinaufkam! Trotzdem war es Diederich bange bis in den Leib hinein, er machte sich auf, um die Nebenraeume zu besuchen. Er lief, denn es klingelte schon zum zweiten Akt: da stiess er mit der Schwiegermutter des Buergermeisters zusammen, die es aus einem anderen Grund ebenso eilig hatte. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass ihr Schwiegersohn, gelenkt von seiner Frau, sich auf den alten Buck zu bewege und ihn mit seiner Autoritaet decke. "Mit deiner Autoritaet als Buergermeister, einen solchen Skandal!" Sie war heiser vor Aufregung. Die Frau aber mit ihrer grellen kleinen Stimme blieb dabei, die Bucks seien nun einmal die feinsten Leute hier, und noch gestern habe Milli Buck ihr ein fabelhaftes Schnittmuster gegeben. Mit versteckten Pueffen trieb jede ihn nach ihrer Seite; er gab ihnen abwechselnd recht, seine blassen Bartkotelettes flohen nach links und nach rechts, und er hatte Augen wie ein Hase. Die Voruebergehenden stiessen einander an und wiederholten fluesternd als einen Witz, was Diederich durch Wolfgang Buck wusste. Angesichts so wichtiger Vorgaenge vergass er seine Leibschmerzen, blieb stehen und beschrieb einen herausfordernden Gruss. Der Buergermeister gab sich Haltung, verliess seine Damen, er streckte Diederich die Hand hin. "Mein lieber Doktor Hessling, es freut mich, das ist einmal ein gelungenes Fest, wie?" Aber Diederich zeigte sich gar nicht geneigt, auf die nichtssagende Herzlichkeit einzugehen, die Doktor Scheffelweis so sehr liebte. Er richtete sich auf wie das Verhaengnis und blitzte. "Herr Buergermeister, ich fuehle mich nicht berechtigt, Sie im unklaren zu lassen ueber gewisse Dinge, die -" "Die?" fragte Doktor Scheffelweis, erbleicht. "Die vorgehen", sagte Diederich nicht ohne Haerte. Der Buergermeister bat um Erbarmen. "Ich weiss doch schon. Es ist die fatale Geschichte mit unserem allverehrten - ich wollte sagen, die Schweinerei des alten Buck", fluesterte er vertraulich. Diederich blieb kalt. "Es ist mehr. Sie duerfen sich nicht laenger taeuschen, Herr Buergermeister: es betrifft Sie selbst." "Junger Mann, ich muss doch bitten ..." "Ich stehe Ihnen zur Verfuegung, Herr Buergermeister!" Doktor Scheffelweis irrte, wenn er hoffte, dieser Kelch sei durch Aufbegehren besser abzuwenden als durch Flehen! Er war in Diederichs Hand; die Spiegelgalerie hatte sich geleert, auch die beiden Damen verschwanden dahinten im Gedraenge. "Buck und Genossen fuehren einen Gegenschlag", sagte Diederich sachlich. "Sie sind entlarvt und raechen sich." "An mir?" Der Buergermeister huepfte auf. "Verleumdungen, ich wiederhole: infame Verleumdungen werden gegen Sie gerichtet. Kein Mensch wuerde sie glauben, aber in diesen Zeiten der politischen Kaempfe -" Er beendete nicht, sondern hob die Schultern. Doktor Scheffelweis war sichtlich kleiner geworden. Er wollte Diederich ansehen, irrte aber ab. Da bekam Diederich die Stimme des Gerichts. "Herr Buergermeister! Sie erinnern sich an unsere erste Unterredung in Ihrem Hause, mit Herrn Assessor Jadassohn. Ich habe Sie schon damals darauf vorbereitet, dass ein neuer Geist in die Stadt einziehen werde. Die schlappe demokratische Gesinnung hat abgewirtschaftet! Stramm national muss man heut sein! Sie waren gewarnt!" Doktor Scheffelweis stand Rede. "Ich war innerlich schon immer auf Ihrer Seite, lieber Freund: um so mehr, als ich ein besonderer Verehrer Seiner Majestaet bin. Unser herrlicher junger Kaiser ist ein so origineller Denker ... impulsiv ... und ..." "Die persoenlichste Persoenlichkeit", ergaenzte Diederich streng. Der Buergermeister sprach nach: "Persoenlichkeit ... Aber ich in meiner Stellung, die nach beiden Seiten blickt, kann Ihnen auch heute nur wiederholen: Schaffen Sie neue Tatsachen!" "Und mein Prozess? Ich habe die Feinde Seiner Majestaet glatt zerschmettert!" "Ich habe Ihnen nichts in den Weg gelegt. Ich habe Sie sogar beglueckwuenscht." "Mir nicht bekannt." "Wenigstens im stillen." "Heute muss man sich offen entscheiden, Herr Buergermeister. Seine Majestaet haben es selbst gesagt: wer nicht fuer mich ist, ist wider mich! Unsere Buerger sollen endlich aus dem Schlummer erwachen und bei der Bekaempfung der umwaelzenden Elemente selbst mit Hand anlegen!" Hier schlug Doktor Scheffelweis die Augen nieder. Um so gebieterischer reckte sich Diederich. "Wo aber bleibt der Buergermeister?" fragte er, und seine Frage klang in einer drohenden Stille so lange nach, bis Doktor Scheffelweis sich entschloss, ihn anzublinzeln. Zum Sprechen brachte er es nicht; Diederichs Erscheinung, blitzend, gestraeubt und blond gedunsen, verschlug ihm die Rede. In fliegender Verwirrung dachte er: "Einerseits - andererseits" - und blinzelte immerfort das Bild der neuen Jugend an, die wusste, was sie wollte, den Vertreter der harten Zeit, die nun kam! Diederich, mit herabgezogenen Mundwinkeln, nahm die Huldigung entgegen. Er genoss einen der Augenblicke, in denen er mehr bedeutete als sich selbst, und im Geiste eines Hoeheren handelte. Der Buergermeister war laenger als er, aber Diederich sah auf ihn hinunter, als haette er gethront. "Naechstens haben wir Stadtverordnetenwahlen: da kommt es nun ganz auf Sie an", aeusserte er gnaedig und knapp. "Der Prozess Lauer hat einen Umschwung der oeffentlichen Meinung bewirkt. Die Leute haben Angst vor mir. Wer mir behilflich sein will, ist mir willkommen; wer sich mir entgegenstellt -" Den Nachsatz wartete Doktor Scheffelweis nicht ab. "Ich bin ganz Ihrer Meinung," fluesterte er beflissen, "Freunde des Herrn Buck duerfen nicht mehr gewaehlt werden." "Das liegt in Ihrem eigensten Interesse. Bei den Schlechtgesinnten untergraebt man Ihren guten Ruf, Herr Buergermeister! Koennten Sie es heute ueberleben, dass die Gutgesinnten den abscheulichen Verleumdungen nicht mehr widersprechen?" Eine Pause, in der Doktor Scheffelweis zitterte; dann wiederholte Diederich, ermutigend: "Es kommt nur auf Sie an." - Der Buergermeister murmelte: "Ihre Energie und anstaendige Gesinnung in Ehren -" "Meine hochanstaendige Gesinnung!" "Freilich ... Aber Sie sind ein politischer Heisssporn, mein junger Freund. Die Stadt ist noch nicht reif fuer Sie. Wie wollen Sie mit ihr fertig werden?" Statt einer Antwort trat Diederich ploetzlich zurueck und machte einen Kratzfuss. Im Eingang stand Wulckow. Er kam herbei unter elastischem Schwenken des Bauches, legte seine schwarze Tatze dem Doktor Scheffelweis auf die Schulter und sagte droehnend: "Na, Buergermeisterchen, so solo hier? Ihre Stadtverordneten haben Sie wohl hinausgeworfen?" - worauf Doktor Scheffelweis bleich mitlachte. Aber Diederich sah sich heftig besorgt nach der Saaltuer um, die noch offen stand. Er trat vor Wulckow hin, so dass der Praesident von drinnen nicht zu sehen war, und fluesterte ihm einige Worte zu, infolge deren der Praesident sich abwandte und seine Kleider ordnete. Dann sagte er zu Diederich: "Sie sind wirklich sehr brauchbar, Doktorchen." Diederich laechelte geschmeichelt. "Ihre Anerkennung, Herr Praesident, macht mich gluecklich." Wulckow aeusserte gnaedig: "Sie koennen gewiss auch sonst noch allerlei. Wir muessen mal drueber reden." Er streckte den Kopf vor, braunfleckig, mit slawischen Backenknochen, und glotzte Diederich an aus den Mongolenfalten seiner Augen, die voll einer warmbluetigen, schalkhaften Gewaltsamkeit waren: - glotzte, bis Diederich schnaufte. Dieser Erfolg schien Wulckow zu befriedigen. Er buerstete vor dem Spiegel seinen Bart, zerdrueckte ihn aber sogleich wieder auf dem Frackhemd, weil er den Kopf wie ein Stier trug, und sagte: "Nu los! Der Klimbim ist wohl schon im Gange?" Und in der Mitte zwischen Diederich und dem Buergermeister schickte er sich an, mit Wucht die Vorstellung zu stoeren: da kam vom Buefett her eine duenne Stimme: "Ach Gott, Ottochen!" "Na, da ist sie", brummte Wulckow, und er ging seiner Frau entgegen. "Dachte mir schon, wenn es zum Klappen kommt, scheut sie. Mehr Reitergeist, meine beste Frieda!" "Ach Gott, Ottochen, ich habe nun mal solche grauenhafte Angst." Zu den beiden anderen Herrn gewandt plauderte sie gelaeufig, wenn auch bebend. "Ich weiss wohl, man sollte freudigeren Herzens in die Schlacht gehen." "Besonders," sagte Diederich schlagfertig, "wenn sie im voraus gewonnen ist." Und er verneigte sich ritterlich. Frau von Wulckow beruehrte ihn mit dem Faecher. "Herr Doktor Hessling hat mir naemlich schon waehrend des ersten Aktes hier draussen Gesellschaft geleistet. Er hat Sinn fuer das Schoene, er gibt einem sogar nuetzliche Winke." "Hab' ich gemerkt", sagte Wulckow; und indes Diederich abwechselnd ihm und seiner Frau dankerfuellte Kratzfuesse machte, setzte der Praesident hinzu: "Bleiben wir lieber gleich beim Buefett." "Das war auch mein Schlachtplan", plauderte Frau von Wulckow. "Um so mehr, als ich jetzt festgestellt habe, dass man hier eine kleine Tuer nach dem Saal oeffnen kann. So erfreut man sich der von den Ereignissen unberuehrten Isoliertheit, die ich nun einmal brauche, und bleibt dennoch _au fait_." "Buergermeisterchen," sagte Wulckow und schnalzte, "den Hummersalat sollten Sie sich auch kaufen." Er zog Doktor Scheffelweis am Ohr und setzte hinzu: "In der Sache mit dem staedtischen Arbeitsnachweis hat der Magistrat mal wieder eine jammervolle Rolle gespielt." Der Buergermeister ass gehorsam und hoerte gehorsam zu - indes Diederich neben Frau von Wulckow nach der Buehne ausspaehte. Dort hatte Magda Hessling Klavierstunde, und der Lehrer, ein dunkellockiger Virtuose, kuesste sie feurig, was sie nicht uebel zu vermerken schien. "Kienast duerfte das nicht sehen", dachte Diederich, aber auch im eigenen Namen fuehlte er sich gekraenkt. Er aeusserte: "Finden Frau Graefin nicht doch, dass der Klavierlehrer zu naturalistisch spielt?" Die Dichterin erwiderte befremdet: "Ganz so lag es in meiner Intention." "Ich meinte auch nur", sagte Diederich unsicher - und dann erschrak er, denn in der Tuer erschien Frau Hessling oder eine Dame, die ihr aehnlich sah. Emmi kam auch, und das Paar war ertappt, man schrie und weinte. Um so lauter sprach Wulckow. "Nee, Buergermeister. Auf den alten Buck koennen Sie sich diesmal nicht 'rausreden. Wenn er damals den staedtischen Arbeitsnachweis durchgedrueckt hat: die Anwendung tut es, die ist Ihre Sache." Doktor Scheffelweis wollte etwas vorbringen, aber Magda schrie, sie denke nicht daran, den Menschen zu heiraten, dafuer sei das Dienstmaedchen gut genug. Die Dichterin bemerkte: "Das muss sie noch ordinaerer bringen. Es sind doch Parvenues." Und Diederich laechelte zustimmend, obwohl er arg betreten war durch diese Zustaende in einem Heim, das dem seinen glich. Innerlich gab er Emmi recht, die erklaerte, der Skandal muesse sogleich aus der Welt geschafft werden, und die das Dienstmaedchen hereinrief. Aber wie das Maedchen sich zeigte, verdammt, da war es die heimliche Graefin! In die Stille, die ihr Auftreten bewirkte, toente Wulckows Bassstimme. "Bleiben Sie mir mal weg mit dem Schwindel von Ihren sozialen Pflichten. Die Landwirtschaft ruinieren soll sozial sein?" Im Publikum wandten mehrere sich um; die Dichterin wisperte angstvoll: "Ottochen, um Gottes willen!" "Was ist denn los?" Er trat in die Tuer. "Nun sollen sie mal zischen!" Niemand zischte. Er wandte sich wieder dem Buergermeister zu: "Mit Ihrem Arbeitsnachweis ziehen Sie unsereinem, der im Osten beguetert ist, die Arbeiter fort, das ist mal sicher. Und ferner: Sie haben sogar Vertreter der Arbeiter in Ihrem miserablen Arbeitsnachweis - und dabei vermitteln Sie auch fuer die Landwirtschaft. Wohin steuern Sie also? Nach der Koalition der Landarbeiter. Sehen Sie wohl, Buergermeisterchen?" Seine Tatze fiel auf Doktor Scheffelweis' nachgiebige Schulter. "Wir kommen Ihnen hinter die Schliche. Wird nicht geduldet!" Auf der Buehne sprach die Wulckowsche Nichte ins Publikum, denn die Fabrikantenfamilie durfte nichts hoeren. "Wie? Ich, ein Grafenkind, einen Klavierlehrer heiraten? Das sei ferne von mir. Wenn die Leute mir auch eine Ausstattung versprechen, fuer Geld moegen andere sich erniedrigen. Ich aber weiss, was ich meiner edlen Geburt schuldig bin!" Hier ward applaudiert. Frau Harnisch und Frau Tietz sah man Traenen fortwischen, die der Edelsinn der Graefin ihnen hatte entquellen lassen. Aber die fortgewischten Traenen kamen wieder, als die Nichte sagte: "Doch ach! Wo finde ich als Dienstmaedchen einen ebenso Hochgeborenen." Der Buergermeister musste eine Erwiderung gewagt haben, denn Wulckow grollte: "Dafuer, dass es weniger Arbeitslose gibt, will ich nicht bluten. Mein Geld ist mein Geld." Da konnte Diederich sich nicht laenger enthalten, ihm mit einem Kratzfuss zu danken. Aber auch die Dichterin bezog mit Recht seinen Kratzfuss auf sich. "Ich weiss," sagte sie, selbst geruehrt, "die Stelle ist mir gelungen." "Das ist Kunst, die zum Herzen spricht", stellte Diederich fest. Da Magda und Emmi das Klavier und die Tueren zuschlugen, ergaenzte er: "Und hochdramatisch." Hierauf nach der anderen Seite: "Naechste Woche werden zwei Stadtverordnete gewaehlt fuer Lauer und Buck junior. Gut, dass der von selbst geht." Wulckow sagte: "Dann sorgen Sie nur dafuer, dass anstaendige Leute 'reinkommen. Sie sollen ja mit der 'Netziger Zeitung' gut stehen." Diederich daempfte vertraulich die Stimme. "Ich halte mich vorlaeufig noch zurueck, Herr Praesident. Fuer die nationale Sache ist es besser." "Sieh mal an", sagte Wulckow; und wirklich sah er Diederich durchdringend an. "Sie moechten sich wohl selbst waehlen lassen?" fragte er. "Ich wuerde das Opfer bringen. Unsere staedtischen Koerperschaften haben zu wenig Mitglieder, die in nationaler Beziehung zuverlaessig sind." "Und was wollen Sie machen, wenn Sie drin sind?" "Dafuer sorgen, dass der Arbeitsnachweis aufhoert." "Na ja," sagte Wulckow, "als nationaler Mann." "Ich als Offizier," sagte auf der Buehne der Leutnant, "kann nicht dulden, liebe Magda, dass dieses Maedchen, wenn es auch nur eine arme Dienstmagd ist, irgendwie misshandelt wird." Der Leutnant aus dem ersten Akt, der arme Vetter, der die heimliche Graefin haette heiraten sollen, er war Magdas Verlobter! Man fuehlte die Zuschauer vor Spannung beben. Die Dichterin bemerkte es selbst. "Die Erfindung ist aber auch meine starke Seite", sagte sie zu Diederich, der tatsaechlich verbluefft war. Doktor Scheffelweis hatte keine Zeit, sich den Emotionen der dramatischen Dichtung zu ueberlassen; er sah sich gefaehrdet. "Niemand", beteuerte er, "wuerde freudiger einen Geist -" Wulckow unterbrach ihn. "Kennen wir, Buergermeisterchen. Freudig begruessen koennen Sie, wenn's nichts kostet." Diederich setzte hinzu: "Aber einen glatten Strich ziehen zwischen Kaisertreuen und Umsturz!" Der Buergermeister hob flehend die Arme. "Meine Herren! Verkennen Sie mich nicht, ich bin zu allem bereit. Aber mit dem Strich ist nicht geholfen, denn bei uns hier bedeutet er bloss, dass fast alle, die nicht freisinnig waehlen, sozialdemokratisch waehlen." Wulckow stiess ein wuetendes Grunzen aus, worauf er sich eine Wurst vom Buefett langte. Diederich war es, der eiserne Zuversicht bekundete. "Wenn die guten Wahlen nicht von selbst kommen, muessen sie eben gemacht werden!" "Aber womit?" sagte Wulckow. Die Wulckowsche Nichte ihrerseits rief ins Publikum: "Er muss doch sehen, dass ich eine Graefin bin, er, der demselben edlen Stamme entsprossen ist!" "Oh! Frau Graefin!" sagte Diederich. "Jetzt bin ich wirklich neugierig, ob er es sieht." "Selbstverstaendlich", erwiderte die Dichterin. "Sie erkennen einander doch schon an den besseren Manieren." In der Tat warfen der Leutnant und die Nichte sich Blicke zu, weil Emmi und Magda samt Frau Hessling einen Kaese mit dem Messer assen. Diederich behielt den Mund offen. Im Publikum bewirkte das ungebildete Betragen der Fabrikantenfamilie die freudigste Stimmung. Die Toechter Buck, Frau Cohn und Guste Daimchen, alle jubelten. Auch Wulckow ward aufmerksam; er sog sich das Fett von den Fingern und sagte: "Frieda, du bist fein 'raus, sie lachen." Wirklich bluehte die Dichterin erstaunlich auf. Ihre Augen hinter dem Zwicker glaenzten wirr, sie seufzte, ihr Busen wallte, es hielt sie nicht laenger auf ihrem Stuhl. Sie wagte sich halb heraus aus dem Buefettzimmer; sofort wandten viele sich nach ihr um, mit neugierigen Gesichtern, und die Schwiegermutter des Buergermeisters gab ihr Zeichen. Frau von Wulckow rief fieberhaft ueber die Schulter: "Meine Herren, die Schlacht ist gewonnen!" "Wenn es bei uns auch so schnell ginge", sagte ihr Gatte. "Na, also, Doktor, wie wollen Sie den Netzigern die Kandare anlegen?" "Herr Praesident!" Diederich drueckte die Hand aufs Herz. "Netzig wird kaisertreu, dafuer buerge ich Ihnen mit allem, was ich bin und habe!" "Schoen", sagte Wulckow. "Denn", fuhr Diederich fort, "wir haben einen Agitator, den ich als erstklassig bezeichnen moechte: jawohl, erstklassig", wiederholte er und umfasste mit dem Wort alles Grosse; "und das ist Seine Majestaet selbst!" Doktor Scheffelweis sammelte sich eilig. "Die persoenlichste Persoenlichkeit", brachte er hervor. "Originell. Impulsiv." "Na ja", sagte Wulckow. Er stemmte die Faeuste auf die Knie und glotzte dazwischen auf den Boden, in der Haltung eines sorgenvollen Menschenfressers. Auf einmal merkten die beiden anderen, dass er sie von unten schief ansah. "Meine Herren" - er stockte wieder - "na, ich will Ihnen mal was sagen. Ich glaube, der Reichstag wird aufgeloest." Diederich und Doktor Scheffelweis streckten die Koepfe vor, sie wisperten. "Herr Praesident wissen -?" "Der Kriegsminister war neulich mit mir auf der Jagd, bei meinem Vetter Herrn von Quitzin." Diederich machte einen Kratzfuss. Er stammelte, er wusste selbst nicht was. Er hatte es vorausgesagt! Schon bei seiner Aufnahme in den Kriegerverein hatte er eine Rede Seiner Majestaet wiedergegeben, - und hatte er sie nur wiedergegeben? Darin kam ausdruecklich vor: "Ich raeume die ganze Bude aus!" Und nun sollte es geschehen, ganz so, als handelte er selbst. Es ueberlief ihn mystisch ... Wulckow sagte inzwischen: "Die Herren Eugen Richter und Konsorten passen uns nicht mehr. Wenn sie die Militaervorlage nicht schlucken, ist Schluss"; - und Wulckow strich sich mit der Faust ueber den Mund, als beginne das Fressen. Diederich fasste sich. "Das ist - das ist grosszuegig! Das ist ganz sicher die persoenliche Initiative Seiner Majestaet!" Doktor Scheffelweis war erbleicht. "Dann sind schon wieder Reichstagswahlen? Und ich war so froh, dass wir unseren bewaehrten Abgeordneten hatten ..." Er erschrak noch mehr. "Das heisst, natuerlich, Kuehlemann ist auch ein Freund des Herrn Richter ..." "Ein Noergler!" schnaubte Diederich. "Ein vaterlandsloser Geselle!" Er rollte die Augen. "Herr Praesident! Diesmal ist es aus in Netzig mit den Leuten. Lassen Sie mich nur erst Stadtverordneter sein, Herr Buergermeister!" "Was dann?" fragte Wulckow. Diederich wusste es nicht. Gluecklicherweise entstand im Saal ein Zwischenfall; Stuehle wurden gerueckt, und jemand liess sich die grosse Tuer oeffnen: Kuehlemann selbst war es. Der Greis schleppte seine schwere kranke Masse eilig durch die Spiegelgalerie. Am Buefett fand man, seit dem Prozess sei er noch mehr verfallen. "Er haette Lauer lieber freigesprochen, die anderen Richter haben ihn ueberstimmt", sagte Diederich. Doktor Scheffelweis meinte: "Nierensteine fuehren wohl schliesslich zur Aufloesung." Worauf Wulckow humoristisch: "Na, und im Reichstag sind wir seine Nierensteine." Der Buergermeister lachte gefaellig. Aber Diederich riss die Augen auf. Er naeherte sich dem Ohr des Praesidenten und raunte: "Sein Testament!" "Was ist damit?" "Er hat die Stadt zum Erben eingesetzt", erklaerte Doktor Scheffelweis wichtig. "Wahrscheinlich bauen wir von dem Geld ein Saeuglingsheim." "Bauen Sie?" Diederich feixte verachtungsvoll. "Einen nationaleren Zweck koennen Sie sich wohl nicht denken?" "Ach so." Wulckow nickte Diederich anerkennend zu. "Wieviel Pinke hat er denn?" "Eine halbe Million wenigstens", sagte der Buergermeister, und er beteuerte: "Ich waere gluecklich, wenn es zu machen waere, dass -" "Es ist glatt zu machen", behauptete Diederich. Da hoerte man draussen im Saal ein Lachen, das ganz verschieden klang von dem vorigen. Es kam aus ungehemmter Brust und drueckte sicherlich Schadenfreude aus. Auch zog die Dichterin sich fluchtartig bis hinter das Buefett zurueck; ja, sie schien bereit, hineinzukriechen. "Grundguetiger Gott!" wimmerte sie. "Alles ist verloren." "Nanu?" machte ihr Gatte und stellte sich drohend in die Tuer. Aber selbst dieses konnte die Heiterkeit nicht mehr aufhalten. Magda hatte zu der Graefin gesagt: "Spute dich, du dumme Landpomeranze, dass der Herr Leutnant den Kaffee kriegt." Eine andere Stimme verbesserte "Tee", Magda wiederholte "Kaffee", die andere blieb bei ihrer Meinung und Magda auch. Das Publikum hatte erfasst, dass ein Missverstaendnis zwischen ihr und der Souffleuse vorlag. Uebrigens griff der Leutnant mit Glueck ein, er schlug die Sporen aneinander und sagte: "Ich bitte um beides" - worauf das Lachen einen nachsichtigeren Charakter annahm. Aber die Dichterin war empoert. "Das Publikum! Es ist und bleibt eine Bestie!" knirschte sie. "Schiefgehen kann es immer", sagte Wulckow - und blinzelte Diederich an. Diederich erwiderte ebenso bedeutsam: "Wenn man einander versteht, Herr Praesident, dann nicht." Hierauf hielt er es fuer besser, sich ganz der Dichterin und ihrem Werk zu widmen. Mochte der Buergermeister inzwischen seine Freunde verraten und sich fuer die Wahlen auf alle Wuensche Wulckows verpflichten! "Meine Schwester ist eine Gans", erklaerte Diederich. "Ich werde ihr nachher die Meinung sagen!" Frau von Wulckow laechelte wegwerfend. "Das arme Ding, sie tut, was sie kann. Von seiten der Leute aber ist es wahrhaftig eine unertraegliche Arroganz und Undankbarkeit. Noch soeben hat man sie erhoben und fuer das Ideale begeistert!" Diederich sagte durchdrungen: "Frau Graefin, diese bittere Erfahrung machen Sie nicht allein. So ist es ueberall im oeffentlichen Leben." Denn er dachte an die allgemeinen Hochgefuehle damals nach seinem Zusammenstoss mit dem Majestaetsbeleidiger und an die Pruefungen, die dann gefolgt waren. "Schliesslich triumphiert doch die gute Sache!" stellte er fest. "Nicht wahr?" sagte sie mit einem Laecheln, das wie aus Wolken brach. "Das Gute, Wahre, Schoene." Sie reichte ihm die schmale Rechte; "ich glaube, mein Freund, wir verstehen uns" - und Diederich, des Augenblicks bewusst, drueckte kuehn die Lippen darauf, mit einem Kratzfuss. Er legte die Hand an das Herz und brachte gepresst aus der Tiefe: "Glauben Sie mir, Frau Graefin ..." Die Nichte und der junge Sprezius waren jetzt allein geblieben, hatten sich als erniedrigte Graefin und armer Vetter erkannt, wussten nun, dass sie einander bestimmt waren, und schwaermten gemeinsam von kuenftigem Glanz, wenn sie unter goldener Decke mit anderen Ausgezeichneten, demuetig stolz, von der Sonne der Majestaet beschienen sein wuerden ... Da hoerte Diederich die Dichterin aufseufzen. "Ihnen kann ich es sagen", seufzte sie. "Ich entbehre hier doch sehr den Hof. Wenn man, wie ich, von Geburt dem Hofadel angehoert -. Und nun -." Hinter ihrem Zwicker sah Diederich zwei Traenen perlen. Dieser Blick in die Tragik der Grossen erschuetterte ihn so sehr, dass er strammstand. "Frau Graefin!" sagte er, verhalten und stossweise. "Die heimliche Graefin sind also -" Er erschrak und schwieg. Die bleiche Stimme des Buergermeisters war eben dabei, dem Praesidenten zu verraten, dass Kuehlemann nicht wieder kandidieren werde, und dass die Freisinnigen den Doktor Heuteufel aufstellen wollten. Er war mit Wulckow darin einig, dass man Gegenmassregeln treffen muesse, solange noch niemand die Aufloesung des Reichstages erwartete ... Diederich wagte endlich wieder, leise und schonend: "Frau Graefin, aber, nicht wahr, es wird alles gut? Sie kriegen sich doch?" Frau von Wulckow, mit Takt und Selbstbeherrschung, schraenkte die Vertraulichkeit des Gefuehls schon wieder ein. In leichtem Plauderton erklaerte sie: "Mein Gott, lieber Doktor, was wollen Sie, die leidige Geldfrage! Es ist wohl unmoeglich, dass die jungen Leute zusammen gluecklich werden." "Sie koennen doch prozessieren!" rief Diederich, in seinem Rechtsgefuehl gekraenkt. Aber Frau von Wulckow verzog die Nase. "_Fi donc!_ Das wuerde zur Folge haben, dass der junge Graf, also Jadassohn, seinen Vater entmuendigen liesse. Im dritten Akt, den Sie noch sehen werden, droht er dem Leutnant damit in einer Szene, die mir, glaube ich, gelungen ist. Soll der Leutnant das auf sich nehmen? Und die Zerstueckelung des Familienbesitzes? In Ihren Kreisen ginge es vielleicht. Aber bei uns ist eben manches nicht moeglich." Diederich verneigte sich. "Dort oben herrschen natuerlich Begriffe, die sich unserem Urteil entziehen. Und dem der Gerichte wohl auch", setzte er hinzu. Die Dichterin laechelte milde. "Sehen Sie, und so verzichtet der Leutnant ganz korrekterweise auf die heimliche Graefin und heiratet die Fabrikantentochter." "Magda?" "Jawohl. Und die heimliche Graefin den Klavierlehrer. So wollen es die hoeheren Maechte, lieber Herr Doktor, denen wir -" ihre Stimme verdunkelte sich ein wenig - "uns nun einmal zu beugen haben." Diederich hatte noch einen Zweifel, aeusserte ihn aber nicht. Der Leutnant haette die heimliche Graefin auch ohne Geld heiraten sollen, es wuerde Diederich tief befriedigt haben in seinem weichen und idyllischen Herzen. Aber ach! diese harte Zeit dachte anders. Der Vorhang fiel, das Publikum entrang sich langsam seiner Ergriffenheit, dann spendete es um so waermeren Beifall dem Dienstmaedchen und dem Leutnant, die, es liess sich leider voraussehen, das schwere Geschick, nicht hoffaehig zu sein, wohl noch laenger wuerden tragen muessen. "Es ist wirklich ein Elend!" seufzten Frau Harnisch und Frau Cohn. Beim Buefett sagte Wulckow, am Ende seiner Beratungen mit dem Buergermeister: "Wir bringen der Bande noch Gesinnung bei!" Dann liess er seine Tatze schwer auf Diederichs Schulter fallen. "Na, Doktorchen, hat meine Frau Sie schon zum Tee geladen?" "Selbstverstaendlich, und kommen Sie recht bald!" Die Praesidentin hielt ihm die Hand zum Kuss hin, und Diederich entfernte sich beglueckt. Wulckow selbst wollte ihn wiedersehen! Mit Diederich zusammen wollte er Netzig erobern! Indes die Praesidentin in der Spiegelgalerie Cercle hielt und Glueckwuensche entgegennahm, bearbeitete Diederich die Stimmung. Heuteufel, Cohn, Harnisch und noch einige andere Herren erschwerten es ihm, denn sie gaben, wenn auch vorsichtig, zu verstehen, dass sie das Ganze fuer Quatsch hielten. Diederich war genoetigt, ihnen Andeutungen ueber den durchaus grosszuegigen dritten Akt zu machen, damit sie verstummten. Dem Redakteur Nothgroschen diktierte er ausfuehrlich, was er von der Dichterin wusste, denn Nothgroschen musste fort, die Zeitung sollte in Druck gehen. "Wenn Sie aber Bloedsinn schreiben, Sie Zeilenschinder, schlag' ich Ihnen Ihren Wisch um die Ohren!" - worauf Nothgroschen dankte und sich empfahl. Professor Kuehnchen seinerseits, der gehorcht hatte, ergriff Diederich bei einem Knopf und kreischte: "Sie, mein Bester! Eens haetten Se nu aber unserm Klatschdirektor ooch noch erzaehlen koennen!" Der Redakteur, der sich nennen hoerte, kehrte zurueck, und Kuehnchen fuhr fort: "Naemlich, dass die herrliche Schoepfung unserer allverehrten Praesidentin schon mal ist vorausgeahnt worden, und zwar von keinem Geringeren als von unserem Altmeister Goethe in seiner Natuerlichen Tochter. Nun, und das ist denn doch wohl das Hoechste, was sich zum Ruhme der Dichterin sagen laesst!" Diederich hatte Bedenken ueber die Zweckmaessigkeit von Kuehnchens Entdeckung, fand es aber unnoetig, sie ihm mitzuteilen. Der kleine Greis strebte schon, mit flatternden Haaren, durch das Gedraenge; schon sah man, wie er vor Frau von Wulckow den Boden scharrte und ihr das Ergebnis seiner vergleichenden Forschung vortrug. Freilich, ein Fiasko, wie er es erlitt, hatte auch Diederich nicht vorausgesehen. Die Dichterin sagte eiskalt: "Was Sie da bemerken, Herr Professor, kann nur auf Verwechselung beruhen. Ist die Natuerliche Tochter ueberhaupt von Goethe?" fragte sie und ruempfte misstrauisch die Nase. Kuehnchen beteuerte es, aber es half ihm nichts. "Jedenfalls haben Sie in der Zeitschrift 'Das traute Heim' einen Roman von mir gelesen, und den habe ich nun dramatisiert. Meine Schoepfungen sind saemtlich Originalarbeiten. Die Herren -" sie musterte den Kreis - "wollen boeswilligen Geruechten entgegentreten." Damit war Kuehnchen entlassen, trat ab und schnappte nach Luft. Diederich erinnerte ihn, im Ton eines geringschaetzigen Erbarmens, an Nothgroschen, der mit seiner gefaehrlichen Information schon von dannen war; und Kuehnchen stuerzte hinterdrein, um das Schlimmste zu verhueten. Wie Diederich den Kopf wandte, hatte im Saal das Bild sich veraendert: nicht nur die Praesidentin, auch der alte Buck hielt Cercle. Es war erstaunlich, aber man lernte die Menschen kennen. Sie ertrugen es nicht, dass sie vorhin ihren Instinkten freien Lauf gelassen hatten; mit beteuerndem Gesicht machte einer nach dem anderen sich an den Alten heran und wollte es nicht gewesen sein. So gross war, noch nach schweren Erschuetterungen, die Macht des Bestehenden, von alters her Anerkannten! Diederich selbst fand es angezeigt, nicht in auffaelliger Weise hinter der Mehrheit zurueckzubleiben. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Wulckow schon fort war, machte er seine Aufwartung. Der Alte sass eben allein in dem Polstersessel, der fuer ihn ganz vorn bei der Buehne stand; er liess seine weisse Hand merkwuerdig zart ueber die Lehne haengen und blickte zu Diederich hinauf. "Da sind Sie, mein lieber Hessling. Ich habe es oft bedauert, dass Sie nicht kamen" - ganz schlicht und nachsichtig. Diederich fuehlte sofort wieder Traenen heraufsteigen. Er gab ihm die Hand hin, freute sich, dass der Herr Buck sie ein wenig laenger in der seinen behielt, und stammelte etwas von Geschaeften, Sorgen und "um ehrlich zu sein" - denn ein jaehes Beduerfnis nach Ehrlichkeit erfasste ihn - von Bedenken und Hemmungen. "Es ist schoen von Ihnen," sagte darauf der Alte, "dass Sie mich das nicht nur erraten lassen, sondern es mir eingestehen. Sie sind jung und handeln wohl unter den Antrieben, denen die Geister heute gehorchen. In die Unduldsamkeit des Alters will ich nicht verfallen." Da schlug Diederich die Augen nieder. Er hatte verstanden: dies war die Verzeihung fuer den Prozess, der dem Schwiegersohn des Alten die buergerliche Ehre gekostet hatte; und ihm ward schwuel unter so viel Milde - und so viel Nichtachtung. Der Alte freilich sagte: "Ich achte den Kampf und kenne ihn zu gut, um jemand zu hassen, der gegen die Meinen kaempft." Worauf Diederich, von Furcht ergriffen, dies moechte zu weit fuehren, sich aufs Leugnen verlegte. Er wisse selbst nicht -. Man komme in Sachen hinein -. Der Alte erleichterte es ihm. "Ich weiss: Sie suchen und haben sich selbst noch nicht gefunden." Er tauchte seinen weissen Knebelbart in die seidene Halsbinde. Als er ihn wieder hervorholte, begriff Diederich, dass etwas Neues kam. "Sie haben das Haus hinter dem Ihren nun doch nicht gekauft", sagte der Herr Buck. "Ihre Plaene haben sich wohl geaendert?" Diederich dachte: "Er weiss alles", und sah schon seine heimlichsten Berechnungen enthuellt. Der Alte laechelte schlau und guetig. "Sollten Sie etwa Ihre Fabrik zunaechst verlegen und erst dann erweitern wollen? Ich koennte mir denken, dass Sie Ihr Grundstueck zu verkaufen wuenschen und nur auf eine gewisse Gelegenheit warten - die auch ich in Betracht ziehe", setzte er hinzu, und mit einem Blick: "Die Stadt hat vor, ein Saeuglingsheim zu errichten." "Alter Hund!" dachte Diederich. "Er spekuliert auf den Tod seines besten Freundes!" Gleichzeitig aber kam ihm die Erleuchtung, was er Wulckow vorzuschlagen habe, um Netzig zu erobern!... Er schnaufte. "Durchaus nicht, Herr Buck. Mein vaeterliches Erbstueck geb' ich nicht her!" Da nahm der Alte nochmals seine Hand. "Ich bin kein Versucher", sagte er. "Ihre Pietaet ehrt Sie." "Esel", dachte Diederich. "So werden wir uns eben ein anderes Terrain suchen. Ja, vielleicht werden Sie dabei mitwirken. Uneigennuetzigen Gemeinsinn, lieber Hessling, lassen wir uns nicht entgehen - auch nicht, wenn er einen Augenblick in falscher Richtung zu wirken scheint." Er stand auf. "Wollen Sie Stadtverordneter werden, so haben Sie meine Unterstuetzung." Diederich starrte, ohne zu begreifen. Die Augen des Alten waren blau und tief, und er bot Diederich eben das Ehrenamt an, um das Diederich seinen Schwiegersohn gebracht hatte. Sollte man nun ausspucken oder sich verkriechen? Diederich zog es vor, die Absaetze zusammenzuschlagen und korrekt seinen Dank abzustatten. "Sie sehen," erwiderte der Alte, "der Gemeinsinn schlaegt Bruecken von jung und alt und sogar bis zu denen, die nicht mehr da sind." Er fuehrte die Hand im Halbkreis ueber die Waende und ueber das Geschlecht von einst, das verblichen und heiter aus ihrer gemalten Tiefe trat. Er laechelte den jungen Maedchen in Reifroecken zu und zugleich auch einer seiner Nichten und Meta Harnisch, die voruebergingen. Als er das Gesicht dem alten Buergermeister zuwendete, der zwischen Blumen und Kindern aus dem Stadttor schritt, bemerkte Diederich die grosse Aehnlichkeit der beiden. Der alte Buck wies auf den und jenen aus der gemalten Versammlung. "Von dem da hab' ich viel gehoert. Diese Dame kannte ich noch. Sieht der Geistliche nicht aus wie Pastor Zillich? Nein, unter uns kann es keine ernstliche Entfremdung geben, wir sind einander seit langem verpflichtet zum guten Willen und gemeinsamen Fortschritt, schon durch jene da, die uns die 'Harmonie' hinterliessen." "Nette Harmonie", dachte Diederich und sah umher, wie er fortgelange. Der Alte hatte sich, nach seiner Gewohnheit, einen Uebergang gemacht von den Geschaeften zum sentimentalen Schwatz. "Immer kommt der Literat heraus", dachte Diederich. Gerade gingen Guste Daimchen und Inge Tietz vorbei. Guste hatte sich eingehaengt, und Inge prahlte mit dem, was sie hinter den Kulissen erlebt hatte. "Unsere Angst, als sie immer sagten: Tee, Kaffee, Kaffee, Tee." Guste behauptete: "Das naechste Mal schreibt Wolfgang ein viel schoeneres Stueck, und ich spiele mit." Da machte Inge sich los, sie bekam eine scheu ablehnende Miene. "So?" sagte sie; und Gustes dickes Gesicht verlor ploetzlich seinen harmlosen Eifer. "Warum etwa nicht?" fragte sie, weinerlich empoert. "Was hast du nun wieder?" Diederich, der es ihr haette sagen koennen, wandte sich schleunig zum alten Buck zurueck. Der schwatzte weiter. "Dieselben Freunde, damals wie jetzt; und auch die Feinde sind da. Schon recht verwischt, der eiserne Ritter, der Kinderschreck dort in seiner Nische am Tor. Don Antonio Manrique, grausamer Reitergeneral, der du im Dreissigjaehrigen Krieg unser armes Netzig gebrandschatzt hast: wenn nun nicht die Riekestrasse nach dir hiesse, wohin waere dann selbst der letzte Klang von dir verweht?... Auch einer, dem unser Freisinn nicht gefiel und der uns zu vertilgen dachte." Ploetzlich schuettelte den Alten ein stilles Kichern. Er nahm Diederich bei der Hand. "Hat er nicht Aehnlichkeit mit unserem Herrn von Wulckow?" Diederichs Miene ward hierauf noch korrekter, aber der Alte bemerkte es nicht, er war nun einmal aufgeraeumt, ihm fiel noch etwas ein. Er winkte Diederich hinter eine Pflanzengruppe und zeigte ihm an der Wand zwei Figuren, einen jungen Schaefer, der sehnsuechtig die Arme oeffnete, und jenseits eines Baches eine Schaeferin, die sich anschickte, hinueberzuspringen. Der Alte wisperte: "Was meinen Sie, werden die beiden zueinander kommen? Das wissen nicht viele mehr. Ich weiss es noch." Er sah sich um, ob niemand ihn beachte, und ploetzlich oeffnete er eine kleine Tuer, die man nie gefunden haben wuerde. Die Schaeferin auf der Tuer bewegte sich dem Liebenden entgegen. Noch ein wenig, und hinter der Tuer im Dunkeln musste sie ihm wohl in den Armen liegen ... Der Alte wies in das Zimmer, das er aufgedeckt hatte. "Es heisst das Liebeskabinett." Laternenschein von irgendeinem Hof fiel durch das Fenster ohne Vorhang; er beglaenzte den Spiegel und das duennbeinige Kanapee. Der Alte zog die dumpfe Luft ein, die nach wer weiss wie langer Zeit herausstroemte, er laechelte verloren. Und dann schloss er die kleine Tuer. Aber Diederich, den dies nur maessig interessierte, sah etwas kommen, das weit mehr Anregung versprach. Es war der Landgerichtsrat Fritzsche: denn er war da. Sein Urlaub war wohl zu Ende, er war zurueck aus dem Sueden, und er hatte sich eingefunden, wenn auch etwas verspaetet und wenn auch ohne Judith Lauer, deren Urlaub ja noch dauerte, solange ihr Gatte in der Vogtei sass. Wo er mit Drehungen des Koerpers, die nicht unbefangen wirkten, hindurchkam, ward gefluestert, und jeder, den er begruesste, lugte verstohlen nach dem alten Herrn Buck. Fritzsche sah wohl, dass er in der Sache etwas tun muesse; er gab sich einen Ruck und ging los. Der Alte, noch eben ahnungslos, fand ihn ploetzlich vor sich. Er ward vollkommen weiss; Diederich erschrak und streckte schon die Arme aus. Aber es geschah nichts, der Alte hatte sich zurueck. Er stand da, so steif, dass sein Ruecken sich aushoehlte, und blickte kuehl und unverwandt auf den Mann, der seine Tochter entfuehrt hatte. "Schon zurueck, Herr Landgerichtsrat?" sagte er laut. Fritzsche versuchte jovial zu lachen. "Schoeneres Wetter war dort unten, Herr Stadtrat. Na und die Kunst!" "Davon haben wir hier nur einen Widerschein" - und der Alte wies, ohne den anderen aus den Augen zu lassen, ueber die Waende. Seine Haltung machte Eindruck auf die meisten, die von dort hinten seine Schwaeche belauerten. Er hielt stand und repraesentierte, in einer Lage, die einige Hemmungslosigkeit immerhin erklaert haben wuerde. Er repraesentierte das alte Ansehen, er allein fuer die zerfallende Familie, fuer das Gefolge, das schon ausblieb. In diesem Augenblick gewann er, statt so vieles Verlorenen, manche Sympathien ... Diederich hoerte ihn noch sagen, foermlich und klar: "Ich habe es durchgesetzt, dass unser moderner Strassenzug eine andere Richtung bekam, bloss um dies Haus zu erhalten und diese Malereien. Sie haben nur den Wert von Schilderungen, mag sein. Aber ein Gebilde, das seiner Zeit und ihren Sitten Dauer verleihen moechte, kann hoffen, selbst zu dauern." Dann drueckte Diederich sich, er schaemte sich fuer Fritzsche. Die Schwiegermutter des Buergermeisters fragte ihn, was der Alte ueber die "Heimliche Graefin" geaeussert habe. Diederich dachte nach, und er musste gestehen, er habe das Stueck gar nicht erwaehnt. Beide waren enttaeuscht. Indes bemerkte er, dass Kaethchen Zillich spoettisch hersah, und gerade sie hatte sich nichts zu erlauben. "Nun, Fraeulein Kaethchen", sagte er recht laut. "Was denken Sie ueber den gruenen Engel?" Sie erwiderte noch lauter: "Der gruene Engel? Sind Sie das?" Und sie lachte ihm ins Gesicht. "Sie sollten wirklich vorsichtiger sein", meinte er stirnrunzelnd. "Ich fuehle mich geradezu verpflichtet, Ihren Herrn Vater aufmerksam zu machen." "Papa!" rief Kaethchen sofort. Diederich erschrak. Gluecklicherweise hoerte Pastor Zillich nicht. "Natuerlich hab' ich meinem Papa gleich neulich von unserem kleinen Ausflug erzaehlt. Was macht es denn, es waren doch nur Sie." Sie ging zu weit. Diederich schnaufte. "Na und fuer Liebhaber schoener Ohren war auch noch Jadassohn da." Da er sah, dass es sie traf, setzte er hinzu: "Das naechste Mal im gruenen Engel streichen wir sie ihm gruen an, das macht Stimmung." "Wenn Sie meinen, dass es auf die Ohren ankommt." Dabei drueckte Kaethchens Blick eine so schrankenlose Verachtung aus, dass Diederich den Entschluss fasste, mit allen Mitteln einzuschreiten. Sie befanden sich bei der Pflanzengruppe. "Was glauben Sie?" fragte er. "Wird die Schaeferin ueber den Bach springen und den Schaefer gluecklich machen?" "Schaf", sagte sie. Diederich ueberhoerte es, ging hin und tastete an der Wand umher. Nun hatte er die Tuer. "Sehen Sie? Sie springt." Kaethchen kam naeher, neugierig streckte sie ihren Hals in das geheime Zimmer. Da hatte sie einen Stoss und war ganz drinnen. Diederich warf die Tuer zu, er fiel stumm ueber Kaethchen her, mit wildem Schnaufen. "Lassen Sie mich hinaus, ich kratze!" rief sie und wollte kreischen. Aber sie musste lachen, was sie wehrlos machte und dem Sofa immer naeher brachte. Der Kampf mit ihren entbloessten Armen und Schultern versetzte ihn vollends ausser sich. "Jawohl," keuchte er, "jetzt kommt was." Bei jedem Strich Boden, den er gewann, wiederholte er: "Jetzt kommt was. Bin ich noch ein Schaf? Aha, wenn man denkt, ein Maedchen ist anstaendig, und man hat ehrliche Absichten, ist man ein Schaf. Jetzt kommt was." Mit einem letzten Ruck schleuderte er sie hin. "Au", sagte sie; und vor Lachen erstickend: "Was kommt denn jetzt?" Ploetzlich ward ihre Verteidigung ernst. Sie rang sich hervor; der Streifen Gaslicht, den das kahle Fenster hereinliess, beschien ihre Unordnung; und ihr Gesicht, von der Anstrengung wie geschwollen, war nach der Tuer gerichtet. Er wandte den Kopf: da stand Guste Daimchen. Sie starrte entgeistert her, Kaethchen quollen die Augen heraus, und Diederich, auf dem Sofa kniend, verrenkte sich den Hals ... Endlich zog Guste die Tuer an, sie ging entschlossen auf Kaethchen zu. "Du gemeines Luder!" sagte sie aus tiefem Innern. "Selber eins!" sagte Kaethchen, schnell gefasst. Da schnappte Guste nur noch nach Luft. Von Kaethchen sah sie zu Diederich, ratlos und so empoert, dass ihr Blick sich mit feuchtem Glanz fuellte. Er versicherte: "Fraeulein Guste, es handelt sich um einen Scherz"; aber er kam schlecht an, Guste brach los. "Sie kenn' ich, von Ihnen kann ich es mir denken." "So, du kennst ihn", bemerkte Kaethchen hoehnisch. Sie stand auf, indes Guste ihr noch naeher rueckte. Diederich seinerseits ergriff die Gelegenheit, gab seiner Haltung Wuerde und trat zurueck, um die Damen unter sich die Sache erledigen zu lassen. "Dass ich so was muss mit ansehen!" rief Guste; und Kaethchen: "Du hast gar nichts gesehen! Wozu siehst du es dir ueberhaupt an?" Diederich begann gleichfalls dies auffallend zu finden, zumal da Guste schwieg. Kaethchen gewann sichtlich die Oberhand. Sie warf den Kopf zurueck und sagte: "Von dir finde ich es ueberhaupt sonderbar. Wer so viel Butter auf dem Kopf hat wie du!" Sofort zeigte Guste sich tief beunruhigt. "Ich?" fragte sie gedehnt. "Was tu' ich denn?" Kaethchen zierte sich ploetzlich - indes Diederich vom Schrecken gepackt ward. "Das wirst du wohl selbst wissen. Mir ist es zu peinlich." "Ich weiss gar nichts", sagte Guste klagend. "So was haette man gedacht, das es gar nicht gibt", sagte Kaethchen und ruempfte die Nase. Guste verlor die Geduld. "Nun bitte ich es mir aber aus! Was habt ihr alle?" Diederich schlug vor: "Es ist doch wohl besser, wenn wir jetzt das Lokal verlassen." Aber Guste stampfte auf. "Keinen Schritt tu' ich, bis ich es weiss. Den ganzen Abend merke ich schon, dass sie mich anglotzen, als ob ich einen toten Fisch verschluckt habe." Kaethchen wandte sich weg. "Na, da siehst du es. Sei froh, dass sie dich nicht hinauswerfen mitsamt deinem Halbbruder Wolfgang." "Mit wem?... Mein Halbbruder ... Wieso Halbbruder?" In einer tiefen Stille keuchte Guste leise und irrte mit den Augen umher. Auf einmal hatte sie begriffen. "So eine Gemeinheit!" rief sie entsetzt. Ueber Kaethchens Mienen breitete sich ein Laecheln des Genusses aus. Diederich seinerseits wehrte beteuernd ab. Guste streckte den Finger aus gegen Kaethchen. "Das habt ihr Maedchen euch ausgedacht! Ihr seid mir neidisch wegen meinem Geld!" "Poeh", machte Kaethchen. "Dein Geld wollen wir ueberhaupt nicht, wenn so was dabei ist." "Es ist doch nicht wahr!" Guste kreischte auf. Ploetzlich fiel sie vornueber auf das Sofa und wimmerte. "Ach Gott, ach Gott, was haben wir da angerichtet." "Siehst du wohl", sagte Kaethchen, frei von Mitleid. Guste schluchzte immer lauter; Diederich beruehrte ihre Schulter. "Fraeulein Guste, Sie wollen doch nicht, dass die Leute kommen." Er suchte nach einem Trost. "So was kann man nie wissen. Aehnlich sehen Sie sich nicht." Aber der Trost wirkte anstachelnd auf Guste. Sie sprang auf und ging zum Angriff ueber. "Du - du bist ueberhaupt eine feine Nummer", zischte sie Kaethchen zu. "Von dir sag' ich, was ich gesehen habe!" "Das werden sie dir glauben! So einer glaubt keiner mehr was. Von mir weiss jeder, dass ich anstaendig bin." "Anstaendig! Streich dir wenigstens das Kleid glatt!" "So gemein wie du -" "Bist bloss noch du!" Hierueber erschraken beide, brachen ab und verharrten einander gegenueber, Hass und Angst in ihren dicken Gesichtern, die sich so sehr glichen; und die Buesten nach vorn, die Schultern hinauf, die Arme in die Hueften gestemmt, sahen sie aus, als sollten ihnen die duftigen Ballkleider vom Leibe platzen. Guste unternahm noch einen Vorstoss. "Ich sag' es doch!" Da sprengte Kaethchen die letzte Fessel. "Dann mach' aber schnell, sonst komm' ich frueher und erzaehl' allen, dass nicht du, sondern ich hier die Tuer hab' aufgemacht und hab' euch beide ertappt." Da hierauf Guste nur noch mit den Lidern klappte, setzte Kaethchen, ploetzlich selbst ernuechtert, hinzu: "Nun ja, das bin ich mir doch schuldig. Bei dir kommt es nicht mehr darauf an." Aber Diederichs Blick war Gustes begegnet, verstaendigte sich mit ihr und glitt hinunter, bis er auf ihrem kleinen Finger den Brillanten traf, den sie gemeinsam aus den Lumpen gezogen hatten. Da laechelte Diederich ritterlich, und Guste, tief erroetet, trat so nahe zu ihm, als lehnte sie sich an. Kaethchen schlich zur Tuer. Ueber Gustes Schulter geneigt, sagte Diederich leise: "Ihr Verlobter laesst Sie aber lange allein." - "Ach der", erwiderte sie. Er senkte das Gesicht noch ein wenig und drueckte es auf ihre Schulter. Sie hielt ganz still. "Schade", sagte er und zog sich so unerwartet zurueck, dass Guste ausglitt. Sie begriff auf einmal, dass ihre Lage sich wesentlich veraendert hatte. Ihr Geld war nicht mehr Trumpf, es war entwertet, ein Mann wie Diederich war mehr wert. Sofort bekam sie einen Blick wie eine Huendin. Diederich sagte gemessen: "An der Stelle Ihres Verlobten wuerde ich allerdings anders vorgehen." Kaethchen zog mit aeusserster Behutsamkeit die Tuer wieder an, sie kehrte zurueck, den Finger auf den Lippen. "Wisst ihr was? Das Theater hat wieder angefangen - schon lange, glaube ich." "O Gott!" sagte Guste; und Diederich: "Na, dann sitzen wir in der Falle." Er suchte die Waende ab nach einem Ausgang; er rueckte sogar das Sofa fort. Da keiner zu finden war, entruestete er sich. "Hier ist tatsaechlich eine Falle. Und um der alten Baracke willen hat der Herr Buck den ganzen Strassenzug verlegt. Er soll es noch erleben, dass ich sie ihm einreisse! Bloss erst Stadtverordneter sein!" Kaethchen kicherte. "Was schnauben Sie denn so? Hier ist es doch ganz gemuetlich. Jetzt koennen wir machen, was wir wollen." Und sie sprang ueber das Sofa. Da gab Guste sich einen Ruck und wollte auch hinueber. Sie blieb aber haengen. Diederich fing sie auf. Auch Kaethchen haengte sich an ihn. Er zwinkerte beiden zu. "Also was machen wir?" Kaethchen sagte: "Das muessen Sie wissen. Wir drei kennen uns ja nun." - "Und zu verlieren haben wir auch nichts mehr", sagte Guste. Dann platzten sie alle aus. Aber Kaethchen entsetzte sich. "Kinder! In dem Spiegel seh' ich aus wie meine tote Grossmutter." "Er ist ganz schwarz." "Und ganz bekritzelt." Sie legten die Gesichter darauf, um im fahlen Gaslicht die Ausrufe und Kosenamen zu lesen, die zusammen mit alten Jahreszahlen in den Umrissen verschlungener Herzen standen, auf eingeritzten Vasen, Amoretten und sogar ueber Graebern. "Auf der Urne hier unten, nein so was!" sagte Kaethchen. "'Erst jetzt sollen wir leiden' ... Warum? Weil sie hier drinnen waren? Die waren wohl verrueckt." "Wir sind nicht verrueckt", behauptete Diederich. "Fraeulein Guste, Sie haben doch einen Brillanten." Er zeichnete drei Herzen, versah sie mit einer Inschrift und liess die Maedchen das Werk entraetseln. Da sie sich kreischend abwandten, sagte er stolz: "Wozu heisst dies das Liebeskabinett." Ploetzlich stiess Guste einen Schreckensruf aus. "Hier sieht jemand zu!" Hinter dem Spiegel hervor streckte sich ein geisterbleicher Kopf!... Kaethchen war schon bei der Tuer. "Kommen Sie wieder her", rief Diederich. "Es ist bloss gemalt." Der Spiegel hatte sich auf einer Seite von der Wand geloest, man konnte ihn noch weiter umwenden: da trat die ganze Figur heraus. "Es ist die Schaeferin, die draussen ueber den Bach springt!" "Jetzt hat sie es hinter sich", sagte Diederich; denn die Schaeferin sass da und weinte. Auf der Rueckseite des Spiegels aber entfernte sich der Schaefer. "Und dort kommt man hinaus!" Diederich wies auf einen erleuchteten Spalt, er tastete, die Tapete oeffnete sich. "Dies ist der Ausgang, wenn man es hinter sich hat", bemerkte er und ging voraus. Ihm im Ruecken sagte Kaethchen spoettisch: "Ich habe gar nichts hinter mir." Und Guste wehmuetig: "Ich auch nicht." Diederich ueberhoerte dies, er stellte fest, dass man sich in einem der kleinen Salons hinter dem Buefett befand. Eilends erreichte er die Spiegelgalerie und verlor sich unauffaellig in der Menge, die soeben aus dem Saal quoll. Man war erfuellt von dem tragischen Schicksal der heimlichen Graefin, die nun also doch den Klavierlehrer geheiratet hatte. Frau Harnisch, Frau Cohn, die Schwiegermutter des Buergermeisters, alle hatten verweinte Augen; Jadassohn, der, schon abgeschminkt, Lorbeeren einzusammeln kam, ward von den Damen nicht gut aufgenommen. "Sie sind schuld, Herr Assessor, dass es so gekommen ist! Schliesslich war sie doch Ihre leibliche Schwester." - "Pardon, meine Damen!" Und Jadassohn verteidigte seinen Standpunkt als legitimer Erbe der graeflichen Besitzungen. Da sagte Meta Harnisch: "Aber so herausfordernd brauchten Sie nicht auszusehen." Sofort richteten sich alle Blicke auf seine Ohren; man kicherte; und Jadassohn, der vergeblich kraehte, was denn los sei, ward von Diederich unter den Arm genommen. Diederich, das suesse Pochen der Rache im Herzen, fuehrte ihn eben dorthin, wo die Regierungspraesidentin unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste um ihr Werk sich vom Major Kunze verabschiedete. Kaum aber dass sie Jadassohn erblickte, drehte sie einfach den Ruecken. Jadassohn blieb am Boden haften, Diederich brachte ihn nicht mehr weiter. "Was ist denn?" fragte er heuchlerisch. "Ach ja, die Praesidentin. Sie haben ihr nicht gefallen. Sie sollen auch nicht Staatsanwalt werden. Man sah Ihre Ohren zu sehr." Was aber Diederich auch erwartet hatte, diese Spottgeburt einer Grimasse hatte er nicht erwartet! Wo war die hochgemute Schneidigkeit, der Jadassohn sein Leben geweiht hatte? "Ich sage es ja", aeusserte er nur, ganz leise; aber man glaubte einen grauenvollen Aufschrei zu hoeren ... Dann kam er in Bewegung, tanzte am Fleck umher und redete. "Sie koennen lachen, mein Bester! Sie wissen nicht, was Sie an Ihrem Gesicht haben. Ihr Gesicht, nichts weiter, und in zehn Jahren bin ich Minister." "Na, na", sagte Diederich. Er setzte hinzu: "Das ganze Gesicht brauchen Sie nicht einmal: bloss die Ohren." "Wollen Sie sie mir verkaufen?" fragte Jadassohn und sah ihn an, dass Diederich erschrak. "Kann man das?" fragte er unsicher. Jadassohn ging schon, unter zynischem Lachen, auf Heuteufel zu. "Sie sind doch Spezialist fuer Ohren, Herr Doktor ..." Heuteufel erklaerte ihm, dass tatsaechlich, wenn auch bisher nur in Paris, Operationen ausgefuehrt wuerden, durch die man Ohren auf die Haelfte ihres Umfanges herunterbringe. "Wozu gleich das Ganze weg?" sagte Heuteufel. "Die Haelfte koennen Sie ruhig behalten." Jadassohn hatte seine Haltung zurueck. "Grossartiger Witz! Erzaehl' ich bei Gericht. Sie Gauner!" Und er klopfte Heuteufel auf den Bauch. Diederich inzwischen wandte sich seinen Schwestern zu, die, zum Ball umgekleidet, aus der Garderobe kamen. Sie wurden allerseits mit Beifall begruesst und berichteten von ihren Eindruecken auf der Buehne. "Tee - Kaffee: Gott, war das aufregend!" sagte Magda. Auch Diederich als Bruder nahm Glueckwuensche entgegen. Er schritt zwischen ihnen, Magda hatte sich in ihn eingehaengt, Emmis Arm dagegen musste er gewaltsam festhalten. Sie zischte: "Lass die Komoedie"; und er schnob ihr zu, zwischen Lachen und Gruessen: "Du hast zwar bloss die kleine Rolle gehabt, aber sei froh, wenn du ueberhaupt mal was vorstellst. Sieh Magda an!" Denn Magda schmiegte sich gefaellig an ihn, sie schien bereit, das Glueck der einigen Familie so lange spazieren zu fuehren, als er es irgend wuenschte. "Kleine," sagte er mit zaertlicher Achtung, "du hast Erfolg gehabt. Aber ich kann dir versichern, ich auch." Er gab ihr sogar Schmeicheleien. "Du siehst heute suess aus. Fuer Kienast bist du fast zu schade." Als dann noch die Regierungspraesidentin, schon im Fortgehen, ihnen gnaedig zuwinkte, begegneten die Geschwister auf ihrem Weg nur den ergebensten Gesichtern. Der Saal war ausgeraeumt; hinter der Palmengruppe ward eine Polonaese angestimmt. Diederich machte seine korrekteste Verbeugung vor Magda und schritt mit ihr zum Tanz, triumphierend, gleich nach dem Major Kunze, der fuehrte. So zogen sie an Guste Daimchen vorueber, die sass. Sie sass neben dem verwachsenen Fraeulein Kuehnchen und sah ihnen nach, als habe sie Pruegel bekommen. Ihr Anblick beruehrte Diederich fast so unheimlich, wie der des Herrn Lauer in der Vogtei. "Die arme Guste!" sagte Magda. Diederich runzelte die Brauen. "Ja ja, das kommt davon." "Aber eigentlich" - und Magda blinzelte von unten, "woher kommt es denn?" "Das ist gleich, mein Kind, jetzt ist es mal so." "Diedel, du solltest sie nachher doch zum Walzer bitten." "Das darf ich nicht. Man muss wissen, was man sich selbst schuldet." Dann verliess er sogleich den Saal. Soeben holte der junge Sprezius, der jetzt nicht mehr Leutnant, sondern wieder Primaner war, das verwachsene Fraeulein Kuehnchen von der Wand weg. Er nahm wohl Ruecksicht auf ihren Vater. Guste Daimchen blieb sitzen ... Diederich machte einen Gang durch die Seitenzimmer, wo aeltere Herren Karten spielten, bekam eine lange Nase von Kaethchen Zillich, die er hinter einer Tuer mit einem Schauspieler ueberraschte, und gelangte zum Buefett. Dort sass an einem Tischchen Wolfgang Buck und zeichnete in sein Notizbuch die Muetter, die um den Saal herum warteten. "Sehr talentvoll", sagte Diederich. "Haben Sie auch schon Ihr Fraeulein Braut portraetiert?" "In der Beziehung interessiert sie mich nicht," erwiderte Buck, so phlegmatisch, dass Diederich Zweifel kamen, ob seine Erlebnisse mit Guste im Liebeskabinett ihren Verlobten interessiert haben wuerden. "Mit Ihnen weiss man ueberhaupt nicht", sagte er enttaeuscht. "Mit Ihnen weiss man immer", sagte Buck. "Damals vor Gericht, waehrend Ihres grossen Monologes, haette ich Sie zeichnen moegen." "Ihr Plaedoyer hat mir genuegt; es war ein Versuch, wenn auch gluecklicherweise ein misslungener, meine Person und mein Wirken vor der breitesten Oeffentlichkeit in Misskredit zu bringen und veraechtlich zu machen!" Diederich blitzte, Buck bemerkte es erstaunt. "Mir scheint, Sie sind beleidigt. Und ich habe es doch so gut gesagt." Er bewegte den Kopf und laechelte, grueblerisch und entzueckt. "Wollen wir nicht 'ne Flasche Sekt zusammen trinken?" fragte er. Diederich meinte: "Ob ich nun gerade mit Ihnen -." Aber er gab nach. "Das Gericht hat durch sein Urteil festgestellt, dass Ihre Vorwuerfe sich nicht allein gegen mich, sondern gegen alle national gesinnten Maenner richteten. Damit sehe ich die Sache als erledigt an." "Dann also Heidsieck?" fragte Buck. Er noetigte Diederich, mit ihm anzustossen. "Das werden Sie doch zugeben, bester Hessling, so eingehend wie ich, hat sich mit Ihnen ueberhaupt noch niemand beschaeftigt ... Jetzt kann ich es Ihnen sagen: Ihre Rolle vor Gericht hat mich mehr interessiert als meine eigene. Spaeter, zu Hause vor meinem Spiegel, habe ich sie Ihnen nachgespielt." "Meine Rolle? Sie wollen wohl sagen, meine Ueberzeugung. Freilich, fuer Sie ist der repraesentative Typus von heute der Schauspieler." "Das sagte ich mit Beziehung auf - einen anderen. Aber Sie sehen, wieviel naeher ich es habe zu der Beobachtung ... Wenn ich morgen nicht die Waschfrau zu verteidigen haette, die bei Wulckows Unterhosen gestohlen haben soll, vielleicht wuerde ich den Hamlet spielen. Prost!" "Prost. Dazu brauchen Sie allerdings keine Ueberzeugungen!" "Gott, ich habe auch welche. Aber immer dieselben?... Sie wuerden mir also das Theater anraten?" fragte Buck. Diederich hatte schon den Mund geoeffnet, um es ihm anzuraten, da trat Guste ein, und Diederich erroetete, denn er hatte bei Bucks Frage an sie gedacht. Buck sagte traeumerisch: "Inzwischen wuerde mein Topf mit Wurst und Kohl mir ueberkochen, und es ist doch ein so gutes Gericht." Aber Guste, auf leisen Sohlen, legte ihm von rueckwaerts die Haende auf die Augen und fragte: "Wer ist das?" - "Da ist er ja," sagte Buck und gab ihr einen Klaps. "Die Herren unterhalten sich wohl gut? Soll ich wieder gehen?" fragte Guste. Diederich beeilte sich, ihr einen Stuhl zu holen; aber in Wirklichkeit waere er lieber mit Buck allein gewesen; der fiebrige Glanz in Gustes Augen versprach nichts Gutes. Sie redete gelaeufiger als sonst. "Ihr passt eigentlich grossartig zueinander, bloss dass ihr so foermlich tut." Buck sagte: "Das ist die gegenseitige Achtung." Diederich stutzte, und dann machte er eine Bemerkung, die ihn selbst in Erstaunen setzte. "Eigentlich - sooft ich mich von Ihrem Herrn Braeutigam trenne, hab' ich Wut auf ihn; beim naechsten Wiedersehen aber freu' ich mich." Er richtete sich auf. "Wenn ich naemlich noch kein national gesinnter Mann waere, wuerde er mich dazu machen." "Und wenn ich es waere," sagte Buck, weich laechelnd, "wuerde er es mir abgewoehnen. Das ist der Reiz." Aber Guste hatte sichtlich andere Sorgen; sie war erbleicht und schluckte hinunter. "Jetzt sag' ich dir was, Wolfgang. Wetten, dass du umfaellst?" "Herr Rose, Ihren Hennessy!" rief Buck. Waehrend er Kognak mit Sekt mischte, umklammerte Diederich Gustes Arm; und da die Ballmusik gerade sehr laut war, fluesterte er beschwoerend: "Sie werden doch keine Dummheiten machen?" Sie lachte wegwerfend. "Doktor Hessling hat Angst! Er findet die Geschichte zu gemein, ich finde sie bloss ulkig." Und laut lachend: "Was sagst du? Dein Vater soll mit meiner Mutter: du verstehst. Und infolgedessen sollen wir: du verstehst?" Buck bewegte langsam den Kopf; und dann verzog er den Mund. "Wenn schon." Da lachte Guste nicht mehr. "Wieso, wenn schon?" "Nun, wenn die Netziger an so etwas glauben, muss es bei ihnen wohl alle Tage vorkommen, tut also nichts." "Redensarten machen den Kohl nicht fett", entschied Guste. Diederich glaubte sich denn doch verwahren zu muessen. "Ueberall koennen Fehltritte vorkommen. Aber ueber die Meinung seiner Mitmenschen setzt niemand sich ungestraft hinweg." Guste bemerkte: "Er glaubt immer, er ist zu gut fuer diese Welt." Und Diederich: "Dies ist eine harte Zeit. Wer sich nicht wehrt, muss dran glauben." Da rief Guste voll schmerzlicher Begeisterung: "Doktor Hessling ist nicht wie du! Er hat mich verteidigt! Ich hab' den Beweis, dass ich es weiss, von Meta Harnisch, weil sie schliesslich hat muessen den Mund auftun. Er war ueberhaupt der einzige, der mich hat verteidigt. Er an deiner Stelle taete sich die Leute kaufen, die sich unterstehen und verklatschen mich!" Diederich bestaetigte es durch Nicken. Buck drehte immerfort sein Glas und spiegelte sich darin. Ploetzlich liess er es los. "Wer sagt euch denn, dass ich mir nicht auch ganz gern einmal einen kaufen wuerde - einen herausgreifen, ohne besondere Auswahl, weil doch alle so ziemlich gleich dumm und gemein sind?" Dabei kniff er die Augen zu. Guste hob die nackten Schultern. "So was sagt man, aber sie sind gar nicht so dumm, sie wissen, was sie wollen ... Der Duemmere ist der Kluegere", schloss sie herausfordernd, und Diederich nickte mit Ironie. Da sah Buck ihn an, aus Augen, die auf einmal wie irrsinnig waren. Die Faeuste bewegte er mit krampfigem Zittern um seinen Hals her. "Wenn ich aber -" er war ploetzlich ganz heiser - "wenn ich den einen am Kragen haette, von dem ich wuesste, er zettelt alles an, er fasst in seiner Person zusammen, was an allen haesslich und schlecht ist: ihn am Kragen haette, der das Gesamtbild waere alles Unmenschlichen, alles Untermenschlichen -." Diederich, weiss wie sein Frackhemd, drueckte sich seitwaerts vom Stuhl herunter und wich schrittweise zurueck. Guste schrie auf, sie stob panikartig nach der Wand. "Es ist der Kognak!" rief Diederich ihr zu ... Aber Bucks Blicke, die zwischen ihnen beiden, voll des graesslichsten Unheils, umherrollten, packten unvermittelt ein. Er zwinkerte, er glaenzte heiter. "An die Mischung bin ich leider gewoehnt", erklaerte er. "Es ist nur, damit ihr seht, wir koennen auch das." Diederich setzte sich polternd wieder hin. "Sie sind doch nur ein Komoediant", sagte er entruestet. "Finden Sie?" fragte Buck und glaenzte noch heller. Guste ruempfte die Nase. "Na dann amuesiert euch weiter", aeusserte sie und wollte gehen. Aber der Landgerichtsrat Fritzsche war da, er verbeugte sich vor ihr und auch vor Buck. Ob der Herr Rechtsanwalt gestatte, dass er mit dem Fraeulein Braut den Kotillon tanze. Er sprach aeusserst hoeflich, beschwichtigend gewissermassen. Buck antwortete nicht, er faltete die Brauen. Guste indessen hatte schon Fritzsches Arm genommen. Buck sah ihnen nach, eine Falte zwischen den Brauen, selbstvergessen. "Ja ja," dachte Diederich, "erfreulich ist es nicht, wenn man einem Herrn begegnet, der mit Ihrer Schwester, mein Bester, eine Vergnuegungsreise gemacht hat, und dann holt er einem die Braut vom Tisch weg, und du kannst nichts machen, weil sonst der Skandal noch groesser wird, weil naemlich unsere Verlobung selbst schon ein Skandal ist ..." Aufschreckend sagte Buck: "Wissen Sie, dass ich erst jetzt rechte Lust bekomme, Fraeulein Daimchen zu ehelichen? Ich hielt die Sache fuer - nicht sehr sensationell; aber die Einwohner von Netzig machen geradezu eine Pikanterie daraus." Diederich war starr ueber diese Wirkung. "Wenn Sie finden", brachte er hervor. "Warum nicht? Sie und ich, wir beiden Gegenpole, fuehren doch hier die vorgeschrittenen Tendenzen der moralfreien Epoche ein. Wir machen Betrieb. Der Geist der Zeit geht hier noch in Filzschuhen ueber die Strasse." "Wir werden ihm Sporen anlegen", verhiess Diederich. "Prost!" "Prost! Aber _meine_ Sporen" - Diederich blitzte. "Ihre Skepsis und Ihre schlappe Gesinnung sind nicht zeitgemaess. Mit" - er blies durch die Nase - "mit Geist ist heute nichts zu machen. Die nationale Tat" - ein Faustschlag auf den Tisch - "hat die Zukunft!" Buck darauf mit verzeihendem Laecheln: "Die Zukunft? Das ist eben die Verwechslung. Die nationale Tat hat abgehaust, im Lauf von hundert Jahren. Was wir erleben und noch erleben sollen, sind ihre Zuckungen und ihr Leichengeruch. Es wird keine gute Luft sein." "Von Ihnen habe ich nichts anderes erwartet, als dass Sie das Heiligste in den Schmutz ziehen!" "Heilig! Unantastbar! Sagen wir gleich ewig! Nicht wahr? Ausserhalb der Ideale eures Nationalismus wird nie, nie wieder gelebt werden. Frueher, mag sein, in der dunkeln Periode der Geschichte, die euch noch nicht kannte. Jetzt aber seid ihr da, und die Welt ist angelangt. Duenkel und Hass der Nationen, das ist das Ziel, darueber hinaus geht es nicht." "Wir leben in einer harten Zeit", bestaetigte Diederich ernst. "Weniger hart als verkalkt ... Ich bin nicht ueberzeugt, dass die Menschen, deren Dasein in den Dreissigjaehrigen Krieg fiel, an die Unabaenderlichkeit ihres auch nicht weichen Zustandes geglaubt haben. Und ich bin ueberzeugt, dass die Rokokowillkuer von denen, die ihr unterlagen, fuer ueberwindbar gehalten worden ist, sonst haetten sie nicht die Revolution gemacht. Wo ist, in den Raeumen der Geschichte, die wir seelisch noch betreten koennen, die Zeit, die sich in Permanenz erklaert und aufgetrumpft haette vor der Ewigkeit mit ihrer traurigen Beschraenktheit. Die jeden nicht ganz in ihr Befangenen aberglaeubisch bemaekelt haette. Nicht national gesinnt sein erregt bei euch noch mehr Grauen als Hass! Aber die vaterlandslosen Gesellen sind euch auf den Fersen. Dort im Saal, sehen Sie sie?" Diederich verschuettete seinen Sekt, so schnell fuhr er herum. War denn Napoleon Fischer eingedrungen, mit den Genossen?... Buck lachte stumm und innig. "Bemuehen Sie sich nicht, ich meine nur das stille Volk auf den Waenden. Warum scheinen sie so heiter? Was gibt ihnen das Recht auf Blumenwege, leichten Schritt und Harmonie? Ah! Ihr Freunde!" Ueber die Tanzenden hinweg schwenkte Buck sein Glas. "Ihr Freunde der Menschheit und jeder guten Zukunft, weitherzig und unbekannt mit der duesteren Selbstsucht eines nationalen Vetternbundes: Weltseelen ihr, kehrt wieder! Selbst unter uns noch erwarten euch einige!" Er trank aus, Diederich bemerkte mit Verachtung, dass er weinte. Uebrigens bekam er sogleich eine schlaue Miene. "Ihr aber, Zeitgenossen, wisst wohl nicht, was der alte Buergermeister, der da hinten zwischen den Amtspersonen und Schaeferinnen rosig laechelt, als Schleife ueber der Brust traegt? Die Farben sind verblichen; ihr denkt wohl, es sind die euren? Es ist aber die franzoesische Trikolore. Sie war neu damals und nicht die eines Landes, sondern der allgemeinen Morgenroete. Sie zu tragen, war beste Gesinnung; es war, wie ihr sagen wuerdet, streng korrekt. Prost!" Aber Diederich war verstohlen mit seinem Stuhl davongerueckt und spaehte umher, ob niemand hoere. "Sie sind ja besoffen," murmelte er; und um die Situation zu retten, rief er: "Herr Rose! Noch eine Flasche!" Darauf setzte er sich achtunggebietend zurecht. "Sie scheinen nicht daran zu denken, dass seitdem ein Bismarck da war!" "Nicht nur einer", sagte Buck. "Von allen Seiten ist Europa in diesen nationalen Durchgang getrieben worden. Nehmen wir an, er war nicht zu vermeiden. Nach ihm werden bessere Gefilde kommen ... Aber seid ihr eurem Bismarck etwa gefolgt, solange er im Recht war? Ihr habt euch zerren lassen, ihr habt mit ihm im Konflikt gelebt. Erst jetzt, da ihr ueber ihn hinaus sein solltet, haengt ihr euch an seinen kraftlosen Schatten! Denn euer nationaler Stoffwechsel ist entmutigend langsam. Bis ihr begriffen habt, dass ein grosser Mann da ist, hat er schon aufgehoert, gross zu sein." "Sie werden ihn kennenlernen!" verhiess Diederich. "Blut und Eisen bleibt die wirksamste Kur! Macht geht vor Recht!" Der Kopf schwoll ihm rot an bei diesen Glaubenssaetzen. Aber auch Buck regte sich auf. "Die Macht! Die Macht laesst sich nicht ewig auf Bajonetten davontragen wie eine aufgespiesste Wurst. Die einzige reale Macht ist heute der Friede! Spielt euch die Komoedie der Gewalt vor! Prahlt gegen eingebildete Feinde draussen und im Innern! Taten, gluecklicherweise, sind euch nicht erlaubt!" "Nicht erlaubt?" Diederich blies, als sollte Feuer kommen. "Seine Majestaet hat gesagt: Lieber lassen wir unsere gesamten achtzehn Armeekorps und zweiundvierzig Millionen Einwohner auf der Strecke ..." "Denn wo der deutsche Aar -!" rief Buck, mit jaehem Schwung; und noch wilder: "Nicht Parlamentsbeschluesse! Die einzige Saeule ist das Heer!" Diederich gab ihm nichts nach. "Ihr seid berufen, mich in erster Linie vor dem aeusseren und inneren Feind zu schuetzen!" "Einer hochverraeterischen Schar zu wehren!" schrie Buck. "Eine Rotte von Menschen -" Diederich fiel ein: "- nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen!" Und beide einstimmig: "Verwandte und Brueder niederschiessen!" Taenzer, die sich am Buefett erfrischten, wurden aufmerksam auf ihr Geschrei, sie holten auch ihre Damen herbei, um ihnen den Anblick eines heldenhaften Rausches zu verschaffen. Sogar die Kartenspieler streckten die Koepfe herein; und alle bestaunten Diederich und seinen Partner, die auf ihren Stuehlen schwankend und an den Tisch geklammert mit glasigen Augen und entbloessten Gebissen einander starke Worte ins Gesicht schleuderten. "Einen Feind, und der ist mein Feind!" "Einer nur ist Herr im Reich, keinen anderen dulde ich!" "Ich kann sehr unangenehm sein!" Die Stimmen ueberschlugen sich. "Falsche Humanitaet!" "Vaterlandslose Feinde der goettlichen Weltordnung!" "Muessen ausgerottet werden bis auf den letzten Stumpf!" Eine Flasche flog gegen die Wand. "Zerschmettere ich!" "Deutschen Staub!... Pantoffeln!... Herrliche Tage!" Hier glitt durch die Zuschauer ein Wesen mit verbundenen Augen: Guste Daimchen, die sich auf diese Weise einen Herrn suchen sollte. Von rueckwaerts betastete sie Diederich und wollte ihn zum Aufstehen bewegen. Er machte sich steif und wiederholte drohend: "Herrliche Tage!" Sie riss das Tuch herunter, starrte ihn angstvoll an und holte seine Schwestern. Auch Buck sah ein, dass es angezeigt sei, aufzubrechen. Unauffaellig stuetzte er den Freund beim Abgang, konnte aber nicht verhindern, dass Diederich in der Tuer sich nochmals umwandte, der tanzenden, gaffenden Menge zu, gebieterisch aufgereckt, wenn auch verglast und ohne Blitzen. "Zerschmettere ich!" Dann ward er hinunter und in den Wagen befoerdert. Als er gegen Mittag mit schweren Kopfschmerzen das Familienzimmer betrat, war er sehr erstaunt, dass Emmi es entruestet verliess. Aber Magda brauchte ihm nur einige vorsichtige Andeutungen zu machen, da wusste er schon wieder, um was es sich handelte. "Hab' ich das wirklich gemacht? Na ja, ich gebe zu, es waren Damen dabei. Es gibt verschiedene Arten, sich als deutscher Mann zu zeigen: bei den Damen ist es wieder eine andere ... Natuerlich beeilt man sich in solchem Fall, die Sache in der loyalsten und korrektesten Weise beizulegen." Obwohl er kaum aus den Augen sehen konnte, war ihm klar, was zu geschehen hatte. Indes ein zweispaenniger Paradewagen herbeigeholt ward, bekleidete er sich mit Gehrock, weisser Krawatte und Zylinder; dann ueberreichte er dem Kutscher die von Magda aufgesetzte Liste und fuhr los. Ueberall verlangte er nach den Damen; manche schreckte er vom Mittagessen auf; - und ohne deutlich zu erkennen, ob er Frau Harnisch, Frau Daimchen oder Frau Tietz vor sich habe, sagte er mit rauher Katerstimme her: "Ich gebe zu ... Als deutscher Mann, bei Damen ... Loyalste und korrekteste Weise ..." Um halb zwei war er zurueck und liess sich aufseufzend zum Essen nieder. "Die Sache ist beigelegt." Der Nachmittag gehoerte einer schwierigeren Aufgabe. Diederich liess Napoleon Fischer hinauf in seine Privatwohnung kommen. "Herr Fischer," sagte er und wies ihm einen Stuhl an, "ich empfange Sie hier und nicht in meinem Bureau, weil den Herrn Soetbier unsere Angelegenheiten nichts angehen. Es betrifft naemlich die Politik." Napoleon Fischer nickte, als habe er sich dies schon gedacht. Er schien an solche vertraulichen Unterredungen nunmehr gewoehnt, auf Diederichs ersten Wink griff er sogleich in die Zigarrenkiste; er schlug sogar das Bein ueber. Diederich war weit weniger sicher; er schnaufte - und dann entschloss er sich, ohne Umschweife, mit brutaler Ehrlichkeit auf sein Ziel loszugehen. Bismarck hatte es auch so gemacht. "Ich will naemlich Stadtverordneter werden," erklaerte er, "und dazu brauche ich Sie." Der Maschinenmeister warf ihm einen Blick von unten zu. "Ich Sie auch", sagte er. "Denn ich will auch Stadtverordneter werden." "Nanu, na hoeren Sie mal! Ich war auf manches gefasst ..." "Sie hatten wohl schon wieder ein paar Doppelkronen in der Hand?" - und der Proletarier fletschte die gelben Zaehne. Er versteckte sein Grinsen gar nicht mehr. Diederich begriff, dass in Wahlsachen weniger leicht mit ihm zu reden sein werde als ueber eine geschundene Arbeiterin. "Naemlich, Herr Doktor," begann Napoleon, "den einen von den beiden Sitzen hat meine Partei bombensicher. Den anderen kriegen wahrscheinlich die Freisinnigen. Wenn Sie die 'rausschmeissen wollen, brauchen Sie uns." "So weit seh' ich es ein", sagte Diederich. "Ich habe zwar auch den alten Buck fuer mich. Aber seine Leute sind vielleicht nicht alle so vertrauensselig, dass sie mich waehlen, wenn ich mich als Freisinniger aufstellen lasse. Sicherer ist es, ich vertrage mich auch mit Ihnen." "Und ich hab' auch schon 'ne Ahnung, wieso Sie das machen koennen", erklaerte Napoleon. "Weil ich naemlich schon laengst 'n Auge auf Herrn Doktor habe, ob er nun nicht bald in die politische Arena 'reinsteigt." Napoleon blies Ringe, so sehr war er auf der Hoehe! "Ihr Prozess, Herr Doktor, und dann das mit dem Kriegerverein und so, das war alles ganz schoen, als Reklame. Aber fuer einen Politiker heisst es doch immer: wie viele Stimmen krieg' ich." Napoleon teilte aus dem Schatz seiner Erfahrungen mit! Als er vom "nationalen Rummel" sprach, wollte Diederich protestieren; aber Napoleon fertigte ihn schnell ab. "Was wollen Sie denn? Wir in unserer Partei haben gewissermassen allerhand Achtung vor dem nationalen Rummel. Bessere Geschaefte sind allemal damit zu machen als mit dem Freisinn. Die buergerliche Demokratie faehrt bald in einer einzigen Droschke ab." "Und die vermoebeln wir ihr auch noch!" rief Diederich. Die Bundesgenossen lachten vor Vergnuegen. Diederich holte eine Flasche Bier. "A-ber", machte der Sozialdemokrat; und er rueckte mit seiner Bedingung heraus: ein Gewerkschaftshaus, bei dessen Bau die Partei von der Stadt zu unterstuetzen war! ... Diederich sprang vom Stuhl. "Und das erdreisten Sie sich von einem nationalen Mann zu verlangen?" Der andere blieb gelassen und ironisch. "Wenn wir dem nationalen Mann nicht helfen, dass er gewaehlt wird, wo bleibt dann der nationale Mann?" - Und Diederich mochte sich empoeren oder um Gnade flehen, er musste auf ein Blatt Papier schreiben, dass er fuer das Gewerkschaftshaus nicht nur selbst stimmen, sondern auch die ihm nahestehenden Stadtverordneten bearbeiten werde. Darauf erklaerte er barsch die Unterredung fuer beendet und nahm dem Maschinenmeister die Bierflasche aus der Hand. Aber Napoleon Fischer zwinkerte. Ueberhaupt duerfe der Herr Doktor froh sein, dass er mit ihm und nicht mit dem Parteibudiker Rille verhandele. Denn Rille, der fuer seine eigene Wahl agitiere, waere zu dem Kompromiss nicht zu haben gewesen. Und in der Partei seien die Meinungen geteilt; Diederich habe also allen Grund, in der ihm nahestehenden Presse etwas fuer die Kandidatur Fischer zu tun. "Wenn fremde Leute, zum Beispiel Rille, sollten die Nase in Ihre Geschichten stecken, Herr Doktor, dafuer werden Sie sich wohl bedanken. Bei uns beiden ist es was anderes. Wir haben schon mehr Dreck zusammen verscharrt." Damit ging er und ueberliess Diederich seinen Gefuehlen. "Schon mehr Dreck zusammen verscharrt!" dachte Diederich, und Angstschauer kreuzten sich in ihm mit Wallungen des Zorns. Das durfte der Hund ihm sagen, sein eigener Kuli, den er jeden Augenblick auf die Strasse werfen konnte! Vielmehr, leider ging das nicht, denn es war wahr, sie hatten Dreck verscharrt. Der Hollaender! Die geschundene Arbeiterin! Eine Vertraulichkeit zog die andere nach sich: jetzt waren Diederich und sein Prolet nicht nur im Betrieb aufeinander angewiesen, sondern auch politisch. Am liebsten haette Diederich mit dem Parteibudiker Rille angebunden; aber dann war zu fuerchten, dass Napoleon Fischer in seiner Rachsucht auspackte, was er wusste. Diederich sah sich genoetigt, ihm auch noch gegen Rille zu helfen. "Aber" - er schuettelte die Faust gegen die Zimmerdecke - "wir sprechen uns wieder. Und wenn es zehn Jahre dauert, die Abrechnung kommt!" Hiernach oblag es ihm, dem alten Herrn Buck einen Besuch zu machen und sein biedermaennisches und schoengeistiges Gerede mit Ergebenheit anzuhoeren. Dafuer ward er Kandidat der freisinnigen Partei ... In der "Netziger Zeitung", die in einem warmen Artikel Herrn Doktor Hessling als Mensch, Buerger und Politiker den Waehlern empfahl, ward gleich darunter, wenn auch in kleinerem Druck, die Aufstellung des Arbeiters Fischer scharf beanstandet. Die sozialdemokratische Partei verfuegte, man musste es leider zugeben, ueber genug selbstaendige Gewerbetreibende, sie brauchte den buergerlichen Stadtverordneten nicht den kollegialen Verkehr mit einem gewoehnlichen Arbeiter zuzumuten. Sollte insbesondere Herr Doktor Hessling im Schosse der staedtischen Koerperschaft seinem eigenen Maschinenmeister begegnen? Dieser Ausfall des buergerlichen Blattes stellte unter den Sozialdemokraten volle Einmuetigkeit her; sogar Rille musste sich fuer Napoleon erklaeren, - der mit Glanz durch das Ziel ging. Diederich bekam von der Partei, die ihn aufstellte, nur die Haelfte der Stimmen, aber ihn retteten die Genossen. Die beiden Gewaehlten wurden gemeinsam in die Versammlung eingefuehrt. Buergermeister Doktor Scheffelweis beglueckwuenschte sie, mit dem Hinweis, dass einerseits der taetige Buerger, andererseits der emporstrebende Arbeiter -. Und schon in der naechsten Sitzung griff Diederich in die Verhandlungen ein. Zur Debatte stand die Kanalisation der Gaebbelchenstrasse. Eine betraechtliche Anzahl jener alten Vorstadthaeuser befand sich noch heute, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, im wenig ruehmlichen Besitz von Abortgruben, deren Ausduenstungen zuzeiten die ganze Gegend ueberschwemmten. Bei seinem Besuch im "Gruenen Engel" hatte Diederich die Wahrnehmung gemacht. So wandte er sich denn mit Nachdruck gegen die finanztechnischen Bedenken des Magistratsvertreters. Eine Forderung der Kulturehre duerfe kleinlichen Ruecksichten nicht weichen. "Deutschtum heisst Kultur!" rief Diederich aus. "Meine Herren! Das hat kein Geringerer gesagt als Seine Majestaet der Kaiser. Und bei anderer Gelegenheit hat Seine Majestaet das Wort gesprochen: Die Schweinerei muss ein Ende nehmen. Wo nur immer grosszuegig vorgegangen wird, da leuchtet uns das erhabene Beispiel Seiner Majestaet voran, und darum, meine Herren -" "Hurra!" rief eine Stimme links, und Diederich begegnete dem Grinsen Napoleon Fischers. Da reckte er sich auf, er blitzte. "Sehr richtig!" versetzte er schneidend. "Ich kann nicht besser schliessen. Seine Majestaet der Kaiser hurra, hurra, hurra!" Verbluefftes Schweigen, - aber da die Sozialdemokraten lachten, riefen rechts einige hurra. Doktor Heuteufel warf die Frage dazwischen, ob der merkwuerdige Zusammenhang, in den Herr Doktor Hessling die Person des Kaisers gebracht habe, nicht eigentlich eine Majestaetsbeleidigung darstelle. Aber der Vorsitzende klingelte schnell. In der Presse jedoch ward weiter debattiert. Die "Volksstimme" behauptete, Herr Hessling trage in die Stadtverordnetenversammlung den Geist des uebelsten Byzantinismus, wohingegen die "Netziger Zeitung" seine Rede als die erfrischende Tat eines unbefangenen Patrioten bezeichnete. Dass es sich aber um einen wahrhaft bedeutsamen Vorgang handelte, ward erst klar, als es im "Berliner Lokal-Anzeiger" stand. Das Blatt Seiner Majestaet war ueber das mutige Auftreten des Netziger Stadtverordneten Doktor Hessling des Lobes voll. Es stellte mit Genugtuung fest, dass der neue, entschlossen nationale Geist, fuer den der Kaiser eintrete, nunmehr auch im Lande Fortschritte mache. Die kaiserliche Mahnung werde befolgt, der Buerger erwache aus dem Schlummer, die Scheidung zwischen denen fuer ihn und denen wider ihn vollziehe sich. "Moechten viele wackere Vertreter unserer Staedte dem Beispiel des Doktor Hessling folgen!" Diese Nummer des Lokal-Anzeigers trug Diederich schon acht Tage lang auf dem Herzen, da schlich er sich um die stillste Vormittagsstunde, unter Vermeidung der Kaiser-Wilhelm-Strasse, von rueckwaerts in die Bierstube von Klappsch, wo er Gesellschaft fand: Napoleon Fischer und der Parteiwirt Rille. Obwohl das Lokal ganz leer war, zogen die drei sich in den aeussersten Winkel zurueck; Fraeulein Klappsch ward, kaum dass sie das Bier gebracht hatte, hinausgeschickt; und Klappsch selbst, der an der Tuer horchte, hoerte nur tuscheln. Er versuchte die Klappe zu Hilfe zu nehmen, durch die er bei staerkerem Besuch die Glaeser hineinreichte; aber Rille, der damit Bescheid wusste, schlug sie ihm vor der Nase zu. Immerhin hatte der Wirt bemerkt, dass Doktor Hessling aufgesprungen war und im Begriff schien, wegzugehen. Dazu werde er als nationaler Mann niemals die Hand bieten!... Spaeter aber wollte Fraeulein Klappsch, die zum Zahlen gerufen ward, doch ein Papier gesehen haben, das von allen drei unterschrieben war. Denselben Tag nachmittags hatten Emmi und Magda eine Einladung zum Tee bei Frau von Wulckow, und Diederich begleitete sie. Erhobenen Hauptes schritten die Geschwister ueber die Kaiser-Wilhelm-Strasse, Diederich lueftete kuehl den Zylinder vor den Herren, die von den Stufen der Freimaurerloge erstaunt zusahen, wie er das Gebaeude der Regierung betrat. Den Wachtposten begruesste er mit einer jovialen Handbewegung. Droben in der Garderobe stiess man auf Offiziere und ihre Damen, denen die beiden Fraeulein Hessling schon bekannt waren. Die Sporen zusammenschlagend, zog der Leutnant von Brietzen Emmi den Mantel aus, und sie dankte ihm ueber die Schulter, wie eine Graefin. Sodann trat sie Diederich auf den Fuss, damit er merke, auf welchen heissen Boden er versetzt sei. Und wirklich, als man nun Herrn von Brietzen den Vortritt in den Salon aufgenoetigt, vor der Praesidentin entzueckte Kratzfuesse ausgefuehrt hatte und mit allen bekannt geworden war: welche Aufgabe, so ehrenvoll wie gefaehrlich, auf einem Stuehlchen zwischen Damenkleider eingeengt, die Teetasse im Gleichgewicht zu erhalten, waehrend man Kuchenteller weitergab, und mit dem Kuchen ein huldigendes Laecheln zu spenden und beim Essen ein schmelzendes Wort ueber die so gelungene Auffuehrung der "Heimlichen Graefin" zu liefern, ein maennlich anerkennendes fuer die grosszuegige Verwaltungstaetigkeit des Praesidenten, ein gewichtiges ueber Umsturz und Kaisertreue - und dabei noch den Wulckowschen Hund zu fuettern, der bettelte! An die anspruchslose Gesellschaft des Ratskellers oder des Kriegervereins durfte man hier nicht denken; es hiess mit aufreibendem Laecheln in die wasserhellen Augen des Hauptmanns von Koeckeritz starren, dessen Glatze weiss, dessen Gesicht von der Mitte der Stirn abwaerts feuerrot war und der vom Exerzierplatz erzaehlte. Und wenn einem vor Gespanntheit auf die Frage, ob man gedient habe, schon der Schweiss ausbrach, erlebte man es unversehens, dass die Dame neben einem, die ihr weissblondes Haar glatt ueber den Kopf hinaufkaemmte und eine sonnenverbrannte Nase hatte, von Pferden zu sprechen anfing ... Diesmal ward Diederich durch Emmi gerettet, denn Emmi, unterstuetzt von Herrn von Brietzen, mit dem sie geradezu auf vertrautem Fuss zu stehen schien, griff gewandt in das Pferdegespraech ein, gebrauchte fachmaennische Ausdruecke, ja, schreckte nicht davor zurueck, von Ritten ins Gelaende zu phantasieren, die sie auf dem Gut einer Tante unternommen haben wollte. Als der Leutnant sich dann erbot, mit ihr auszureiten, schuetzte sie die arme Frau Hessling vor, die es nicht erlaube. Diederich erkannte Emmi nicht wieder. Ihre unheimlichen Talente liessen Magda, der es doch gelungen war, sich zu verloben, hier ganz im Schatten. Nicht ohne Bangen ward Diederich, wie nach seiner Rueckkehr aus dem "gruenen Engel", sich der unberechenbaren Wege bewusst, die ein Maedchen, wenn man es nicht sah -. Da bemerkte er, dass er eine Frage der Praesidentin ueberhoert hatte, und dass man schwieg, weil er antworten sollte. Er suchte in der Luft umher nach Hilfe, stiess aber nur auf den unerbittlichen Blick eines grossen Bildnisses, bleich und steinern, in roter Husarenuniform, eine Hand auf der Huefte, der Schnurrbart an den Augenwinkeln, und der Blick ueber die Schulter hinweg kalt blitzend! Diederich erbebte, er verschluckte sich mit Tee, Herr von Brietzen klopfte ihm den Ruecken. Eine Dame, die bisher nur immer gegessen hatte, sollte jetzt singen. Im Musikzimmer hatte man sich gruppiert. Diederich, an der Tuer, zog verstohlen die Uhr, da huestelte hinter ihm die Praesidentin. "Ich weiss wohl, lieber Doktor, dass Sie nicht uns und unserer leichten, ich moechte sagen allzu leichten Konversation Ihre Zeit opfern, die so ernsten Pflichten gehoert. Mein Mann erwartet Sie, kommen Sie nur." Den Finger auf den Lippen ging sie voran, ueber einen Gang, durch ein leeres Vorzimmer ... Ganz leise klopfte sie. Da keine Antwort kam, sah sie aengstlich auf Diederich, dem auch nicht wohl war. "Ottochen", versuchte sie, zaertlich an die verschlossene Tuer geschmiegt. Nach einer Weile des Lauschens erhob sich drinnen die fuerchterliche Bassstimme: "Hier ist kein Ottochen! Sag' den Schafskoepfen, Sie sollen ihren Tee allein saufen!" - "Er ist so sehr beschaeftigt", fluesterte Frau von Wulckow, ein wenig bleicher. "Die Schlechtgesinnten untergraben seine Gesundheit ... Leider muss ich mich jetzt meinen Gaesten widmen, der Diener soll Sie anmelden." Und sie entschwebte. Diederich wartete vergeblich auf den Diener, lange Minuten. Dann aber trat der Wulckowsche Hund ein, schritt riesenhaft und voll Verachtung an Diederich vorbei und kratzte an der Tuer. Sofort ertoente es drinnen: "Schnaps! Komm herein!" - worauf die Dogge die Tuer aufklinkte. Da sie vergass, sie wieder zu schliessen, erlaubte Diederich sich, mit hineinzuschluepfen. Herr von Wulckow sass in einer Rauchwolke am Schreibtisch, er wendete den ungeheuren Ruecken her. "Guten Tag, Herr Praesident", sagte Diederich, mit einem Kratzfuss. "Na nu, quatschst du auch schon, Schnaps?" fragte Wulckow, ohne sich umzusehen. Er faltete ein Papier, zuendete langsam eine neue Zigarre an ... "Jetzt kommt es", dachte Diederich. Aber dann begann Wulckow etwas anderes zu schreiben. Interesse an Diederich nahm nur der Hund. Offenbar fand er den Gast hier noch weniger am Platz, seine Verachtung ging in Feindseligkeit ueber; mit gefletschten Zaehnen beschnupperte er Diederichs Hose, fast war es kein Schnuppern mehr. Diederich tanzte, so geraeuschlos wie moeglich, von einem Fuss auf den anderen, und die Dogge knurrte drohend aber leise, wohl wissend, ihr Herr koennte es sonst nicht weiter kommen lassen. Endlich gelang es Diederich, zwischen sich und seinen Feind einen Stuhl zu bringen, an den geklammert er sich umherdrehte, bald langsamer, bald schneller, und immer auf der Hut vor Schnaps' Seitenspruengen. Einmal sah er Wulckow den Kopf ein wenig wenden und glaubte ihn schmunzeln zu sehen. Dann hatte der Hund genug von dem Spiel, er ging zum Herrn und liess sich streicheln; und neben Wulckows Stuhl hingelagert, mass er mit kuehnen Jaegerblicken Diederich, der sich den Schweiss wischte. "Gemeines Vieh!" dachte Diederich - und ploetzlich wallte es auf in ihm. Empoerung und der dicke Qualm verschlugen ihm den Atem, er dachte, mit unterdruecktem Keuchen: "Wer bin ich, dass ich mir das bieten lassen muss? Mein letzter Maschinenschmierer laesst sich das von mir nicht bieten. Ich bin Doktor. Ich bin Stadtverordneter! Dieser ungebildete Flegel hat mich noetiger als ich ihn!" Alles, was er heute nachmittag erlebt hatte, nahm den uebelsten Sinn an. Man hatte ihn verhoehnt, der Bengel von Leutnant hatte ihm den Ruecken geklopft! Diese Kommisskoepfe und adeligen Puten hatten die ganze Zeit von ihren albernen Angelegenheiten geredet und ihn wie dumm dabei sitzen lassen! "Und wer bezahlt die frechen Hungerleider? Wir!" Gesinnung und Gefuehle, alles stuerzte in Diederichs Brust auf einmal zusammen, und aus den Truemmern schlug wild die Lohe des Hasses. "Menschenschinder! Saebelrassler! Hochnaesiges Pack!... Wenn wir mal Schluss machen mit der ganzen Bande -!" Die Faeuste ballten sich ihm von selbst, in einem Anfall stummer Raserei sah er alles niedergeworfen, zerstoben: die Herren des Staates, Heer, Beamtentum, alle Machtverbaende und sie selbst, die Macht! Die Macht, die ueber uns hingeht und deren Hufe wir kuessen! Gegen die wir nichts koennen, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekuel von etwas, das sie ausgespuckt hat!... Von der Wand dort, hinter blauen Wolken, sah eisern hernieder ihr bleiches Gesicht, eisern, gestraeubt, blitzend: Diederich aber, in wuester Selbstvergessenheit, hob die Faust. Da knurrte der Wulckowsche Hund, unter dem Praesidenten hervor aber kam ein donnerndes Geraeusch, ein lang hinrollendes Geknatter - und Diederich erschrak tief. Er verstand nicht, was dies fuer ein Anfall gewesen war. Das Gebaeude der Ordnung, wieder aufgerichtet in seiner Brust, zitterte nur noch leise. Der Herr Regierungspraesident hatte wichtige Staatsgeschaefte. Man wartete eben, bis er einen bemerkte; dann bekundete man gute Gesinnung und sorgte fuer gute Geschaefte ... "Na, Doktorchen?" sagte Herr von Wulckow und drehte seinen Sessel herum. "Was ist mit Ihnen los? Sie werden ja der reine Staatsmann. Setzen Sie sich mal auf diesen Ehrenplatz." "Ich darf mir schmeicheln", stammelte Diederich. "Einiges habe ich schon erreicht fuer die nationale Sache." Wulckow blies ihm einen maechtigen Rauchkegel ins Gesicht, dann kam er ihm ganz nahe mit seinen warmbluetigen, zynischen Augen und ihrer Mongolenfalte. "Sie haben erstens erreicht, Doktorchen, dass Sie Stadtverordneter geworden sind. Wie, das wollen wir auf sich beruhen lassen. Jedenfalls konnten Sie es brauchen, denn Ihr Geschaeft soll ja 'ne ziemlich faule Karre sein." Da Diederich zusammenzuckte, lachte Wulckow droehnend. "Lassen Sie nur, Sie sind mein Mann. Was meinen Sie, das ich da geschrieben habe?" Das grosse Blatt Papier verschwand unter der Pranke, die er darauf legte. "Da verlange ich vom Minister einen kleinen Piepmatz fuer einen gewissen Doktor Hessling, in Anerkennung seiner Verdienste um die gute Gesinnung in Netzig ... Fuer so nett haben Sie mich wohl gar nicht gehalten?" setzte er hinzu, denn Diederich, mit einer Miene, geblendet und wie mit Bloedheit geschlagen, machte von seinem Stuhl herab immerfort Verbeugungen. "Ich weiss tatsaechlich nicht", brachte er hervor. "Meine bescheidenen Verdienste -" "Aller Anfang ist schwer", sagte Wulckow. "Es soll auch nur eine Aufmunterung sein. Ihre Haltung im Prozess Lauer war nicht uebel. Na und Ihr Kaiserhoch in der Kanalisationsdebatte hat die antimonarchische Presse ganz aus dem Haeuschen gebracht. Schon an drei Orten im Lande ist deshalb Anklage wegen Majestaetsbeleidigung erhoben. Da muessen wir uns Ihnen wohl erkenntlich zeigen." Diederich rief aus: "Mein schoenster Lohn ist es, dass der Lokal-Anzeiger meinen schlichtbuergerlichen Namen vor die Allerhoechsten Augen selbst gebracht hat!" "Na, nu nehmen Sie sich mal 'ne Zigarre", schloss Wulckow; und Diederich begriff, dass jetzt die Geschaefte kamen. Schon inmitten der Hochgefuehle waren ihm Zweifel aufgestiegen, ob Wulckows Gnade vor allem anderen nicht eine ganz besondere Ursache habe. Er sagte versuchsweise: "Fuer die Bahn nach Ratzenhausen wird die Stadt nun doch wohl den Beitrag bewilligen." Wulckow streckte den Kopf vor. "Ihr Glueck. Wir haben sonst ein billigeres Projekt, darauf wird Netzig ueberhaupt nicht beruehrt. Also sorgen Sie dafuer, dass die Leute Vernunft annehmen. Unter der Bedingung duerft ihr dann dem Rittergut Quitzin euer Licht liefern." "Das will der Magistrat auch nicht." Diederich bat mit den Haenden um Nachsicht. "Die Stadt hat Schaden dabei, und Herr von Quitzin zahlt uns keine Steuern ... Aber jetzt bin ich Stadtverordneter, und als nationaler Mann -" "Das moechte ich mir ausbitten. Mein Vetter Herr von Quitzin baut sich sonst einfach ein Elektrizitaetswerk, das hat er billig, was glauben Sie, zwei Minister kommen bei ihm zur Jagd - und dann unterbietet er euch hier in Netzig selbst." Diederich richtete sich auf. "Ich bin entschlossen, Herr Praesident, allen Anfeindungen zum Trotz in Netzig das nationale Banner hochzuhalten." Hierauf, mit gedaempfter Stimme: "Einen Feind koennen wir uebrigens loswerden: einen besonders schlimmen, jawohl, den alten Kluesing in Gausenfeld." "Der?" Wulckow feixte veraechtlich. "Der frisst mir aus der Hand. Er liefert Papier fuer die Kreisblaetter." "Wissen Sie, ob er fuer schlechte Blaetter nicht noch mehr liefert? Darueber, Herr Praesident verzeihen, bin ich doch wohl besser informiert." "Die Netziger Zeitung ist jetzt in nationaler Beziehung zuverlaessiger geworden." "Und zwar -" Diederich nickte gewichtig, "seit dem Tage, an dem der alte Kluesing mir, Herr Praesident, einen Teil der Papierlieferung hat anbieten lassen. Gausenfeld sei ueberlastet. Natuerlich hatte er Angst, dass ich mich an einem nationalen Konkurrenzblatt beteilige. Und vielleicht hatte er auch Angst -" eine bedeutsame Pause - "dass der Herr Praesident das Papier fuer die Kreisblaetter lieber bei einem nationalen Werk bestellt." "Also - Sie liefern jetzt fuer die Netziger Zeitung?" "Niemals, Herr Praesident, werde ich meine nationale Gesinnung so sehr verleugnen, dass ich an eine Zeitung liefere, solange noch freisinniges Geld drin ist." "Na schoen." Wulckow stemmte die Faeuste auf die Schenkel. "Jetzt brauchen Sie nichts mehr zu sagen. Sie wollen bei der Netziger Zeitung das Ganze. Die Kreisblaetter wollen Sie auch. Wahrscheinlich auch die Papierlieferungen fuer die Regierung. Sonst noch was?" Und Diederich, sachlich: "Herr Praesident, ich bin nicht wie Kluesing, mit dem Umsturz mach' ich keine Geschaefte. Wenn Sie, Herr Praesident, auch als Vorstand der Bibelgesellschaft mein Unternehmen stuetzen wollten, ich darf sagen, die nationale Sache wuerde nur gewinnen." "Na schoen", wiederholte Wulckow und zwinkerte. Diederich spielte seinen Trumpf aus. "Herr Praesident! Unter Kluesing ist Gausenfeld eine Brutstaette des Umsturzes. Bei seinen achthundert Arbeitern ist nicht einer dabei, der anders waehlt als sozialdemokratisch." "Na und bei Ihnen?" Diederich schlug sich auf die Brust. "Gott ist mein Zeuge, dass ich lieber noch heute die Bude zumache und mit den Meinen ins Elend hinausziehe, als dass ich einen einzigen Mann bei mir dulde, von dem ich weiss, er ist nicht kaisertreu." "Sehr brauchbare Gesinnung", sagte Wulckow. Diederich sah ihn mit blauen Augen an. "Ich nehme nur gediente Leute, vierzig haben den Krieg mitgemacht. Jugendliche beschaeftige ich gar nicht mehr, seit der Geschichte mit dem Arbeiter, den der Wachtposten auf dem Felde der Ehre, wie Seine Majestaet festzustellen geruhten, niedergestreckt hat, nachdem der Kerl mit seiner Braut hinter meinen Lumpen -" Wulckow winkte ab. "Ihre Sorge, Doktorchen!" Diederich liess sich seinen Entwurf nicht verderben. "Unter meinen Lumpen darf kein Umsturz vorkommen. Mit Ihren Lumpen, ich meine in der Politik, ist es anders. Da koennen wir den Umsturz brauchen, damit aus den freisinnigen Lumpen weisses, kaisertreues Papier wird." Und er machte eine tief bedeutungsvolle Miene. Wulckow schien nicht verbluefft, er schmunzelte furchtbar. "Doktorchen, ich bin auch nicht von gestern. Legen Sie los, was haben Sie mit Ihrem Maschinenmeister ausgeknobelt?" Da er Diederich wanken sah, fuhr Wulckow fort: "Das ist auch einer von den Altgedienten, wie, Herr Stadtverordneter?" Diederich schluckte, er sah, dass es keinen Umweg mehr gab. "Herr Praesident", sagte er mit einem Entschluss; und dann leise und hastig: "Der Mann will in den Reichstag, und vom nationalen Standpunkt ist er besser als Heuteufel. Denn erstens werden viele Freisinnige vor Schreck national werden, und zweitens kriegen wir, wenn Napoleon Fischer gewaehlt wird, in Netzig ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Ich habe es schriftlich." Er breitete ein Papier hin vor den Praesidenten. Wulckow las, dann stand er auf, warf den Stuhl mit dem Fuss fort und ging, Rauch ausstossend, durch das Zimmer. "Also Kuehlemann kratzt ab, und von seiner halben Million baut die Stadt kein Saeuglingsheim, sondern ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal." Er blieb stehen. "Merken Sie sich das, mein Lieber, in Ihrem eigensten Interesse! Wenn Netzig nachher einen Sozialdemokraten im Reichstag, aber keinen Wilhelm den Grossen hat, dann lernen Sie mich kennen. Ich mache Frikassee aus Ihnen! Ich schlag' Sie so klein, dass Sie nicht mal mehr im Saeuglingsheim Aufnahme finden!" Diederich war mitsamt seinem Stuhl zurueckgewichen bis an die Wand. "Herr Praesident! Alles, was ich bin, meine ganze Zukunft setze ich ein fuer diese grosse nationale Sache. Auch mir kann etwas Menschliches passieren ..." "Dann gnade Ihnen Gott!" "Wenn nun Kuehlemanns Nierensteine sich doch noch verziehen?" "Sie haben die Verantwortung! Um meinen Kopf geht es auch!" Wulckow liess sich krachend auf seinen Sitz fallen. Er rauchte wuetend. Als die Wolken zergingen, hatte er sich aufgeheitert. "Was ich Ihnen auf dem Harmoniefest gesagt habe, dabei bleibt es. Dieser Reichstag macht es nicht mehr lange, arbeiten Sie vor in der Stadt. Helfen Sie mir gegen Buck, ich helfe Ihnen gegen Kluesing." "Herr Praesident!" Wulckows Laecheln schuf in Diederich einen Ueberschwang von Hoffnung, er konnte nicht an sich halten. "Wenn Sie es ihn unter der Hand wissen liessen, dass Sie ihm eventuell die Auftraege entziehen! An die grosse Glocke haengt er es nicht, das brauchen Sie nicht zu fuerchten; aber er wird seine Anstalten treffen. Vielleicht verhandelt er -" "Mit seinem Nachfolger", schloss Wulckow. Da musste Diederich aufspringen und seinerseits durch das Zimmer laufen. "Wenn Sie wuessten, Herr Praesident ... Gausenfeld ist sozusagen eine Maschine mit Tausendpferdekraft, und die steht da und verrostet, weil der Strom fehlt, ich will sagen, der moderne, grosszuegige Geist!" "Den scheinen Sie zu haben", meinte Wulckow. "Im Dienst der nationalen Sache", beteuerte Diederich. Er kehrte zurueck. "Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Komitee wird sich gluecklich schaetzen, wenn es uns gelingen wuerde, dass Sie so gut sind, Herr Praesident, und bekunden der Sache Ihr geschaetztes Interesse durch Annahme des Ehrenvorsitzes." "Gemacht", sagte Wulckow. "Die aufopfernde Taetigkeit seines Herrn Ehrenvorsitzenden wird das Komitee entsprechend zu wuerdigen wissen." "Erklaeren Sie sich mal naeher!" In Wulckows Stimme grollte es unheilvoll, aber Diederich bei seiner Angeregtheit ueberhoerte es. "Die Idee hat bereits zu gewissen Eroerterungen im Schosse des Komitees gefuehrt. Man wuenscht das Denkmal in frequentester Lage zu errichten und mit einem Volkspark zu umgeben, damit naemlich die unloesbare Verbindung von Herrscher und Volk sinnfaellig in die Erscheinung tritt. Da haben wir nun im Zentrum der Stadt an ein groesseres Grundstueck gedacht; auch die Nachbargebaeude waeren zu haben; es ist in der Meisestrasse." "Soso. Meisestrasse." Wulckows Brauen hatten sich gewitterhaft zusammengezogen. Diederich erschrak, aber es gab kein Halten mehr. "Der Gedanke ist aufgetaucht, dass wir uns, noch bevor die Stadt der Sache naeher tritt, die betreffenden Grundstuecke sichern und unbefugten Spekulationen zuvorkommen sollen. Unser Herr Ehrenvorsitzender haette natuerlich das erste Anrecht ..." Nach diesem Wort wich Diederich zurueck, der Sturm brach los. "Herr! Fuer wen halten Sie mich? Bin ich Ihr Geschaeftsagent? Das ist unerhoert, das war noch nicht da! So ein Koofmich mutet dem Koeniglichen Regierungspraesidenten zu, er soll seine schmutzigen Geschaefte mitmachen!" Wulckow droehnte uebermenschlich, er drang mit seiner gewaltigen Koerperwaerme und mit seinem persoenlichen Geruch gegen Diederich vor, der sich rueckwaerts bewegte. Auch der Hund war aufgestanden und ging klaeffend zum Angriff ueber. Das Zimmer war auf einmal erfuellt von Graus und Getoese. "Sie machen sich einer schweren Beamtenbeleidigung schuldig, Herr!" schrie Wulckow, und Diederich, der hinter sich nach der Tuer tastete, hatte nur Vermutungen darueber, wer ihm frueher an der Kehle sitzen werde, der Hund oder der Praesident. Seine angstvoll irrenden Augen trafen das bleiche Gesicht, das von der Wand herab drohte und blitzte. Nun hatte er sie an der Kehle, die Macht! Vermessen hatte er sich, mit der Macht auf vertrautem Fuss zu verkehren. Das war sein Verderben, sie brach ueber ihn herein mit dem Entsetzen eines Weltuntergangs ... Die Tuer hinter dem Schreibtisch ging auf, jemand in Polizeiuniform trat ein. Den schlotternden Diederich ueberraschte er nicht mehr. Wulckow ward durch die Gegenwart der Uniform auf einen neuen furchtbaren Gedanken gebracht. "Ich kann Sie augenblicklich verhaften lassen, Sie Jammerprinz, wegen versuchter Beamtenbestechung, wegen Bestechungsversuch an einer Behoerde, an der obersten Behoerde des Regierungsbezirks! Ich bringe Sie ins Zuchthaus, ich ruiniere Sie fuer Ihr Leben!" Auf den Herrn von der Polizei schien dieses Juengste Gericht nicht entfernt den Eindruck zu machen wie auf Diederich. Er legte das Papier, das er brachte, auf den Schreibtisch nieder und verschwand. Uebrigens drehte auch Wulckow sich ploetzlich um; er zuendete seine Zigarre wieder an, Diederich war nicht mehr da fuer ihn. Und auch Schnaps liess von ihm ab, als sei er Luft. Da wagte Diederich es, die Haende zu falten. "Herr Praesident," fluesterte er wankend, "Herr Praesident, erlauben Herr Praesident, dass ich feststellen darf, es liegt ein, darf ich feststellen, tief bedauerliches Missverstaendnis vor. Nie wuerde ich, bei meiner wohlbekannten nationalen Gesinnung -. Wie koennte ich!" Er wartete, aber niemand bekuemmerte sich um ihn. "Wenn ich auf meinen Vorteil saehe," begann er wieder, um etwas vernehmlicher, "anstatt dass ich immer nur das nationale Interesse im Auge habe, dann waere ich heute nicht hier, dann waere ich bei dem Herrn Buck. Denn der Herr Buck, jawohl, der hat mir zugemutet, ich soll mein Grundstueck an die Stadt verkaufen, fuer das freisinnige Saeuglingsheim. Aber das Ansinnen hab' ich mit Entruestung zurueckgewiesen und habe den geraden Weg gefunden zu Ihnen, Herr Praesident. Denn besser, hab' ich gesagt, das Denkmal Kaiser Wilhelms des Grossen im Herzen als das Saeuglingsheim in der Tasche, hab' ich gesagt und sag' es auch hier mit lauter Stimme!" Da Diederich in der Tat die Stimme erhob, wandte Wulckow sich ihm zu. "Sind Sie noch immer da?" fragte er. Und Diederich, aufs neue ersterbend: "Herr Praesident -" "Was wollen Sie noch? Ich kenne Sie ueberhaupt nicht. Habe nie mit Ihnen verhandelt." "Herr Praesident, im nationalen Interesse -" "Mit Grundstuecksspekulanten verhandele ich nicht. Verkaufen Sie Ihr Grundstueck, und dalli; nachher koennen wir reden." Diederich, erblasst, mit dem Gefuehl, als werde er an der Wand zerquetscht: "In dem Fall bleibt es bei unseren Bedingungen? Der Orden? Der Wink an Kluesing? Der Ehrenvorsitz?" Wulckow zog eine Grimasse. "Meinetwegen. Aber sofort verkaufen!" Diederich rang nach Atem. "Ich bringe das Opfer!" erklaerte er. "Denn das Hoechste, was der kaisertreue Mann hat, meine kaisertreue Gesinnung, muss ueber jedem Verdacht stehen." "Na ja", sagte Wulckow, indes Diederich sich zurueckzog, stolz auf seinen Abgang, wenn auch beengt durch die Empfindung, dass der Praesident ihn als Bundesgenossen nicht lieber ertrug als er selbst seinen Maschinenmeister. Im Salon fand er Emmi und Magda ganz allein in einem Prachtwerk blaetternd. Die Gaeste waren fort, und auch Frau von Wulckow hatte sie verlassen, weil sie sich anziehen musste zur Soiree bei der Frau Oberst von Haffke. "Meine Unterredung mit dem Praesidenten ist fuer beide Teile durchaus befriedigend verlaufen", stellte Diederich fest; und draussen auf der Strasse: "Da sieht man es, was es heisst, wenn zwei loyale Maenner verhandeln. In dem heutigen verjudeten Geschaeftsbetrieb kennt man das gar nicht mehr." Emmi, gleichfalls sehr angeregt, erklaerte, dass sie Reitstunden nehmen werde. "Wenn ich dir das Geld gebe", sagte Diederich, aber nur der Ordnung wegen, denn er war stolz auf Emmi. "Hat Leutnant von Brietzen nicht Schwestern?" bemerkte er. "Du solltest bekannt werden und uns Einladungen verschaffen zur naechsten Soiree der Frau Oberst." Gerade ging drueben der Oberst vorbei. Diederich sah ihm lange nach. "Ich weiss wohl," sagte er, "man soll sich nicht umdrehen; aber das ist nun mal das Hoechste, es zieht einen hin!" Dennoch hatte der Vertrag mit Wulckow nur seine Sorgen vergroessert. Der handgreiflichen Verpflichtung, sein Haus zu verkaufen, stand nichts gegenueber als Hoffnungen und Aussichten: nebelhafte Aussichten, allzu kuehne Hoffnungen ... Es fror; Diederich ging am Sonntag in den Stadtpark, wo es schon dunkelte, und auf einem einsamen Pfad begegnete er Wolfgang Buck. "Ich habe mich nun doch entschlossen", erklaerte Buck. "Ich gehe zur Buehne." "Und Ihre buergerliche Stellung? Und Ihre Heirat?" "Ich habe es versucht, aber das Theater ist vorzuziehen. Es wird dort weniger Komoedie gespielt, wissen Sie, man ist ehrlicher bei der Sache. Auch sind die Weiber schoener." "Das ist kein Standpunkt", erwiderte Diederich. Aber Buck war es ernst. "Ich muss zugeben, das Geruecht ueber Guste und mich hat mir Spass gemacht. Andererseits: so bloedsinnig es ist, es ist nun einmal da, das Maedchen leidet darunter, ich kann sie nicht laenger kompromittieren." Diederich widmete ihm einen abschaetzigen Seitenblick, denn er hatte den Eindruck, Buck nahm das Geruecht zum Vorwand, um sich zu druecken. "Sie werden wohl wissen," versetzte er streng, "was Sie da anrichten. Ein anderer nimmt sie jetzt natuerlich auch nicht mehr leicht. Es gehoert schon verdammt viel ritterliche Gesinnung dazu." Buck bestaetigte dies. "Fuer einen wirklich modernen, grosszuegigen Mann", sagte er bedeutungsvoll, "muesste es eine besondere Genugtuung sein, ein Maedchen unter solchen Umstaenden zu sich hinaufzuziehen und fuer sie einzutreten. Hier, wo auch Geld ist, wuerde zweifellos der Edelmut zuletzt das Feld behaupten. Denken Sie an das Gottesgericht im Lohengrin." "Wieso, Lohengrin?" Hierauf antwortete Buck nicht mehr; da sie das Sachsentor erreicht hatten, ward er unruhig. "Kommen Sie mit hinein?" fragte er. - "Wo denn hinein?" - "Gleich hier, Schweinichenstrasse 77. Ich muss es ihr doch sagen, Sie koennten vielleicht -." Da pfiff Diederich durch die Zaehne. "Sie sind wirklich -. Sie haben ihr noch nichts gesagt? Vorher erzaehlen Sie es in der Stadt umher? Ihre Sache, mein Bester, aber mich lassen Sie aus dem Spiel, den Braeuten anderer Leute pflege ich nicht die Verlobung zu kuendigen." "Machen Sie eine Ausnahme", bat Buck. "Mir werden Szenen im Leben so schwer." "Ich habe Grundsaetze", sagte Diederich. Buck lenkte ein. "Sie brauchen nichts zu sagen; Sie sollen mir nur in einer stummen Rolle als moralische Unterstuetzung dienen." "Moralisch?" fragte Diederich. "Als Vertreter sozusagen des verhaengnisvollen Geruechtes." "Was wollen Sie damit sagen?" "Ich scherze. Da sind wir, kommen Sie." Und Diederich, betroffen durch Bucks letzte Wendung, ging wortlos mit. Frau Daimchen war ausgegangen, und Guste liess auf sich warten. Buck ging nachzusehen, was sie mache. Endlich kam sie, aber allein. "War nicht auch Wolfgang da?" fragte sie. Buck war ausgerissen! "Das begreife ich nicht", sagte Diederich. "Er hatte doch etwas ganz Dringendes bei Ihnen vor." Hierauf erroetete Guste. Diederich wandte sich der Tuer zu. "Dann empfehle ich mich auch." "Was wollte er denn?" forschte sie. "Das kommt bei ihm doch nicht oft vor, dass er etwas will. Und wozu bringt er Sie mit?" "Das sehe ich auch nicht ein. Ich darf sogar sagen, dass ich es entschieden missbillige, wenn er sich bei einer solchen Gelegenheit Zeugen nimmt. Meine Schuld ist es nicht, adieu." Aber je verlegener er sie ansah, desto dringender ward sie. "Ich muss es ablehnen," verriet er schliesslich, "dass ich mir mit den Angelegenheiten Dritter soll den Mund verbrennen, noch dazu, wenn der Dritte durchgeht und entzieht sich seinen naechstliegenden Verpflichtungen." Gustes aufgerissene Augen sahen die Worte einzeln aus Diederichs Mund hervorkommen. Als das letzte gefallen war, verharrte sie einen Augenblick reglos, und dann warf sie die Haende vor das Gesicht. Sie schluchzte, man sah ihre Wangen aufquellen und die Traenen ihr durch die Finger rinnen. Sie hatte kein Schnupftuch; Diederich lieh es ihr, betreten durch ihren Schmerz. "Schliesslich", meinte er, "ist ja so viel nicht an ihm verloren." Da aber empoerte sich Guste. "Das sagen Sie! Sie sind derjenige welcher und haben immer gegen ihn gehetzt. Dass er ausgerechnet Sie muss herschicken, das kommt mir mehr wie sonderbar vor." "Wie meinen Sie das, bitte?" verlangte Diederich seinerseits. "Sie mussten wohl reichlich so genau wissen wie ich, geehrtes Fraeulein, was Sie von dem betreffenden Herrn zu erwarten hatten. Denn wo die Gesinnung schlapp ist, ist alles schlapp." Da sie ihn hoehnisch musterte, versetzte er um so strenger: "Ich habe Ihnen alles richtig vorausgesagt." "Weil es Ihnen so passte", erwiderte sie giftig. Und Diederich, mit Ironie: "Er hat mich doch selbst angestellt, dass ich seinen Kochtopf sollte umruehren. Und wenn der Kochtopf nicht in braune Lappen eingewickelt gewesen waere, haette er ihn schon laengst ueberkochen lassen." Da rang es sich los aus Guste. "Haben Sie 'ne Ahnung! Das ist es ja, das kann und kann ich ihm nicht verzeihen, dass ihm immer _alles_ wurscht war, sogar mein Geld!" Diederich war erschuettert. "Mit so einem soll man sich nicht einlassen", stellte er fest. "Die haben keinen Halt und laufen einem durch die Finger." Er nickte gewichtig. "Wem das Geld wurscht ist, der versteht das Leben nicht." Guste laechelte blass. "Dann verstehen Sie es glaenzend." "Das wollen wir hoffen", sagte er. Sie kam naeher zu ihm, durch ihre letzten Traenen blinzelte sie ihn an. "Recht haben Sie ja nun behalten. Was meinen Sie wohl, das ich mir daraus mache?" Sie verzog den Mund. "Ich hab' ihn doch ueberhaupt nicht geliebt. Bloss auf die Gelegenheit hab' ich gewartet, dass ich ihn loswerde. Nun ist er so gemein und geht von selbst ... Dann machen wir es ohne ihn", setzte sie hinzu, mit einem verlockenden Blick. Aber Diederich nahm nur sein Schnupftuch zurueck, fuer alles andere schien er zu danken. Guste begriff, dass er noch ebenso streng dachte, wie damals im Liebeskabinett; um so demuetiger verhielt sie sich. "Sie spielen gewiss auf meine Lage an, wo ich nun drin bin." Er lehnte ab. "Ich habe nichts gesagt." Guste klagte still. "Wenn die Leute Gemeinheiten ueber mich reden, dafuer kann ich doch nicht!" "Ich auch nicht." Guste senkte den Kopf. "Na ja, ich muss es wohl einsehen. So eine wie ich verdient nicht mehr, dass ein wirklich feiner Mann mit ernsten Ansichten vom Leben sie noch nimmt." Und dabei schielte sie von unten nach der Wirkung. Diederich schnaufte. "Es kann auch sein -", begann er und machte eine Pause. Guste atmete nicht. "Nehmen wir einmal an," sagte er mit schneidender Betonung, "jemand hat im Gegenteil die allerernstesten Ansichten vom Leben, und er empfindet modern und grosszuegig, und im vollen Gefuehl der Verantwortlichkeit gegen sich selbst sowohl als gegen seine kuenftigen Kinder, wie gegen Kaiser und Vaterland uebernimmt er den Schutz des wehrlosen Weibes und zieht es zu sich empor." Gustes Miene war immer frommer geworden. Sie lehnte die Handflaechen aneinander und sah ihn mit schiefem Kopf innig flehend an. Dies schien noch nicht zu genuegen, er verlangte offenbar etwas ganz Besonderes: und so fiel Guste plumps auf die Knie. Da nahte Diederich ihr gnaedig. "So soll es sein", sagte er und blitzte. Hier trat Frau Daimchen ein. "Nanu," bemerkte sie, "was ist denn los?" Und Guste, mit Geistesgegenwart: "Ach Gott, Mutter, wir suchen meinen Ring", - worauf auch Frau Daimchen sich am Boden niederliess. Diederich wollte nicht zurueckstehen. Nach einer Weile stummen Umherkriechens rief Guste: "Hat ihm schon!" Sie stand entschlossen auf. "Dass du es nur weisst, Mutter, ich habe mich veraendert." Frau Daimchen, noch ausser Atem, begriff nicht sogleich. Guste und Diederich vereinten ihre Anstrengungen, um sie aufzuklaeren. Schliesslich gestand sie, dass sie selbst, weil die Leute nun einmal redeten, an so etwas schon gedacht habe. "Wolfgang war sowieso 'n bisschen zu miesepeterig, ausser er hatte was getrunken. Bloss die Familie, dagegen kommen Hesslings nicht auf." Das werde sie sehen, behauptete Diederich; und er kuendigte an, dass nichts abgemacht sei, solange das Praktische auch nicht stimmte. Die Ausweise ueber Gustes Mitgift mussten herbei, dann verlangte er Guetergemeinschaft - und was er nachher mit dem Gelde anfing, da durfte niemand hineinreden! Bei jedem Widerspruch hielt er den Tuergriff schon in der Hand, und jedesmal sprach Guste leise und angstvoll zu ihrer Mutter: "Soll denn morgen die ganze Stadt sich den Mund verrenken, weil ich den einen los bin, und der andere ist auch gleich wieder weg?" Als alles stimmte, ward Diederich jovial. Er ass zu Abend mit den Damen und wollte schon, ohne lange zu fragen, das Dienstmaedchen nach dem Verlobungssekt schicken. Dies kraenkte Frau Daimchen, denn natuerlich hatte sie welchen im Hause, das verlangten die Herren Offiziere, die bei ihr verkehrten. "Ueberhaupt haben Sie mehr Glueck als Verstand, denn den Herrn Leutnant von Brietzen haette Guste auch gekriegt." Darauf lachte Diederich wohlgemut. Alles ging gut. Fuer ihn das viele Geld, und der Leutnant von Brietzen fuer Emmi!... Man ward sehr lustig; bei der zweiten Flasche taumelte das Brautpaar auf seinen Stuehlen immer einer gegen den anderen, ihre Fuesse waren umeinandergewickelt bis zum Knie, und Diederichs Hand beschaeftigte sich unten. Drueben drehte Frau Daimchen die Daumen. Ploetzlich verursachte Diederich ein donnerndes Geraeusch und erklaerte sofort, er uebernehme dafuer die volle Verantwortung, es sei in aristokratischen Kreisen ueblich, er verkehre bei Wulckows. Welche Ueberraschung, als Netzig den Umschwung der Dinge erfuhr! Auf die Erkundigungen der Gratulanten erwiderte Diederich, was er mit den anderthalb Millionen seiner Frau beginnen werde, sei ganz ungewiss. Vielleicht ziehe er nach Berlin, fuer grosszuegige Unternehmungen sei es das Angezeigte. Seine Fabrik jedenfalls denke er bei Gelegenheit zu verkaufen. "Die Papierindustrie macht ueberhaupt eine Krise durch; diese mitten in Netzig gelegene Klitsche hat in meinen Verhaeltnissen keinen Sinn mehr." Daheim gab es eitel Sonnenschein. Die Schwestern erhielten ein erhoehtes Taschengeld, und seiner Mutter gestattete Diederich so viele Ruehrszenen und Umarmungen, als sie sich irgend wuenschen konnte; ja, er nahm willig ihren Segen entgegen. Guste, so oft sie kam, trat in der Rolle einer Fee auf, die Arme voll Blumen, Bonbons, silbernen Beuteln. An ihrer Seite schien Diederich ueber Blumen zu wandeln. Die Tage entschwebten himmlisch leicht, unter Einkaeufen, Sektfruehstuecken und den Brautvisiten, einen vornehmen Lohndiener auf dem Bock, und drinnen im Wagen die Verlobten anregend miteinander beschaeftigt. Die schoene Laune, die mit ihrem Dasein spielte, fuehrte sie eines Abends in den Lohengrin. Die beiden Muetter hatten sich dazu verstehen muessen, zu Hause zu bleiben; es war der feste Wille des Brautpaares, der Schicklichkeit zum Trotz allein in einer Proszeniumsloge zu sitzen. Das breite rote Plueschsofa an der Wand, wo man nicht gesehen werden konnte, war eingedrueckt und fleckig, es hatte etwas Reizvoll-Fragwuerdiges. Guste wollte wissen, dass diese Loge eigentlich den Herren Offizieren gehoerte, und dass sie hier Besuche von Schauspielerinnen empfingen! "Ueber die Schauspielerinnen sind wir gluecklich hinaus", erklaerte Diederich, und er liess durchblicken, dass er allerdings bis vor kurzem mit einer gewissen Dame vom Theater, die er natuerlich nicht nennen koenne -. Gustes fieberhafte Fragen wurden rechtzeitig unterbrochen durch das Klopfen des Kapellmeisters. Sie nahmen ihre Plaetze ein. "Haehnisch ist noch wabbeliger geworden", bemerkte Guste sogleich, und sie nickte nach dem Dirigenten hinab. Er machte auf Diederich einen hochkuenstlerischen, wenn auch ungesunden Eindruck. Schwarze, verwirrte Haarstraehnen wippten, indes er mit allen seinen Gliedmassen den Takt schlug, ueber seinem grossen grauen Gesicht, dessen Fettsaecke mitwippten; und in Frack und Hose wogte es rhythmisch. Im Orchester war grosser Betrieb, dennoch gab Diederich zu verstehen, dass er auf Ouvertueren keinen Wert lege. Ueberhaupt, meinte Guste, wenn man den Lohengrin in Berlin kannte! Der Vorhang ging auf, und schon kicherte sie verachtungsvoll. "Gott, die Ortrud! Sie hat einen Schlafrock und ein Frontkorsett!" Diederich hielt sich mehr an den Koenig unter der Eiche, der sichtlich die prominenteste Persoenlichkeit war. Sein Auftreten wirkte nicht besonders schneidig; Wulckow brachte Bass und Vollbart entschieden besser zur Geltung; aber was er aeusserte, war vom nationalen Standpunkt aus zu begruessen. "Des Reiches Ehr' zu wahren, ob Ost, ob West." Bravo! So oft er das Wort deutsch sang, reckte er die Hand hinauf, und die Musik bekraeftigte es ihrerseits. Auch sonst unterstrich sie einem markig, was man hoeren sollte. Markig, das war das Wort. Diederich wuenschte sich, er haette zu seiner Rede in der Kanalisationsdebatte eine solche Musik gehabt. Der Heerrufer dagegen stimmte ihn wehmuetig, denn er glich aufs Haar dem dicken Delitzsch in all seiner verflossenen Bierehrlichkeit. Infolgedessen sah Diederich die Gesichter der Mannen naeher an und fand ueberall Neuteutonen. Sie hatten groessere Baeuche und Baerte bekommen und sich gegen die harte Zeit mit Blech geruestet. Auch schienen nicht alle sich in guenstigen Lebensumstaenden zu befinden; die Edlen sahen aus wie mittlere Beamte des Mittelalters, mit Ledergesichtern und Knickebeinen, die Unedlen noch weniger glaenzend; aber der Verkehr mit ihnen waere unzweifelhaft in tadellosen Formen verlaufen. Ueberhaupt ward Diederich gewahr, dass man sich in dieser Oper sogleich wie zu Hause fuehlte. Schilder und Schwerter, viel rasselndes Blech, kaisertreue Gesinnung, Ha und Heil und hochgehaltene Banner, und die deutsche Eiche: man haette mitspielen moegen. Was den weiblichen Teil der Brabanter Gesellschaft betraf, der liess freilich zu wuenschen. Guste stellte spoettische Fragen: welche es denn nun sei, mit der er -. "Vielleicht die Ziege in dem Haengekleid? Oder die dicke Kuh mit dem Goldreifen zwischen den Hoernern?" Und Diederich war nicht weit davon entfernt, sich fuer die schwarze Dame mit dem Frontkorsett zu entscheiden, als er noch rechtzeitig bemerkte, dass eben sie in der ganzen Angelegenheit nicht einwandfrei dastand. Ihr Gatte Telramund schien zunaechst noch leidlich Komment zu haben, aber eine hoechst ueble Klatschgeschichte spielte offenbar auch hier mit. Leider war die deutsche Treue, selbst wo sie ein so glaenzendes Bild darbot, bedroht von den juedischen Machenschaften der dunkelhaarigen Rasse. Beim Auftreten Elsas war es ohne weiteres klar, auf welcher Seite man Klasse voraussetzen durfte. Der biedere Koenig haette es nicht noetig gehabt, die Sache dermassen objektiv zu behandeln: Elsas ausgesprochen germanischer Typ, ihr wallendes blondes Haar, ihr gutrassiges Benehmen boten von vornherein gewisse Garantien. Diederich fasste sie ins Auge, sie sah herauf, sie laechelte lieblich. Darauf griff er nach dem Opernglas, aber Guste entriss es ihm. "Also die Meree ist es?" zischte sie; und da er vielsagend laechelte: "Einen feinen Geschmack hast du, ich kann mich geschmeichelt fuehlen. Die ausgemergelte Juedin!" - "Juedin?" - "Die Meree, selbstredend, sie heisst doch Meseritz, und vierzig Jahre ist sie alt." - Betreten nahm er das Glas, das Guste ihm hoehnisch anbot, und ueberzeugte sich. Na ja, die Welt des Scheins. Enttaeuscht lehnte Diederich sich zurueck. Dennoch konnte er nicht hindern, dass Elsas keusche Vorahnung weiblicher Lustempfindungen ihn gerade so sehr ruehrte wie den Koenig und die Edlen. Das Gottesgericht schien auch ihm ein hervorragend praktischer Ausweg, auf die Weise ward niemand kompromittiert. Dass die Edlen sich auf die faule Sache nicht einlassen wuerden, war freilich vorherzusehen. Man musste schon mit etwas Ausserordentlichem rechnen; die Musik tat das ihre, sie machte einen geradezu auf alles gefasst. Diederich hatte den Mund offen und so dummselige Augen, dass Guste heimlich einen Lachkrampf bekam. Jetzt war er so weit, alle waren so weit, jetzt konnte Lohengrin kommen. Er kam, funkelte, schickte den Zauberschwan fort, funkelte noch betoerender. Mannen, Edle und der Koenig unterlagen alle derselben Verblueffung wie Diederich. Nicht umsonst gab es hoehere Maechte.... Ja, die allerhoechste Macht verkoerperte sich hier, zauberhaft blitzend. Ob Schwanen- oder Adlerhelm: Elsa wusste wohl, warum sie plumps vor ihm auf die Knie fiel. Diederich seinerseits blitzte Guste an, ihr verging das Lachen. Auch sie hatte erfahren, wie es war, wenn alle einen verklatschten, und den ersten war man los und konnte sich nirgends mehr sehen lassen und haette ueberhaupt wegziehen muessen: und da kam der Held und Retter und machte sich aus der ganzen Geschichte nichts und nahm einen doch! "So soll es sein!" sagte Diederich und nickte auf die kniefaellige Elsa hinab - indes Guste, die Lider gesenkt, in reuevoller Unterwerfung gegen seine Schulter fiel. Das weitere konnte man an den Fingern abzaehlen. Telramund machte sich einfach unmoeglich. Gegen die Macht unternahm man eben nichts. Zu ihrem Repraesentanten Lohengrin verhielt sich sogar der Koenig hoechstens wie ein besserer Bundesfuerst. Er sang seinem Vorgesetzten die Siegeshymne mit. Der Hort der guten Gesinnung ward schwungvoll gefeiert, die Umstuerzler mochten den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schuetteln. Der zweite Akt - Guste ass noch immer, sanft hingegeben, Pralinees - brachte zunaechst in erhebender Weise den Gegensatz zur Anschauung zwischen dem glanzvollen, ohne Misston verlaufenden Fest der Gutgesinnten in den vornehm erleuchteten Raeumen des Palastes, und den beiden dunkeln Empoerern, die stark heruntergekommen auf dem Pflaster lagen. "Erhebe dich, Genossin meiner Schmach", meinte Diederich bei passender Gelegenheit selbst schon angewendet zu haben. Er verband Ortrud mit gewissen persoenlichen Erinnerungen: ein ganz gemeines Luder, darueber war nichts zu sagen; aber irgendwas regte sich in ihm, wenn sie ihren Kerl einwickelte und unter sich hatte. Er traeumte.... Vor Elsa, der dummen Gans, mit der sie machte was sie wollte, hatte Ortrud das gewisse Etwas voraus, das die energischen und strengen Damen haben. Elsa freilich konnte man heiraten. Er schielte nach Guste. "Es gibt ein Glueck, das ohne Reu", bemerkte Elsa; und Diederich zu Guste: "Das wollen wir hoffen." Den frisch ausgeschlafenen Edlen und Mannen wurde sodann durch den dicken Delitzsch eroeffnet, dass sie Dank Gottes Gnade einen neuen Landesfuersten bekommen hatten. Gestern standen sie noch treu und bieder zu Telramund, heute waren sie biedere, treue Untertanen Lohengrins. Sie erlaubten sich keine Meinung und schluckten jede Vorlage. "Den Reichstag bringen wir auch noch so weit", gelobte Diederich. Wie aber Ortrud vor Elsa in das Muenster treten wollte, empoerte sich Guste. "Das hat sie nun nicht noetig, darueber aergere ich mich immer. Wo sie doch nichts mehr hat, und ueberhaupt." - "Juedische Frechheit", murmelte Diederich. Uebrigens konnte er nicht umhin, Lohengrin, gelinde gesagt, unvorsichtig zu finden, als er es glatt in Elsas Hand legte, ob er seinen Namen verraten und dadurch das ganze Geschaeft in Frage stellen sollte oder nicht. So viel durfte man Weibern nicht zumuten. Und wozu? Den Mannen brauchte er nicht erst zu beweisen, dass er, trotz dem Noergler Telramund, reine Haende und keinen Fleck auf der Weste habe: ihre nationale Gesinnung war durchaus unverdaechtig. Guste verhiess ihm, im dritten Akt kaeme das Allerschoenste, aber dafuer muesse sie durchaus noch Pralinees haben. Als man sie hatte, stieg der Hochzeitsmarsch, und Diederich sang ihn mit. Die Mannen im Festzuge verloren entschieden ohne Blech und Banner, auch Lohengrin haette sich besser nicht im Wams gezeigt. Diederich ward bei seinem Anblick wieder einmal von dem Wert der Uniform durchdrungen. Die Damen waren gluecklich fort, mit ihren Stimmen wie saure Milch. Aber der Koenig! Er konnte nicht wegfinden von dem Brautpaar, biederte sich an und schien am liebsten als Zuschauer dableiben zu wollen. Diederich, dem der Koenig schon immer zu konziliant gewesen war fuer diese harte Zeit, nannte ihn jetzt einfach eine Nulpe. Endlich fand er die Tuer, Lohengrin und Elsa machten sich auf dem Sofa an die "Wonnen, die nur Gott verleiht". Zuerst umschlangen sie sich nur oben, die unteren Koerperteile sassen nach Moeglichkeit voneinander entfernt. Je mehr sie aber sangen, um so naeher rutschten sie heran, - wobei ihre Gesichter sich haeufig auf Haehnisch richteten. Haehnisch und sein Orchester schienen ihnen einzuheizen: es war begreiflich, denn auch Diederich und Guste in ihrer stillen Loge schnauften leise und sahen einander an mit erhitzten Augen. Die Gefuehle gingen den Weg der Zauberklaenge, die Haehnisch mit wogenden Gliedern hervorlockte, und die Haende folgten ihnen. Diederich liess die seine zwischen Gustes Stuhl und ihrem Ruecken hinabgleiten, umspannte sie unten und murmelte betoert: "Wie ich das zum erstenmal gesehen habe, gleich hab' ich gesagt, die oder keine!" Aber da wurden sie aus dem Zauberbann gerissen durch einen Zwischenfall, der bestimmt schien, die Kunstfreunde Netzigs noch lange zu beschaeftigen. Lohengrin zeigte sein Jaegerhemd! Eben stimmte er an: "Atmest du nicht mit mir die suessen Duefte", da kam es hinten aus dem Wams hervor, das aufging. Bis Elsa ihn, sichtlich erregt, zugeknoepft hatte, herrschte im Hause lebhafte Unruhe; dann erlag es wieder dem Zauberbann. Guste freilich, die sich mit einem Pralinee verschluckt hatte, stiess auf ein Bedenken. "Wie lange traegt er das Hemd schon? Und ueberhaupt, er hat doch nichts mit, der Schwan ist mit seinem Gepaeck abgeschwommen!" Diederich verwies ihr ernstlich das Nachdenken. "Du bist gerade so eine Gans wie Elsa", stellte er fest. Denn Elsa war im Begriff, sich alles zu verderben, weil sie es nicht lassen konnte, ihren Mann nach seinen politischen Geheimnissen zu fragen. Der Umsturz ward vollends zerschmettert, denn Telramunds feiges Attentat misslang durch Gottes Fuegung; aber die Weiber, dies musste Diederich sich sagen, wirkten, wenn man ihnen nicht die Kandare fest anzog, eher noch subversiver. Nach der Verwandlung ward dies vollends klar. Eiche, Banner, alles nationale Zubehoer war wieder da; und "fuer deutsches Land das deutsche Schwert, so sei des Reiches Kraft bewaehrt": bravo! Aber Lohengrin schien nun wirklich entschlossen, sich aus dem oeffentlichen Leben zurueckzuziehen. "Ueberall wurde an mir gezweifelt", durfte auch er sagen. Nacheinander klagte er den toten Telramund und die ohnmaechtige Elsa an. Da keins von beiden ihm widersprach, haette er ohne weiteres recht behalten; dazu kam aber noch, dass er tatsaechlich in der Rangliste obenan stand. Denn jetzt gab er sich zu erkennen. Die Nennung seines Namens rief bei der ganzen Versammlung, die noch nie von ihm gehoert hatte, eine ungeheure Bewegung hervor. Die Mannen konnten sich gar nicht beruhigen; alles andere schienen sie erwartet zu haben, nur nicht, dass er Lohengrin hiess. Um so dringlicher ersuchten sie den geliebten Herrscher, von dem folgenschweren Schritt der Abdankung diesmal noch abzusehen. Aber Lohengrin blieb heiser und unnahbar. Uebrigens wartete schon der Schwan. Eine letzte Frechheit Ortruds brach ihr zur allgemeinen Genugtuung den Hals. Leider deckte gleich darauf auch Elsa das Schlachtfeld, das Lohengrin, statt des entzauberten Schwans von einer kraeftigen Taube gezogen, hinter sich liess. Dafuer war der junge, soeben eingetroffene Gottfried in drei Tagen der dritte Landesfuerst, dem Edle und Mannen, treu und bieder wie immer, ihre Huldigung darbrachten. "Das kommt davon", bemerkte Diederich, indes er Guste in den Mantel half. Alle diese Katastrophen, die Wesensaeusserungen der Macht waren, hatten ihn erhoben und tief befriedigt. "Wovon kommt es denn", meinte Guste, zum Widersprechen aufgelegt. "Bloss weil sie wissen will, wer er ist? Das kann sie wohl verlangen, das ist nicht mehr wie anstaendig." - "Es hat einen hoeheren Sinn", erklaerte ihr Diederich streng. "Die Geschichte mit dem Gral, das soll heissen, der allerhoechste Herr ist naechst Gott nur seinem Gewissen verantwortlich. Na und wir wieder ihm. Wenn das Interesse Seiner Majestaet in Betracht kommt, kannst du machen was du willst, ich sage nichts, und eventuell -." Eine Handbewegung gab zu verstehen, dass auch er, in einen derartigen Konflikt gestellt, Guste unbedenklich dahinopfern wuerde. Dies erboste Guste. "Das ist ja Mord! Wie komm' ich dazu, dass ich muss draufgehen, weil Lohengrin ein temperamentloser Hammel ist. Nicht einmal in der Hochzeitsnacht hat Elsa von ihm was gemerkt!" Und Guste ruempfte die Nase, wie damals beim Verlassen des Liebeskabinetts, wo auch nichts geschehen war. Auf dem Heimweg versoehnten sich die Verlobten. "Das ist die Kunst, die wir brauchen!" rief Diederich aus. "Das ist deutsche Kunst!" Denn hier erschienen ihm, in Text und Musik, alle nationalen Forderungen erfuellt. Empoerung war hier dasselbe wie Verbrechen, das Bestehende, Legitime ward glanzvoll gefeiert, auf Adel und Gottesgnadentum der hoechste Wert gelegt, und das Volk, ein von den Ereignissen ewig ueberraschter Chor, schlug sich willig gegen die Feinde seiner Herren. Der kriegerische Unterbau und die mystischen Spitzen, beides war gewahrt. Auch wirkte es bekannt und sympathisch, dass in dieser Schoepfung der schoenere und geliebtere Teil der Mann war. "Ich fuehl' das Herze mir vergehn, schau ich den wonniglichen Mann", sangen auch die Maenner samt dem Koenig. So war denn die Musik an ihrem Teil der maennlichen Wonne voll, war heldisch, wenn sie ueppig war, und kaisertreu noch in der Brunst. Wer widerstand da? Tausend Auffuehrungen einer solchen Oper, und es gab niemand mehr, der nicht national war! Diederich sprach es aus: "Das Theater ist auch eine meiner Waffen." Kaum ein Majestaetsbeleidigungsprozess konnte die Buerger so gruendlich aus dem Schlummer ruetteln. "Ich habe den Lauer in die Vogtei gebracht, aber wer den Lohengrin geschrieben hat, vor dem nehm' ich den Hut ab." Er schlug ein Zustimmungstelegramm an Wagner vor. Guste musste ihn aufklaeren, es sei nicht mehr zu machen. Einmal auf so hohem Gedankenflug begriffen, aeusserte sich Diederich ueber die Kunst im allgemeinen. Unter den Kuensten gab es eine Rangordnung. "Die hoechste ist die Musik, daher ist es die deutsche Kunst. Dann kommt das Drama." "Warum?" fragte Guste. "Weil man es manchmal in Musik setzen kann, und weil man es nicht zu lesen braucht, und ueberhaupt." "Und was kommt dann?" "Die Portraetmalerei natuerlich, wegen der Kaiserbilder. Das uebrige ist nicht so wichtig." "Und der Roman?" "Der ist keine Kunst. Wenigstens Gott sei Dank keine deutsche: das sagt schon der Name." Und dann war der Hochzeitstag da. Denn beide hatten Eile: Guste wegen der Leute, Diederich aus Gruenden der Politik. Um mehr Eindruck zu machen, hatte man beschlossen, dass Magda und Kienast am gleichen Tage heiraten sollten. Kienast war eingetroffen, und Diederich betrachtete ihn manchmal mit Unruhe, weil Kienast sich den Bart hatte abnehmen lassen, den Schnurrbart an den Augenwinkeln trug und auch schon blitzte. In den Verhandlungen ueber Magdas Gewinnanteil zeigte er einen schreckenerregenden Geschaeftsgeist. Diederich, nicht ohne Besorgnis wegen des Ausgangs der Sache, wenn auch entschlossen, seine Pflicht gegen sich selbst restlos zu erfuellen, vertiefte sich jetzt oefter in seine Geschaeftsbuecher ... Sogar am Morgen vor seiner Trauung und schon im Frack, sass er im Kontor; da ward eine Karte gebracht: Karnauke, Premierleutnant a. D. "Was kann der wollen, Soetbier?" Der alte Buchhalter wusste es auch nicht. Na egal. "Einen Offizier kann ich nicht abweisen." Und Diederich ging selbst zur Tuer. In der Tuer aber erschien ein ungewoehnlich strammer Herr in einem gruenlichen Sommermantel, der troff, und den er am Halse fest geschlossen trug. Unter seinen spitzen Lackschuhen entstand sofort eine Lache, von seinem gruenen Agrarierhuetchen, das er merkwuerdigerweise aufbehielt, regnete es. "Zunaechst wollen wir uns mal trocken legen", versetzte der Herr und begab sich, bevor Diederich zustimmte, zum Ofen. Hier sagte er schnarrend: "Verkaufen, was? Klemme, was?" Diederich begriff nicht sogleich; dann warf er einen unruhigen Blick auf Soetbier. Der Alte hatte sich wieder an seinen Brief gemacht. "Herr Premierleutnant haben sich gewiss in der Hausnummer geirrt", bemerkte Diederich schonend; aber es half nichts. "Quatsch. Weiss Bescheid. Nur keine Fisimatenten. Hoeherer Befehl. Schnauze halten und verkaufen, sonst gnade Gott." Diese Sprache war zu auffallend; Diederich konnte nicht laenger uebersehen, dass trotz der militaerischen Vergangenheit des Herrn seine ungeheure Strammheit nicht echt war und dass seine Augen verglast waren. In dem Augenblick, als Diederich dies feststellte, nahm der Herr sein gruenes Agrarierhuetchen vom Kopf und entleerte es seines Wassers auf Diederichs Frackhemd. Dies veranlasste Diederich zu einem Protest, aber der Herr nahm ihn sehr uebel. "Ich stehe Ihnen zur Verfuegung", schnarrte er. "Die Herren von Quitzin und von Wulckow werden in meinem Auftrag mit Ihnen reden." Dabei zwinkerte er angestrengt - und Diederich, dem ein schrecklicher Verdacht kam, vergass seinen Zorn, er war einzig bedacht, den Premierleutnant aus der Tuer zu draengen. "Wir sprechen draussen", raunte er ihm zu, und nach der anderen Seite zu Soetbier: "Der Herr ist sinnlos betrunken, ich muss sehen, wie ich ihn los werde." Aber Soetbier hatte die Lippen zusammengepresst, die Stirn gefaltet und kehrte diesmal nicht zu seinem Brief zurueck. Der Herr ging geradeswegs in den Regen hinaus, Diederich folgte ihm. "Deswegen keine Feindschaft, reden kann man doch." Erst nachdem auch er durchnaesst war, gelang es ihm, den Herrn wieder ins Haus zu lotsen. Durch den leeren Maschinenraum schrie der Premierleutnant: "Glas Schnaps! Kaufe alles, Schnaps mit!" Obwohl die Arbeiter zur Feier seiner Hochzeit frei hatten, sah Diederich sich angstvoll um; er oeffnete den Verschlag, wo die Chlorsaecke lagen, und befoerderte mit verzweifeltem Schub den Herrn hinein. Es stank furchtbar; der Herr nieste mehrmals, worauf er sagte: "Karnauke mein Name, warum stinken Sie so?" "Haben Sie einen Hintermann?" fragte Diederich. Der Herr nahm auch das uebel. "Was wollen Sie damit sagen?... Ach so, kaufe, was Platz hat." Diederichs Blick folgend, betrachtete er sein triefendes Sommermaentelchen. "Momentane Verlegenheit", schnarrte er. "Vermittle Kavalieren. Ehrensache." "Was bietet Ihr Auftraggeber?" "Hundertzwanzig die Kiste." Und wie Diederich sich entsetzte oder empoerte: zweihunderttausend sei sein Grundstueck wert, der Premierleutnant blieb dabei: "Hundertzwanzig die Kiste." "Nicht zu machen" - Diederich vollfuehrte eine unvorsichtige Bewegung nach dem Ausgang, worauf der Herr ernstlich gegen ihn vorging. Diederich musste ringen, fiel auf einen Chlorsack und der Herr ueber ihn. "Stehen Sie auf," keuchte Diederich, "hier werden wir gebleicht." Der Premierleutnant heulte auf, als brennte es ihm schon durch die Kleider, - und ploetzlich hatte er seine stramme Haltung zurueck. Er zwinkerte. "Praesident von Wulckow eklig hinterher, dass Sie verkaufen, sonst kein Geschaeft mit ihm zu machen. Vetter Quitzin arrondiert Besitz hier herum. Rechnet bestimmt auf Ihr Entgegenkommen. Hundertzwanzig die Kiste." Diederich, bleicher als waere er im Chlor liegengeblieben, versuchte noch: "Hundertfuenfzig", - aber die Stimme versagte ihm. Das war mehr, als man loyalerweise fassen konnte! Wulckow starrend von Beamtenehre, unbestechlich wie das Juengste Gericht!... Mit einem trostlosen Blick ueberflog er nochmals die Gestalt dieses Karnauke, Premierleutnants a. D. Den schickte Wulckow, dem lieferte er sich aus! Haette man nicht neulich, unter vier Augen, mit aller gebotenen Vorsicht und gegenseitigen Achtung das Geschaeft verhandeln koennen? Aber diese Junker konnten nur den Leuten an die Kehle springen; auf Geschaefte verstanden sie sich noch immer nicht. "Gehen Sie nur voran zum Notar," raunte Diederich, "ich komme gleich." Er liess ihn hinaus. Wie er aber selbst fort wollte, stand da der alte Soetbier, noch immer mit den gekniffenen Lippen. "Was wuenschen Sie?" Diederich war ermattet. "Junger Herr," begann der Alte hohl, "was Sie jetzt vorhaben, dafuer kann ich nicht mehr die Verantwortung tragen." "Wird nicht verlangt." Diederich gab sich Haltung. "Ich weiss allein, was ich tue." Der Alte hob beschwoerend die Haende. "Sie wissen es nicht, junger Herr! Unsere Lebensarbeit von Ihrem seligen Vater und mir, die verteidige ich! Dass wir das Geschaeft aufgebaut haben mit Fleiss und solider Arbeit, dadurch sind Sie gross geworden. Und wenn Sie mal teure Maschinen kaufen und mal die Auftraege ablehnen, das ist ein Zickzackkurs, damit bringen Sie das Geschaeft herunter. Und jetzt verkaufen Sie das alte Haus!" "Sie haben an der Tuer gehorcht. Wenn etwas geschieht, ohne dass Sie dabei sind, das vertragen Sie noch immer nicht recht. Erkaelten Sie sich hier nur nicht." Diederich hoehnte. "Sie duerfen es nicht verkaufen!" jammerte Soetbier. "Ich kann nicht zusehen, wie der Sohn und Erbe meines alten Herrn die solide Grundlage der Firma untergraebt und treibt Grossmannspolitik." Diederich mass ihn mitleidig. "Grosszuegigkeit war zu Ihrer Zeit noch nicht erfunden, Soetbier. Heute wagt man was. Betrieb ist die Hauptsache. Spaeter werden Sie sehen, wozu es gut war, dass ich das Haus verkaufe." "Ja, das werden Sie auch erst spaeter sehen. Vielleicht wenn Sie bankerott sind oder wenn Ihnen Ihr Schwager Herr Kienast einen Prozess anhaengt. Sie haben gewisse Manipulationen gemacht zum Schaden Ihrer Schwestern und Ihrer Mutter! Wenn ich dem Herrn Kienast manches sagen wollte -: bloss dass ich Pietaet habe, sonst koennte ich Sie ins Unglueck bringen!" Der Alte war ausser sich. Er kreischte, Traenen der Wut in den roten Lidern. Diederich trat nahe an ihn hin, er hielt ihm die geballte Hand unter die Nase. "Das versuchen Sie mal! Ich beweise glatt, dass Sie die Firma bestohlen haben, und zwar schon immer. Meinen Sie, ich habe keine Vorkehrungen getroffen?" Auch der Alte erhob seine zitternde Faust. Sie schnaubten sich an; Soetbier rollte blutige Augaepfel, Diederich blitzte. Dann trat der Alte zurueck. "Nein, so soll es nicht kommen. Ich war immer ein treuer Diener meines alten Herrn. Mein Gewissen gebietet mir, seinem Nachfolger meine bewaehrte Kraft so lange als moeglich zu erhalten." "Das koennte Ihnen passen", sagte Diederich hart und kalt. "Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht direkt hinauswerfe. Schreiben Sie nur gleich Ihr Entlassungsgesuch, es ist schon bewilligt." Und er schritt von dannen. Beim Notar verlangte er, dass in den Kaufvertrag als Kaeufer "Unbekannt" gesetzt werde. Karnauke feixte. "Unbekannt ist gut. Wir kennen doch Herrn von Quitzin." Darauf laechelte auch der Notar. "Ich sehe," sagte er, "Herr von Quitzin arrondiert sich. Bislang gehoerte ihm in der Meisestrasse nur die kleine Kneipe zum Huhn. Aber wegen der beiden Grundstuecke hinter dem Ihren, Herr Doktor, verhandelt er auch schon. Dann grenzt er an den Stadtpark und hat Platz fuer riesige Anlagen." Diederich zitterte schon wieder. Leise bat er den Notar um Diskretion, solange es gehe. Dann nahm er Abschied, er habe keine Zeit zu verlieren. "Weiss ich", sagte der Premierleutnant und hielt ihn fest. "Freudentag. Fruehstueck Hotel Reichshof. Bin geruestet." Er oeffnete das gruene Maentelchen und zeigte auf seinen zerknitterten Gesellschaftsanzug. Diederich sah ihn entsetzt an, er versuchte sich zu wehren; aber der Leutnant drohte wieder mit seinen Zeugen. Die Braut wartete schon laengst, die beiden Muetter trockneten ihr die Traenen, unter dem anzueglichen Laecheln der anwesenden Damen. Auch dieser Braeutigam ging durch! Magda und Kienast waren empoert; und zwischen Schweinichenstrasse und Meisestrasse liefen Boten ... Endlich! Diederich war da, wenn auch in seinem alten Frack. Er gab nicht einmal Erklaerungen. Am Standesamt und in der Kirche wirkte er verstoert. Allerseits bemerkte man, auf einer so zustande gekommenen Verbindung ruhe kein Segen. Auch Pastor Zillich erwaehnte in seiner Ansprache, dass der irdische Besitz etwas Vergaengliches sei. Man begriff seine Enttaeuschung. Kaethchen war gar nicht erschienen. Beim Hochzeitsfruehstueck sass Diederich schweigend und sichtlich noch anders beschaeftigt. Selbst das Essen vergass er oft und stierte in die Luft. Einzig der Premierleutnant Karnauke hatte die Gabe, seine Aufmerksamkeit zu wecken. Freilich tat der Leutnant das Seine; schon nach der Suppe brachte er einen Toast auf die Braut aus, mit Anspielungen, denen die Versammlung nach Massgabe ihres bisherigen Weingenusses noch nicht gewachsen war. Mehr beunruhigt ward Diederich durch gewisse andere Wendungen Karnaukes, die er mit Zwinkern nach seinem Platz begleitete und die leider auch Kienast nachdenklich stimmten. Der Zeitpunkt, den Diederich mit Herzklopfen voraussah, trat ein: Kienast stand auf und bat ihn um ein Wort unter vier Augen ... Da aber klingelte der Premierleutnant heftig ans Glas, stramm schnellte er vom Sitz. Der schon vorgeschrittene Laerm des Festes brach jaeh ab; man sah an Karnaukes gespitzten Fingern ein blaues Band haengen und darunter ein Kreuz, dessen Rand golden funkelte ... Ah! und Tumult und Glueckwuensche. Diederich reichte beide Haende hin, eine Seligkeit, kaum zu ertragen, flutete ihm vom Herzen in den Hals, er redete von selbst und bevor er wusste was. "Seine Majestaet ... Unerhoerte Gnade ... Bescheidene Verdienste, nie wankende Treue ..." Er dienerte, er legte, wie Karnauke ihm das Kreuz ueberreichte, die Hand auf das Herz, schloss die Augen und versank: so als staende vor ihm ein anderer, der Geber selbst. Unter der Gnadensonne fuehlte Diederich, dies war die Rettung und der Sieg. Wulckow hielt den Pakt. Die Macht hielt Diederich den Pakt! Der Kronenorden vierter Klasse blitzte, und es ward Ereignis, das Denkmal Wilhelm des Grossen und Gausenfeld, Geschaeft und Ruhm! Der Aufbruch draengte. Kienast, immerhin bewegt und eingeschuechtert, bekam einige Worte allgemeinen Inhalts hingeworfen, von herrlichen Tagen, denen er entgegengefuehrt werden sollte, von grossen Dingen, die man mit ihm und der ganzen Familie vorhabe - und fort war Diederich mit Guste. Sie bestiegen die erste Klasse, er spendete drei Mark und zog die Vorhaenge zu. Sein von Glueck beschwingter Tatendrang litt keinen Aufschub, Guste haette so viel Temperament nie erwartet. "Du bist doch nicht wie Lohengrin", bemerkte sie. Als sie aber schon hinglitt und die Augen schloss, richtete Diederich sich nochmals auf. Eisern stand er vor ihr, ordenbehangen, eisern und blitzend. "Bevor wir zur Sache selbst schreiten," sagte er abgehackt, "gedenken wir Seiner Majestaet unseres allergnaedigsten Kaisers. Denn die Sache hat den hoeheren Zweck, dass wir Seiner Majestaet Ehre machen und tuechtige Soldaten liefern." "Oh!" machte Guste, von dem Gefunkel auf seiner Brust entrueckt in hoeheren Glanz. "Bist - du - das - Diederich?" VI. Herr und Frau Doktor Hessling aus Netzig sahen einander stumm an im Lift des Zuericher Hotels, denn man fuhr sie in den vierten Stock. Dies war das Ergebnis des Blickes, den der Geschaeftsfuehrer schnell und schonend ueber sie hingefuehrt hatte. Diederich fuellte gehorsam den Meldezettel aus; erst als der Oberkellner fort war, aeusserte er seine Entruestung ueber den Betrieb hier und ueber Zuerich. Sie ward immer lauter und verdichtete sich zu dem Vorsatz, an Baedeker zu schreiben. Da diese Vergeltung indes zu wenig greifbar schien, machte er kehrt gegen Guste: ihr Hut sei schuld. Guste wieder schob es auf Diederichs Hohenzollernmantel. So stuerzten sie denn zum Lunch mit hochroten Koepfen. An der Tuer machten sie halt und schnauften unter den Blicken der Gaeste, Diederich im Smoking, Guste aber mit einem Hut, der Baender, Federn und Schnalle, alles auf einmal, hatte und der unzweifelhaft in die Beletage gehoerte. Ihr Bekannter, der Oberkellner, fuehrte sie im Triumph zu ihren Plaetzen. Mit Zuerich und auch mit dem Hotel versoehnten sie sich am Abend. Denn erstens war das Zimmer im vierten Stock nicht ehrenvoll, aber billig; und dann hing gerade gegenueber den Betten des Ehepaares eine fast lebensgrosse Odaliske, der braeunliche Leib hinschwellend auf ueppigem Polster, mit den Haenden unter dem Kopf, feuchtes Schmachten im schwarzen Spalt der Augen. In der Mitte war sie von dem Rahmen zerschnitten, was dem Ehepaar Anlass zu Scherzen gab. Am naechsten Tage gingen sie umher mit Blei in den Lidern, verschlangen riesige Mahlzeiten und fragten sich nur, was erst geschehen waere, wenn die Odaliske nicht in der Mitte zerschnitten, sondern ganz gewesen waere. Aus Muedigkeit versaeumten sie den Zug und kehrten am Abend, so frueh wie moeglich, in ihr billiges und aufreibendes Zimmer zurueck. Ein Ende dieser Art zu leben war nicht absehbar; da las Diederich mit seinen schweren Lidern in der Zeitung, dass der Kaiser unterwegs nach Rom sei zum Besuch des Koenigs von Italien. Ein Schlag, er war aufgewacht. Elastisch bewegte er sich zum Portier, ins Bureau, an den Lift; und mochte Guste jammern, dass ihr schwindlig werde, die Koffer waren schon fertig, Diederich schleifte Guste schon hinaus. "Muss es denn sein?" klagte sie, "wo doch das Bett so gut ist!" Aber Diederich hinterliess nur noch einen hoehnischen Blick fuer die Odaliske. "Amuesieren Sie sich weiter gut, meine Gnaedigste!" Vor Aufregung schlief er lange nicht. Guste schnarchte friedlich an seiner Schulter, indes Diederich, durch die Nacht sausend, bedachte, wie nun auf einer anderen Linie, aber nicht weniger sausend, demselben Ziel der Kaiser selbst entgegenfuhr. Der Kaiser und Diederich machten ein Wettrennen! Und da Diederich schon mehrmals im Leben hatte Gedanken aeussern duerfen, die auf mystische Art mit denen des Allerhoechsten Herrn zusammenzufallen schienen, vielleicht wusste Seine Majestaet zu dieser Stunde um Diederich: wusste, dass sein treuer Untertan ihm zur Seite ueber die Alpen zog, um den feigen Welschen mal klarzumachen, was Kaisertreue heisst. Er blitzte die Schlaefer auf der anderen Bank an, kleine schwarze Leute, deren Gesichter im Schlaf verfallen aussahen. Germanische Reckenhaftigkeit sollten sie kennenlernen! Frueh in Mailand und mittags in Florenz stiegen Reisende aus, was Diederich nicht begriff. Er versuchte, ohne merklichen Erfolg, den Uebriggebliebenen beizubringen, welches Ereignis sie in Rom erwarte. Zwei Amerikaner zeigten sich empfaenglicher, worauf Diederich triumphierend: "Na, Sie beneiden uns wohl auch um unseren Kaiser!" Da sahen die Amerikaner einander an, mit einer stummen Frage, die ergebnislos blieb. Vor Rom ging Diederichs Aufregung in wilden Taetigkeitsdrang ueber. Den Finger in einem Sprachfuehrer, lief er dem Zugpersonal nach und suchte in Erfahrung zu bringen, wer frueher ankommen werde, sein Kaiser oder er. Gustes Leidenschaft hatte sich an der des Gatten entzuendet. "Diedel!" rief sie. "Ich bin imstande und werf' ihm meinen Reiseschleier auf den Weg, damit dass er darueber geht, und die Rosen von meinem Hut schmeiss' ich auch hin!" - "Wenn er dich aber sieht und du machst ihm Eindruck?" fragte Diederich und laechelte fieberhaft. Gustes Busen begann zu wogen, sie senkte die Lider. Diederich, der keuchte, riss sich los aus der furchtbaren Spannung. "Meine Mannesehre ist mir heilig, was ich hiermit feststelle. In diesem Falle aber -" Und er schloss mit einer knappen Geste. Da kam man an - aber ganz anders, als die Gatten es ertraeumt hatten. In groesster Verwirrung wurden die Reisenden von Beamten aus dem Bahnhof gedraengt, bis an den Rand eines weiten Platzes und in die Strassen dahinter, die sofort wieder abgesperrt wurden. Aber Diederich, in entfesselter Begeisterung, durchbrach die Schranken. Guste, die entsetzt die Arme reckte, liess er mit allem Handgepaeck dastehen und stuerzte drauflos. Schon war er inmitten des Platzes; zwei Soldaten mit Federhueten jagten ihm nach, dass ihre bunten Frackschoesse flogen. Da schritten die Bahnhofsrampe mehrere Herren herab, und alsbald fuhr ein Wagen auf Diederich zu. Diederich schwenkte den Hut, er bruellte auf, dass die Herren im Wagen ihr Gespraech unterbrachen. Der rechts neigte sich vor - und sie sahen einander an, Diederich und sein Kaiser. Der Kaiser laechelte kalt pruefend mit den Augenfalten, und die Falten am Mund liess er ein wenig herab. Diederich lief ein Stueck mit, die Augen weit aufgerissen, immer schreiend und den Hut schwenkend, und einige Sekunden lang waren sie, indes ringsum dahinten eine fremde Menge ihnen Beifall klatschte, in der Mitte des leeren Platzes und unter einem knallblauen Himmel ganz miteinander allein, der Kaiser und sein Untertan. Schon verschwand der Wagen drueben in der beflaggten Strasse, die Hochrufe schwollen schon ab in der Ferne, und Diederich, der aufseufzte und die Augen schloss, setzte den Hut wieder auf. Guste winkte ihn krampfhaft herbei, und die Leute, die noch umherstanden, klatschten ihm zu, mit Gesichtern voll heiteren Wohlwollens. Auch die Soldaten, die vorhin ihn verfolgt hatten, lachten nun. Einer von ihnen ging in seiner Teilnahme so weit, dass er einen Kutscher herbeirief. Wie er abfuhr, gruesste Diederich die Menge. "Sie sind wie die Kinder", erklaerte er seiner Gattin. "Na, aber auch entsprechend schlapp", setzte er hinzu, und er gestand: "In Berlin waere das denn doch nicht gegangen ... Wenn ich an den Krawall Unter den Linden denke, der Betrieb war 'n bisschen schaerfer." Und er setzte sich zurecht, um am Hotel vorzufahren. Dank seiner Haltung bekamen sie ein Zimmer im zweiten Stock. Die erste Morgensonne aber sah Diederich schon wieder in den Strassen. "Der Kaiser steht frueh auf", hatte er Guste bedeutet, die nur aus den Kissen grunzte. Uebrigens konnte er sie nicht brauchen bei seiner Aufgabe. Den Finger auf dem Plan der Stadt, gelangte er bis vor den Quirinal und stellte sich hin. Der stille Platz war hellgolden von schraegen Strahlen, grell und wuchtig im leeren Himmel stand der Palast - und gegenueber Diederich, der Majestaet gewaertig, auf vorgestreckter Brust den Kronenorden vierter Klasse. Die Treppen herauf aus der Stadt trippelte eine Ziegenherde und verschwand hinter dem Brunnen und den riesigen Rossebaendigern. Diederich sah sich nicht um. Zwei Stunden vergingen, die Passanten wurden haeufiger, eine Schildwache war hinter ihrem Haus hervorgekommen, in einem der beiden Portale bewegte sich ein Portier, und mehrere Personen gingen ein oder aus. Diederich ward unruhig. Er machte sich naeher an die Fassade heran, strich langsam vorbei, gespannt ins Innere spaehend. Bei seinem dritten Erscheinen fuehrte der Portier, ein wenig zoegernd, die Hand an den Hut. Als Diederich stehenblieb und zurueckgruesste, ward er vertraulich. "Alles in Ordnung", sagte er hinter der Hand; und Diederich nahm die Meldung mit einer Miene des Einverstaendnisses entgegen. Es schien ihm nur natuerlich, dass man ihn ueber das Wohlergehen seines Kaisers unterrichtete. Seine Fragen, wann der Kaiser ausfahren werde und wohin, wurden anstandslos beantwortet. Der Portier verfiel von selbst darauf, dass Diederich, um den Kaiser zu begleiten, einen Wagen brauchen werde, und er schickte danach. Inzwischen hatte ein Haeuflein Neugieriger sich gebildet, und dann trat der Portier beiseite; hinter einem Vorreiter, im offenen Wagen, erschien, unter dem Blitzen seines Adlerhelms, der blonde Herr des Nordens. Diederichs Hut flog schon, Diederich schrie, wie aus der Pistole geschossen, auf italienisch: "Es lebe der Kaiser!" Und gefaellig schrie das Haeuflein mit ... Diederich aber, ein Sprung in den Einspaenner, der bereitstand, und los, hinterdrein, den Kutscher angefeuert mit rauhem Schrei und geschwungenem Trinkgeld. Und sieh: schon hielt er, dahinten nahte erst der Allerhoechste Wagen. Als der Kaiser ausstieg, war wieder ein Haeuflein da, und wiederum schrie Diederich auf italienisch ... Wache gehalten vor dem Haus, worin sein Kaiser weilte! Die Brust heraus und angeblitzt, wer sich in die Naehe traute! Nach zehn Minuten war das Haeuflein neu vervollstaendigt, der Wagen entrollte dem Tor, und Diederich: "Es lebe der Kaiser!" - und, im Echo des Haeufleins, wildbrausend zurueck zum Quirinal. Wache. Der Kaiser im Tschako. Das Haeuflein. Ein neues Ziel, eine neue Rueckkehr, eine neue Uniform, und wieder Diederich, und wieder jubelnder Empfang. So ging es weiter, und nie hatte Diederich ein schoeneres Leben gekannt. Sein Freund, der Portier, unterrichtete ihn zuverlaessig, wohin man fuhr. Auch kam es vor, dass ein salutierender Beamter ihm eine Meldung machte, die er herablassend entgegennahm, oder dass einer Direktiven zu erbitten schien - und dann erteilte Diederich sie in unbestimmter Form, aber gebieterisch. Die Sonne stieg hoch und hoeher; vor den brennenden Marmorquadern der Fassaden, hinter denen sein Kaiser weltumspannende Unterredungen pflog, litt Diederich, ohne zu wanken, Hitze und Durst. So stramm er sich hielt, war es ihm doch, als sinke sein Bauch unter der Last des Mittags bis auf das Pflaster herab und als schmelze ihm auf der Brust sein Kronenorden vierter Klasse ... Der Kutscher, der immer haeufiger die naechste Kneipe betrat, empfand endlich Bewunderung fuer das heldenhafte Pflichtgefuehl des Deutschen und brachte ihm Wein mit. Neues Feuer in den Adern, machten sich beide an das naechste Rennen. Denn die kaiserlichen Renner liefen scharf; um ihnen vorauszukommen, musste man Gassen durchjagen, die aussahen wie Kanaele und deren spaerliche Passanten sich schreckensvoll gegen die Mauer drueckten; oder es hiess aussteigen und Hals ueber Kopf eine Treppe nehmen. Dann aber stand Diederich puenktlich an der Spitze seines Haeufleins, sah die siebente Uniform aussteigen und schrie. Und dann wandte der Kaiser den Kopf und laechelte. Er erkannte ihn wieder, seinen Untertan! Den, der schrie, den, der immer schon da war, wie Swinegel. Diederich, federnd vor Hochgefuehl ueber die Allerhoechste Aufmerksamkeit, blitzte das Volk an, in dessen Mienen heiteres Wohlwollen stand. Erst die Versicherung des Portiers, dass Seine Majestaet nun fruehstuecke, erlaubte es Diederich, sich Gustes zu erinnern. "Wie siehst du aus!" rief sie bei seinem Anblick und zog sich gegen die Wand zurueck. Denn er war rot wie eine Tomate, voellig aufgeweicht, und sein Blick war hell und wild wie der eines germanischen Kriegers der Vorzeit auf einem Eroberungszuge durch Welschland. "Dies ist ein grosser Tag fuer die nationale Sache!" versetzte er mit Wucht. "Seine Majestaet und ich, wir machen moralische Eroberungen!" Wie er dastand! Guste vergass ihren Schrecken und den Aerger ueber das lange Warten: sie kam herbei mit liebevollen Armen, und demuetig rankte sie sich an ihm hinauf. Aber kaum das Stuendchen zum Essen goennte Diederich sich. Er wusste wohl, nach dem Mittagsmahl ruhte der Kaiser; dann hiess es, unter seinen Fenstern Wache stehen und nicht weichen. Er wich nicht; und der Erfolg zeigte, wie recht er tat. Denn noch hielt er seinen Posten, dem Portal gegenueber, nicht achtzig Minuten lang besetzt, als es geschah, dass ein verdaechtig aussehendes Individuum unter Benutzung einer kurzen Abwesenheit des Portiers sich einschlich, sich hinter eine Saeule drueckte und im lauernden Schatten Plaene barg, die nicht anders sein konnten als unheilvoll. Da aber Diederich! Wie den Sturm und mit Kriegsgeschrei sah man ihn ueber den Platz tosen. Aufgescheuchtes Volk stuerzte sofort hinterdrein, die Wache eilte herbei, im Portal lief Dienerschaft zusammen - und alle bewunderten Diederich, wie er einen, der sich versteckt hatte, wild ringend hervorzerrte. Die beiden schlugen dermassen um sich, dass nicht einmal die bewaffnete Macht an sie herankam. Ploetzlich sah man Diederichs Gegner, dem es gelungen war, den rechten Arm zu befreien, eine Buechse schwingen. Atemlose Sekunden - dann tobte die aufheulende Panik dem Ausgang zu. Eine Bombe! Er wirft!... Er hatte schon geworfen. In der Erwartung des Knalles lagen die naechsten, im voraus wimmernd, am Boden. Diederich aber: weiss auf Gesicht, Schultern und Brust stand er da und nieste. Es roch stark nach Pfefferminz. Die Kuehnsten kehrten um und untersuchten ihn mit der Nase; ein Soldat unter wallenden Federn betupfte ihn mit dem benetzten Finger und kostete. Diederich verstand wohl, was er hierauf der Menge mitteilte und weshalb sogleich in alle Gesichter das heitere Wohlwollen zurueckkehrte, denn seit einem Augenblick blieb ihm selbst kein Zweifel mehr darueber, dass er mit Zahnpulver beworfen war. Dessenungeachtet behielt er die Gefahr im Auge, der der Kaiser, dank seiner Wachsamkeit, vielleicht entronnen war. Der Attentaeter suchte - ganz vergebens - an ihm vorbei das Weite zu gewinnen: Diederichs eiserne Faust ueberlieferte ihn den Polizeiwaechtern. Diese stellten fest, dass es sich um einen Deutschen handelte, und baten Diederich, ihn zu inquirieren. Er unterzog sich der Aufgabe, trotz dem Zahnpulver, das ihn bedeckte, mit hoechster Korrektheit. Die Antworten des Menschen, der bezeichnenderweise Kuenstler war, hatten keine ausgesprochen politische Faerbung, verrieten aber durch ihre abgrundtiefe Respektlosigkeit und Unmoral nur zu wohl die Tendenzen des Umsturzes, weshalb Diederich seine Verhaftung dringend empfahl. Die Waechter fuehrten ihn ab, nicht ohne vor Diederich zu salutieren, der nur noch Zeit hatte, sich von seinem Freunde, dem Portier, abbuersten zu lassen. Denn schon war der Kaiser gemeldet; Diederichs persoenlicher Dienst begann wieder. Sein Dienst fuehrte ihn rastlos umher bis in die Nacht und endlich vor das Gebaeude der deutschen Botschaft, wo Seine Majestaet Empfang hielt. Ein laengerer Aufenthalt des Allerhoechsten Herrn gab Diederich Gelegenheit, beim naechsten Wirt seine Stimmung zu erhoehen. Er erklomm vor der Tuer einen Stuhl und richtete an das Volk eine Ansprache, die von nationalem Geiste getragen war und der schlappen Bande die Vorzuege eines strammen Regiments klarmachte und eines Kaisers, der kein Schattenkaiser war ... Sie sahen ihn, rot ueberstrahlt vom Licht der offenen Becken, die vor dem Palaste des Deutschen Reiches loderten, auf seinem Stuhl den eckig behaarten Mund aufreissen, sahen ihn blitzen und wie von Eisen starren - was ihnen offenbar genuegte, um ihn zu verstehen, denn sie jubelten, klatschten und liessen den Kaiser leben, sooft Diederich ihn leben liess. Mit einem Ernst, der nicht ohne Drohung war, nahm Diederich fuer seinen Herrn und die furchtbare Macht seines Herrn die Huldigungen des Auslandes entgegen, worauf er von dem Stuhl herabkletterte und wieder zum Wein ging. Mehrere Landsleute, kaum weniger angeregt als er, tranken ihm zu und kamen nach in heimischer Weise. Einer entfaltete eine Abendzeitung mit einem riesigen Bild des Kaisers und las den Bericht eines Zwischenfalles vor, den im Portal des Quirinals ein Deutscher hervorgerufen hatte. Nur durch die Geistesgegenwart eines Beamten im persoenlichen Dienst des Kaisers war Schlimmeres verhindert worden; und auch das Bildnis dieses Beamten war dabei. Diederich erkannte ihn wohl. Wenn die Aehnlichkeit auch nur allgemeiner Natur und der Name arg entstellt war, der Umfang des Gesichtes und der Schnurrbart stimmten. So sah denn Diederich den Kaiser und sich selbst auf dem gleichen Zeitungsblatt vereinigt, den Kaiser samt seinem Untertan der Welt zur Bewunderung dargeboten. Es war zu viel. Feuchten Auges richtete Diederich sich auf und stimmte die Wacht am Rhein an. Der Wein, der so billig war, und die Begeisterung, die immer neu genaehrt ward, bewirkten, dass die Kunde, der Kaiser verlasse die Botschaft, Diederich nicht mehr in korrekter Haltung fand. Er tat gleichwohl alles, was er noch vermochte, um seiner Pflicht zu genuegen. Er schoss im Zickzack das Kapitol hinab, stolperte und rollte ueber die Stufen weiter. Drunten in der Gasse holten seine Zechgenossen ihn ein, er stand mit dem Gesicht der Mauer zugekehrt ... Fackelschein und Hufschlag: der Kaiser! Die anderen schwankten hinterdrein, Diederich aber, kein Komment half ihm mehr, glitt hin, wo er stand. Zwei staedtische Waechter fanden ihn, an die Mauer gelehnt, in einer Lache sitzen. Sie erkannten den Beamten im persoenlichen Dienst des Deutschen Kaisers, und voll tiefer Besorgnisse beugten sie sich ueber ihn. Gleich darauf aber sahen sie einander an und brachen in ungeheure Froehlichkeit aus. Der persoenliche Beamte war gottlob nicht tot, denn er schnarchte; und die Lache, in der er sass, war kein Blut. Am naechsten Abend, bei der Galavorstellung im Theater, sah der Kaiser ungewoehnlich ernst aus. Diederich bemerkte es, er sagte zu Guste: "Jetzt weiss ich doch, wozu ich das viele Geld hab' ausgegeben. Pass auf, wir erleben einen historischen Moment!" Und seine Ahnung betrog ihn nicht. Die Abendblaetter verbreiteten sich im Theater, und man erfuhr, der Kaiser werde noch nachts abreisen, und er habe seinen Reichstag aufgeloest! Diederich, ebenso ernst wie der Kaiser, erklaerte allen, die in der Naehe sassen, die Schwere des Ereignisses. Der Umsturz hatte sich nicht entbloedet, die Militaervorlage abzulehnen! Die Nationalgesinnten gingen fuer ihren Kaiser in einen Kampf auf Leben und Tod! Er selbst werde mit dem naechsten Zuge nach Hause fahren, versicherte er, worauf man ihm sofort den Zug nannte ... Wer nicht zufrieden war, war Guste. "Endlich ist man mal woanders, und, Gott sei Dank, hat man es und kann sich was leisten. Wie komm' ich dazu, dass ich mich soll zwei Tage im Hotel mopsen und dann gleich wieder retour, bloss wegen -." Der Blick, den sie nach der kaiserlichen Loge schleuderte, war so voll von Auflehnung, dass Diederich mit aeusserster Strenge einschritt. Guste ward ihrerseits laut; ringsum zischte man, und als Diederich den Widersachern blitzend die Stirne bot, sah er sich von ihnen veranlasst, mit Guste aufzubrechen, noch bevor ihr Zug ging. "Komment hat das Pack nun mal nicht", stellte er draussen fest und schnaufte stark. "Ueberhaupt, was ist hier los, moecht' ich mal wissen. Schoenes Wetter, na ja ... Na, nu sieh dir wenigstens noch das alte Zeug an, das da 'rumsteht!" heischte er. Guste, wieder gebaendigt, sagte klagend: "Ich geniess' es ja." Und dann fuhren sie in gemessenem Abstand hinter dem Zug des Kaisers her. Guste, die in der Eile ihre Schwaemme und Buersten vergessen hatte, wollte immer aussteigen. Damit sie sechsunddreissig Stunden Geduld hatte, musste Diederich ihr unermuedlich die nationale Sache vorhalten. Trotzdem waren, als sie endlich in Netzig Fuss fasste, ihre erste Sorge die Schwaemme. Am Sonntag hatte man ankommen muessen! Zum Glueck war wenigstens die Loewenapotheke offen. Indes Diederich vor dem Bahnhof auf die Koffer wartete, ging Guste schon hinueber. Da sie aber nicht zurueckkam, folgte er ihr. Die Tuer der Apotheke stand halb offen, drei junge Burschen spaehten hinein und waelzten sich. Diederich, der ueber sie wegsah, erstarrte vor Staunen - denn drinnen hinter dem Ladentisch schritt, die Arme gekreuzt und mit duesterem Blick, hin und her sein alter Freund und Kommilitone Gottlieb Hornung. Guste sagte gerade: "Nun bin ich doch gespannt, ob ich bald meine Zahnbuerste kriege", da kam Gottlieb Hornung hinter dem Ladentisch hervor, die Arme immer verschraenkt und Guste in seinen duesterm Blick fassend. "Sie werden meiner Miene angesehen haben," begann er mit Rednerstimme, "dass ich weder in der Lage noch gewillt bin, Ihnen eine Zahnbuerste zu verkaufen." - "Nanu!" machte Guste und wich zurueck. "Aber Sie haben doch das ganze Glas hier voll." Gottlieb Hornung laechelte wie Luzifer. "Der Onkel dort oben" - er warf den Kopf zurueck und zeigte mit dem Kinn nach der Decke, hinter der wohl sein Prinzipal hauste - "der kann hier feilbieten, was ihm beliebt. Ich fuehle mich dadurch nicht beruehrt. Ich habe nicht sechs Semester studiert und einer hochfeinen Korporation angehoert, damit ich mich jetzt hier hinstelle und Zahnbuersten verkaufe." - "Wozu sind Sie denn da?" fragte Guste, merklich eingeschuechtert. Da versetzte Hornung, majestaetisch rollend: "Ich bin fuer die Rezeptur da!" Und Guste fuehlte wohl, sie sei zurueckgeschlagen; sie wandte sich zum Gehen. Eins fiel ihr doch noch ein. "Mit den Schwaemmen waere es wohl dasselbe?" - "Ganz dasselbe", bestaetigte Hornung. Hierauf hatte Guste offenbar gewartet, um sich ernstlich zu entruesten. Sie streckte den Busen vor und wollte loslegen; Diederich hatte aber noch Zeit, dazwischenzutreten. Er gab dem Freunde recht darin, dass die Wuerde der Neuteutonia zu wahren und ihr Banner hochzuhalten sei. Wenn jemand trotzdem einen Schwamm brauchte, konnte er ihn sich am Ende selbst nehmen und den Betrag hinlegen - was Diederich hiermit tat. Gottlieb Hornung ging inzwischen beiseite und pfiff, als sei er allein. Sodann bekundete Diederich seine Teilnahme an dem bisherigen Ergehen des Freundes. Leider war viel Missgeschick dabei; denn da Hornung niemals Schwaemme und Zahnbuersten hatte verkaufen wollen, war er schon aus fuenf Apotheken entlassen worden. Dennoch war er entschlossen, weiter fuer seine Ueberzeugung einzustehen, auf die Gefahr, dass es ihn auch hier wieder seine Stellung kostete. "Da sieh dir einen echten Neuteutonen an!" sagte Diederich zu Guste, und sie sah ihn sich an. Diederich hielt seinerseits nicht laenger zurueck mit dem, was er erlebt und erreicht hatte. Er machte auf seinen Orden aufmerksam, drehte Guste vor Hornung rundherum und nannte die Ziffer ihres Vermoegens. Der Kaiser, dessen Feinde und Beleidiger dank Diederich hinter Schloss und Riegel sassen, war in Rom ganz kuerzlich und gleichfalls dank Diederich einer persoenlichen Gefahr entronnen. Die Zeitungen sprachen, um eine Panik an den Hoefen und an der Boerse zu vermeiden, nur von dem Bubenstreich eines Halbwahnsinnigen, "aber im Vertrauen gesagt, ich habe Anlass, zu glauben, dass ein weitverzweigtes Komplott bestanden hat. Du wirst verstehen, Hornung, dass das nationale Interesse die groesste Zurueckhaltung gebietet, denn du bist sicher auch ein national gesinnter Mann." Hornung war es natuerlich, und so konnte Diederich sich ueber die hochwichtige Aufgabe verbreiten, die ihn genoetigt hatte, von seiner Hochzeitsreise ploetzlich zurueckzukehren. Es galt, in Netzig den nationalen Kandidaten durchzubringen! Die Schwierigkeiten durfte man sich nicht verhehlen. Netzig war eine Hochburg des Freisinns, der Umsturz ruettelte an den Grundlagen.... Hier begann Guste zu drohen, dass sie mit dem Gepaeck nach Hause fahren werde. Diederich konnte den Freund nur noch dringend einladen, ihn gleich heute abend zu besuchen, er habe dringend mit ihm zu reden. Wie er in den Wagen stieg, sah er einen der Schlingel, die draussen gewartet hatten, die Apotheke betreten und eine Zahnbuerste verlangen. Diederich bedachte, dass Gottlieb Hornung eben vermoege seiner aristokratischen Richtung, die ihm beim Verkauf von Schwaemmen und Zahnbuersten so hinderlich war, im Kampf gegen die Demokratie ein wertvoller Bundesgenosse werden koenne. Aber dies war die geringste seiner schleunigen Sorgen. Der alten Frau Hessling wurden nur schnell ein paar Traenen erlaubt, dann musste sie wieder in das obere Stockwerk hinauf, wo frueher nur das Dienstmaedchen und die nasse Waesche untergebracht waren und wohin Diederich jetzt seine Mutter und Emmi beseitigt hatte. Den Russ von der Reise noch im Bart, begab er sich hintenherum zum Praesidenten von Wulckow, liess darauf, nicht weniger unauffaellig, Napoleon Fischer zu sich kommen und hatte inzwischen schon Schritte getan, um ohne Verzug eine Zusammenkunft mit Kunze, Kuehnchen und Zillich zu bewirken. Der Sonntagnachmittag erschwerte das Unternehmen; der Major konnte nur mit Muehe seiner Kegelpartie entrissen werden, den Pastor musste man an einem Familienausflug mit Kaethchen und Assessor Jadassohn verhindern, und der Professor befand sich in den Haenden seiner beiden Pensionaere, die ihn schon halb betrunken gemacht hatten. Schliesslich gelang es, alle im Lokal des Kriegervereins zusammenzutreiben, und Diederich eroeffnete ihnen ohne weiteren Zeitverlust, dass ein nationaler Kandidat aufgestellt werden muesse und dass nach Lage der Dinge nur einer in Frage komme, naemlich Herr Major Kunze. "Hurra!" rief Kuehnchen ohne weiteres, aber die Miene des Majors zog sich noch gewitterhafter zusammen. Ob man ihn denn fuer naiv halte, knirschte er hervor. Ob man glaube, er lechze nach einer Blamage. "Ein nationaler Kandidat in Netzig, was dem passiert, darauf bin ich nicht neugierig. Wenn alles so gewiss waere wie der nationale Durchfall!" Diederich liess dies keineswegs gelten. "Wir haben den Kriegerverein, den wollen die Herren in Rechnung stellen. Der Kriegerverein ist eine unschaetzbare Operationsbasis. Von ihr aus schlagen wir uns in gerader Linie durch, wenn ich so sagen darf, bis zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal, und dort wird die Schlacht gewonnen." "Hurra!" schrie Kuehnchen wieder, die beiden anderen aber wuenschten doch zu wissen, was es mit dem Denkmal sei, und Diederich weihte sie ein in seine Erfindung - wobei er lieber darueber hinwegging, dass das Denkmal der Gegenstand eines Paktes zwischen ihm und Napoleon Fischer sei. Das freisinnige Saeuglingsheim, so viel verriet er, war nicht populaer, eine Menge Waehler liessen sich zu der nationalen Sache herueberziehen, wenn man ihnen aus dem Nachlass des alten Kuehlemann ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal versprach. Erstens wurden dabei mehr Handwerker beschaeftigt, und dann kam Betrieb in die Stadt, die Einweihung solch eines Denkmals zog weite Kreise, Netzig hatte Aussicht, seinen schlechten Ruf als demokratischer Sumpf zu verlieren und in die Gnadensonne zu ruecken. Dabei dachte Diederich an seinen Pakt mit Wulckow, ueber den er auch lieber hinging. "Dem Manne aber, der so unendlich viel fuer uns alle erreicht und errungen hat" - er zeigte schwungvoll auf Kunze - "dem Manne wird unsere liebe alte Stadt ganz sicher auch dereinst ein Denkmal setzen. Er und Kaiser Wilhelm der Grosse werden einander anblicken -" "Und die Zunge zeigen", schloss der Major, der bei seinem Unglauben verharrte. "Wenn Sie meinen, die Netziger warten nur auf den grossen Mann, der sie mit klingendem Spiel in das nationale Lager fuehrt, warum spielen Sie dann nicht selbst den grossen Mann?" Und er bohrte sich in Diederichs Augen. Aber Diederich riss sie nur noch ehrlicher auf; er legte die Hand auf das Herz. "Herr Major! Meine wohlbekannte kaisertreue Gesinnung hat mir schon schwerere Pruefungen auferlegt als eine Kandidatur fuer den Reichstag, und die Pruefungen, das darf ich sagen, hab' ich bestanden! Dabei hab' ich mich nicht gescheut, als Vorkaempfer der guten Sache, allen Hass der Schlechtgesinnten auf meine Person zu laden, und hab' es mir dadurch unmoeglich gemacht, die Frucht meiner Opfer selbst einzustecken. Mich wuerden die Netziger nicht waehlen, meine Sache werden sie waehlen, und darum trete ich zurueck, denn sachlich sein heisst deutsch sein, und lasse Ihnen, Herr Major, neidlos die Ehren und die Freuden!" Allgemeine Bewegung. Kuehnchens Bravo klang traenenfeucht, der Pastor nickte weihevoll, und Kunze starrte, sichtlich erschuettert, unter den Tisch. Diederich aber fuehlte sich leicht und gut, er hatte sein Herz sprechen lassen, und es hatte Treue, Opfersinn und mannhaften Idealismus ausgedrueckt. Diederichs blond behaarte Hand streckte sich ueber den Tisch, und die braun behaarte des Majors schlug zoegernd, doch kraeftig hinein. Nach dem Herzen freilich ergriff bei allen vier Maennern wieder die Vernunft das Wort. Der Major erkundigte sich, ob Diederich bereit sei, ihn zu entschaedigen fuer die ideellen und materiellen Verluste, von denen er bedroht sei, falls er gegen den Kandidaten des freisinnigen Kluengels in die Schranken trete und ihm unterliege. "Sehen Sie wohl!" - und er reckte den Finger gegen Diederich, der angesichts dieser Geradlinigkeit nicht gleich Worte fand. "So ganz koscher kommt Ihnen die nationale Sache auch nicht vor, und dass Sie mich durchaus 'rankriegen wollen, wie ich Sie kenne, Herr Doktor, haengt das mit irgendwelchen Fisimatenten Ihrerseits zusammen, von denen ich als gerader Soldat gottlob nichts verstehe." Hierauf beeilte Diederich sich, dem geraden Soldaten einen Orden zu versprechen, und da er sein Einverstaendnis mit Wulckow durchblicken liess, war der nationale Kandidat endlich rueckhaltlos gewonnen.... Inzwischen aber hatte Pastor Zillich es sich ueberlegt, ob seine Stellung in der Stadt es ihm erlaube, den Vorsitz des nationalen Wahlkomitees zu uebernehmen. Sollte er die Zwietracht in seine Gemeinde tragen? Sein leiblicher Schwager Heuteufel war der Kandidat der Liberalen! Freilich, wenn man statt des Denkmals eine Kirche gebaut haette! "Denn wahrlich, Gotteshaeuser tun mehr denn je not, und meine liebe Kirche von Sankt Marien wird von der Stadt so sehr vernachlaessigt, dass sie heute oder morgen mir und meinen Christen auf den Kopf fallen kann." Ohne Saeumen verbuergte Diederich sich fuer alle gewuenschten Reparaturen. Zur Bedingung machte er nur, dass der Pastor von den Vertrauensstellungen der neuen Partei alle diejenigen Elemente fernhalte, die schon durch gewisse Aeusserlichkeiten berechtigte Zweifel an der Echtheit ihrer nationalen Gesinnung erregten. "Ohne in Familienverhaeltnisse eingreifen zu wollen", setzte Diederich hinzu und sah Kaethchens Vater an, der offenbar begriffen hatte, denn er muckte nicht.... Aber auch Kuehnchen, der laengst nicht mehr hurra schrie, meldete sich. Die beiden anderen hatten ihn, waehrend sie selbst sprachen, nur mit Gewalt auf seinem Sitz festgehalten; kaum dass sie ihn losliessen, riss er stuermisch die Debatte an sich. Wo musste die nationale Gesinnung vor allem wurzeln? In der Jugend? Wie aber war das moeglich, wenn der Rektor des Gymnasiums ein Freund des Herrn Buck war. "Da kann ich mir die Schwindsucht an den Hals reden von unseren glorreichen Taten im Jahre siebzig..." Genug, Kuehnchen wollte Rektor werden, und Diederich bewilligte es ihm grossmuetig. Nachdem dermassen die politische Haltung auf der gesunden Grundlage der Interessen festgelegt war, konnte man sich mit gutem Gewissen der Begeisterung hingeben, die, wie Pastor Zillich erklaerte, von Gott kam und auch der besten Sache erst die hoehere Weihe lieh, und so begab man sich in den Ratskeller. In aller Fruehe, als die vier Herren heimgingen, klebten an den Mauern zwischen den weissen Wahlaufrufen Heuteufels und den roten des Genossen Fischer die schwarzweissrot geraenderten Plakate, die Herrn Major Kunze als Kandidaten der "Partei des Kaisers" empfahlen. Diederich pflanzte sich so fest, als es ihm moeglich war, davor auf und las mit schneidiger Tenorstimme. "Vaterlandslose Gesellen des aufgeloesten Reichstages haben es gewagt, unserem herrlichen Kaiser die Machtmittel zu versagen, deren er zur Groesse des Reiches bedarf.... Wollen uns des grossen Monarchen wuerdig erweisen und seine Feinde zerschmettern! Einziges Programm: Der Kaiser! Die fuer mich und die wider mich: Umsturz und Partei des Kaisers!" Kuehnchen, Zillich und Kunze bekraeftigten alles mit Geschrei; und da einige Arbeiter, die in die Fabrik gingen, erstaunt stehenblieben, drehte Diederich sich um und erlaeuterte ihnen das nationale Manifest. "Leute!" rief er. "Ihr wisst gar nicht, was ihr fuer ein Schwein habt, dass ihr Deutsche seid. Denn um unseren Kaiser beneidet uns die ganze Welt, habe mich soeben im Ausland persoenlich davon ueberzeugt." Hier schlug Kuehnchen mit der Faust auf dem Anschlagbrett einen Tusch, und die vier Herren schrien hurra, indes die Arbeiter ihnen zusahen. "Wollt ihr, dass euer Kaiser euch Kolonien schenkt?" fragte Diederich sie. "Na also. Dann schaerft ihm gefaelligst das Schwert! Waehlt keinen vaterlandslosen Gesellen, das verbitte ich mir, sondern einzig den Kandidaten des Kaisers, Herrn Major Kunze: sonst garantiere ich euch keinen Augenblick fuer unsere Stellung in der Welt, und es kann euch passieren, dass ihr mit zwanzig Mark weniger Lohn alle vierzehn Tage nach Haus geht!" Hier sahen die Arbeiter stumm einander an, und dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Aber auch die Herren verloren keine Zeit. Kunze selbst ging auf steifen Beinen an die Aufgabe, den Mitgliedern des Kriegervereins den Standpunkt klarzumachen. "Wenn die Kerls glauben," erklaerte er, "sie koennen kuenftig noch den freien Gewerkschaften angehoeren! Den Freisinn treiben wir ihnen auch aus! Von heute ab greift 'ne schaerfere Tonart Platz!" Pastor Zillich verhiess eine verwandte Taetigkeit in den christlichen Vereinen, indes Kuehnchen zum voraus von der frischen Begeisterung seiner Primaner schwaermte, die auf Fahrraedern die Stadt durcheilen und Waehler herbeischleppen sollten. Das rastloseste Pflichtgefuehl aber beseelte doch Diederich. Er verschmaehte jede Ruhe; seiner Gattin, die im Bett lag und ihn mit Vorwuerfen empfing, erwiderte er blitzend: "Mein Kaiser hat ans Schwert geschlagen, und wenn mein Kaiser ans Schwert schlaegt, dann gibt es keine ehelichen Pflichten mehr. Verstanden?" Worauf Guste sich schroff herumwarf und das mit ihren hinteren Reizen ausgefuellte Federbett wie einen Turm zwischen sich und den Ungefaelligen stellte. Diederich unterdrueckte das Bedauern, das ihn beschleichen wollte, und schrieb ungesaeumt einen Warnruf gegen das freisinnige Saeuglingsheim. Die "Netziger Zeitung" brachte ihn auch, obwohl sie vor zwei Tagen aus der Feder des Herrn Doktors Heuteufel eine ueberaus warme Empfehlung des Saeuglingsheims gebracht hatte. Denn, wie der Redakteur Nothgroschen hinzusetzte, das Organ des gebildeten Buergertums war es seinen Abonnenten schuldig, an jede neu auftauchende Idee vor allem den Pruefstein seines Kulturgewissens zu legen. Und dies tat Diederich in geradezu vernichtender Weise. Fuer wen war so ein Saeuglingsheim naturgemaess in erster Linie bestimmt? Fuer die unehelichen Kinder. Was beguenstigte es also? Das Laster. Hatten wir das noetig? Nicht die Spur; "denn wir sind Gott sei Dank nicht in der traurigen Lage der Franzosen, die durch die Folgen ihrer demokratischen Zuchtlosigkeit schon so gut wie auf den Aussterbeetat gesetzt sind. Die moegen uneheliche Geburten preiskroenen, weil sie sonst keine Soldaten mehr haben. Wir aber sind nicht angefault, wir erfreuen uns eines unerschoepflichen Nachwuchses! Wir sind das Salz der Erde!" Und Diederich rechnete den Abonnenten der "Netziger Zeitung" vor, bis wann sie und ihresgleichen hundert Millionen betragen wuerden, und wie lange es hoechstens noch dauern koenne, bis die Erde deutsch sei. Hiermit waren, nach der Meinung des nationalen Komitees, die Vorbereitungen getroffen fuer die erste Wahlversammlung der "Partei des Kaisers". Sie sollte bei Klappsch sein, der seinen Saal patriotisch aufgemacht hatte. In Tannenkraenzen gluehten Transparente: "Der Wille des Koenigs ist das hoechste Gebot." "Es gibt fuer euch nur einen Feind, und der ist mein Feind." "Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich." "Mein Kurs ist der richtige." "Buerger, erwacht aus dem Schlummer!" Fuer das Erwachen sorgten Klappsch und Fraeulein Klappsch, indem sie ueberall immer frisches Bier hinstellte, ohne so peinlich wie sonst die Bierfilze aufzuhaeufen. So ward Kunze, als der Vorsitzende, Pastor Zillich, ihn der Versammlung vorstellte, schon mit Stimmung aufgenommen. Diederich freilich, hinter der Rauchwolke, in der das Bureau sass, machte die unliebsame Bemerkung, dass auch Heuteufel, Cohn und einige von ihrem Anhang in den Saal gelangt waren. Er stellte Gottlieb Hornung zur Rede, denn Hornung hatte die Aufsicht. Aber er wollte sich nichts sagen lassen, er war gereizt, es hatte ihn zu grosse Muehe gekostet, die Leute zusammenzutreiben. So viele Lieferanten wie das Kaiser-Wilhelm-Denkmal dank seiner Agitation nun schon hatte, konnte die Stadt nie bezahlen, und wenn der alte Kuehlemann dreimal starb! Geschwollene Haende hatte Hornung von den Begruessungen all der neubekehrten Patrioten! Zumutungen hatten sie an ihn gestellt! Dass er sich mit einem Drogisten assoziieren sollte, war noch das wenigste. Aber Gottlieb Hornung protestierte gegen diesen demokratischen Mangel an Distanz. Der Besitzer der Loewenapotheke hatte ihm soeben gekuendigt, und er war entschlossener als je, weder Schwaemme noch Zahnbuersten zu verkaufen.... Inzwischen stammelte Kunze an seiner Kandidatenrede. Denn seine finstere Miene taeuschte Diederich nicht darueber, dass der Major dessen, was er sagen wollte, durchaus nicht sicher war und dass der Wahlkampf ihn befangener machte, als der Ernstfall es getan haben wuerde. Er sagte: "Meine Herren, das Heer ist die einzige Saeule", da jedoch einer aus der Gegend Heuteufels dazwischenrief: "Schon faul!", verwirrte Kunze sich sogleich und setzte hinzu: "Aber wer bezahlt es? Der Buerger." Worauf die um Heuteufel Bravo riefen. Hierdurch in eine falsche Richtung gedraengt, erklaerte Kunze: "Darum sind wir alle Saeulen, das duerfen wir wohl verlangen, und wehe dem Monarchen -" "Sehr richtig!" antworteten freisinnige Stimmen, und die gutglaeubigen Patrioten schrien mit. Der Major wischte sich den Schweiss; ohne sein Zutun nahm seine Rede einen Verlauf, als hielte er sie im liberalen Verein. Diederich zog ihn von hinten am Rockschoss, er beschwor ihn, Schluss zu machen, aber Kunze versuchte es vergebens: den Uebergang zur Wahlparole der "Partei des Kaisers" fand er nicht. Am Ende verlor er die Geduld, ward jaeh dunkelrot und stiess mit unvermittelter Wildheit hervor: "Ausrotten bis auf den letzten Stumpf! Hurra!" Der Kriegerverein donnerte Beifall. Wo nicht mitgeschrien wurde, erschienen auf Diederichs Wink eilends Klappsch oder Fraeulein Klappsch. Zur Diskussion meldete sich alsbald Doktor Heuteufel, aber Gottlieb Hornung kam ihm zuvor. Diederich fuer seine Person blieb lieber im Hintergrund, hinter der Rauchwolke des Praesidiums. Er hatte Hornung zehn Mark versprochen, und Hornung war nicht in der Lage, sie auszuschlagen. Knirschend trat er an den Rand der Buehne und erlaeuterte die Rede des verehrten Herrn Majors dahin, dass das Heer, fuer das wir alle zu jedem Opfer bereit seien, unser Bollwerk gegen die Schlammflut der Demokratie sei. "Die Demokratie ist die Weltanschauung der Halbgebildeten", stellte der Apotheker fest. "Die Wissenschaft hat sie ueberwunden." "Sehr richtig!" rief jemand; es war der Drogist, der sich mit ihm assoziieren wollte. "Herren und Knechte wird es immer geben!" bestimmte Gottlieb Hornung, "denn in der Natur ist es auch so. Und es ist dass einzig Wahre, denn jeder muss ueber sich einen haben, vor dem er Angst hat, und einen unter sich, der vor ihm Angst hat. Wohin kaemen wir sonst! Wenn der erste beste sich einbildet, er ist ganz fuer sich selbst was und alle sind gleich! Wehe dem Volk, dessen ueberkommene, ehrwuerdige Formen sich erst in den demokratischen Mischmasch aufloesen, und wo der zersetzende Standpunkt der Persoenlichkeit das Uebergewicht bekommt!" Hier verschraenkte Gottlieb Hornung die Arme und schob den Nacken vor. "Ich," rief er, "der ich einer hochfeinen Verbindung angehoert habe und den freudigen Blutverlust fuer die Ehre der Farben kenne, ich bedanke mich dafuer, dass ich Zahnbuersten verkaufen soll!" "Und Schwaemme auch nicht?" fragte jemand. "Auch nicht!" entschied Hornung. "Ich verbitte mir ganz energisch, dass noch mal einer kommt. Man soll immer wissen, wen man vor sich hat. Jedem das Seine. Und in diesem Sinne geben wir unsere Stimme nur einem Kandidaten, der dem Kaiser so viel Soldaten bewilligt, als er haben will. Denn entweder haben wir einen Kaiser oder nicht!" Damit trat Gottlieb Hornung zurueck und sah, den Unterkiefer vorgeschoben, aus gefalteten Brauen in das Beifallsgebrause. Der Kriegerverein liess es sich nicht nehmen, mit geschwungenen Bierglaesern an ihm und Kunze vorbeizudefilieren. Kunze nahm Haendedruecke entgegen, Hornung stand ehern da - und Diederich konnte nicht umhin, mit Bitterkeit zu empfinden, dass diese beiden zweitklassigen Persoenlichkeiten den Vorteil hatten von einer Gelegenheit, die sein Werk war. Er musste ihnen die Volksgunst des Augenblicks wohl lassen, denn er wusste besser als die beiden Gimpel, wo dies hinauswollte. Da der nationale Kandidat am Ende nur dazu da war, eine Hilfstruppe fuer Napoleon Fischer anzuwerben, tat man gut daran, sich nicht selbst hinauszustellen. Heuteufel freilich legte es darauf an, Diederich hervorzulocken. Der Vorsitzende, Pastor Zillich, konnte ihm das Wort nicht laenger verweigern, sofort begann er vom Saeuglingsheim. Das Saeuglingsheim sei eine Sache des sozialen Gewissens und der Humanitaet. Was aber sei das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Eine Spekulation, und die Eitelkeit sei noch der anstaendigste der Triebe, auf die spekuliert werde.... Die Lieferanten dort unten hoerten zu in einer Stille voll peinlicher Gefuehle, denen hier und da ein dumpfes Murren entstieg. Diederich bebte. "Es gibt Leute," behauptete Heuteufel, "denen es auf hundert Millionen mehr fuer das Militaer nicht ankommt, denn sie wissen schon, womit sie es fuer ihre Person wieder hereinbringen." Da schnellte Diederich auf: "Ich bitte ums Wort!" und mit Bravo! Hoho! Abtreten! explodierten die Gefuehle der Lieferanten. Sie groelten, bis Heuteufel fort war und Diederich dastand. Diederich wartete lange, bevor das Meer der nationalen Empoerung sich beruhigte. Dann begann er. "Meine Herren!" "Bravo!" schrien die Lieferanten, und Diederich musste weiter warten in der Atmosphaere gleichgestimmter Gemueter, worin das Atmen ihm leicht war. Als sie ihn reden liessen, gab er der allgemeinen Empoerung Worte, dass der Vorredner es habe wagen koennen, die Versammlung in ihrer nationalen Gesinnung zu verdaechtigen. "Unerhoert!" riefen die Lieferanten. "Das beweist uns nur," rief Diederich, "wie zeitgemaess die Gruendung der 'Partei des Kaisers' war! Der Kaiser selbst hat befohlen, dass alle diejenigen sich zusammenschliessen, die, ob edel oder unfrei, ihn von der Pest des Umsturzes befreien wollen. Das wollen wir, und darum steht unsere nationale und kaisertreue Gesinnung hoch ueber den Verdaechtigungen derer, die selbst bloss eine Vorfrucht des Umsturzes sind!" Noch bevor der Beifall losbrechen konnte, sagte Heuteufel sehr deutlich: "Abwarten! Stichwahl!" Und obwohl die Lieferanten sogleich alles weitere im Getoese ihrer Haende erstickten, fand Diederich doch schon in diesen zwei Worten so gefaehrliche Andeutungen versteckt, dass er schnell ablenkte. Das Saeuglingsheim war ein weniger verfaengliches Gebiet. Wie? Eine Sache des sozialen Gewissens sollte es sein? Ein Ausfluss des Lasters war es! "Wir Deutschen ueberlassen so was den Franzosen, die ein sterbendes Volk sind!" Diederich brauchte nur seinen Artikel aus der "Netziger Zeitung" herzusagen. Der vom Pastor Zillich geleitete Juenglingsverein sowie die christlichen Handlungsgehilfen klatschten bei jedem Wort. "Der Germane ist keusch!" rief Diederich, "darum haben wir im Jahre siebzig gesiegt!" Jetzt war die Reihe am Kriegerverein, von Begeisterung zu droehnen. Hinter dem Tisch des Vorstandes sprang Kuehnchen auf, schwenkte seine Zigarre und kreischte: "Nu verklobben mer sie bald noch emal!" Diederich hob sich auf die Zehen. "Meine Herren!" schrie er angestrengt in die nationalen Wogen, "das Kaiser-Wilhelm-Denkmal soll eine Huldigung fuer den erhabenen Grossvater sein, den wir, ich darf es sagen, alle fast wie einen Heiligen verehren, und zugleich ein Versprechen an den erhabenen Enkel, unseren herrlichen jungen Kaiser, dass wir so bleiben wollen wie wir sind, naemlich keusch, freiheitsliebend, wahrhaftig, treu und tapfer!" Hier waren wieder die Lieferanten nicht mehr zu halten. Selbstvergessen schwelgten sie im Idealen - und auch Diederich war sich keiner weltlichen Hintergedanken mehr bewusst, nicht seines Paktes mit Wulckow, nicht seiner Verschwoerung mit Napoleon Fischer, noch seiner dunkeln Absichten fuer die Stichwahl. Reine Begeisterung entfuehrte seine Seele auf einen Flug, von dem ihr schwindelte. Erst nach einer Weile konnte er wieder schreien. "Abzuweisen und mit aller Schaerfe hinter die ihnen gebuehrenden Schranken zurueckzudaemmen sind daher die Anwuerfe derer, die weiter nichts wollen, als uns verweichlichen mit ihrer falschen Humanitaet!" - "Wo haben Sie Ihre echte sitzen?" fragte die Stimme Heuteufels und stachelte dadurch die nationale Gesinnung der Versammelten so hoch auf, dass Diederich nur noch stellenweise zu hoeren war. Man verstand, er wollte keinen ewigen Frieden, denn das war ein Traum und nicht einmal ein schoener. Dagegen wollte er eine spartanische Zucht der Rasse. Bloedsinnige und Sittlichkeitsverbrecher waren durch einen chirurgischen Eingriff an der Fortpflanzung zu verhindern. Bei diesem Punkt verliess Heuteufel mit den Seinen das Lokal. Von der Tuer rief er noch her: "Den Umsturz kastrieren Sie auch!" Diederich antwortete: "Machen wir, wenn Sie noch lange noergeln!" "Machen wir!" toente es zurueck von allen Seiten. Alle waren ploetzlich auf den Fuessen, prosteten, jauchzten und vermischten ihre Hochgefuehle. Diederich, umbraust von Huldigungen, wankend unter dem Ansturm treudeutscher Haende, die die seinen schuetteln wollten, und nationaler Bierglaeser, die mit ihm anstiessen, sah von seiner Buehne in den Saal hinaus, der seinem durch Rausch getruebten Blick weiter und hoeher schien. Aus den hoechsten Tabakswolken gluehten ihn mystisch die Gebote seines Herrn an: "Der Wille des Koenigs!" "Mein Feind!" "Mein Kurs!" Er wollte sie in das brausende Volk hineinschreien - aber er griff sich an die Kehle, kein Ton kam mehr: Diederich war stockheiser. Da sah er sich voll Sorge nach Heuteufel um, der leider fort war. "Ich haette ihn nicht so reizen sollen. Jetzt gnade mir Gott, wenn er mich pinselt." Die schlimmste Rache Heuteufels war, dass er Diederich das Ausgehen verbot. Draussen tobte der Kampf taeglich wilder, und alle standen in der Zeitung, weil alle redeten: Pastor Zillich sogar und selbst der Redakteur Nothgroschen, zu schweigen von Kuehnchen, der ueberall zugleich redete. Nur Diederich in seinem neu altdeutsch moeblierten Salon gurgelte stumm. Von der Estrade beim Fenster sahen drei Bronzefiguren in zweidrittel Lebensgroesse ihm zu: der Kaiser, die Kaiserin und der Trompeter von Saeckingen. Sie waren ein Gelegenheitskauf bei Cohn gewesen; obwohl Cohn das Hesslingsche Papier abbestellt hatte und noch immer nicht national empfand, hatte Diederich sie in seiner Einrichtung nicht missen wollen. Guste warf sie ihm vor, wenn er ihren Hut zu teuer fand. Guste begann in letzter Zeit launisch zu werden, auch kamen ihr Uebelkeiten, waehrend deren sie sich im Schlafzimmer von der alten Frau Hessling pflegen liess. Sobald es ihr besser ging, erinnerte sie die Alte daran, dass hier eigentlich alles mit ihrem Geld bezahlt war. Frau Hessling verfehlte nicht, die Heirat mit ihrem Diedel als eine wahre Gnade hinzustellen fuer Guste, in ihrer damaligen Lage. Zum Schluss war Guste rot aufgeblaeht und schnaufte, Frau Hessling aber vergoss Traenen. Diederich hatte den Nutzen davon, denn beide waren nachher mit ihm die Liebe selbst, in der Absicht, ihn, der nichts ahnte, auf ihre Seite zu bringen. Was Emmi betraf, so schlug sie, ihrer Gewohnheit folgend, einfach die Tuer zu und ging hinauf in ihr Zimmer, das eine schraege Decke hatte. Guste sann darauf, sie auch daraus noch zu vertreiben. Wo sollte man bei Regen die Waesche trocknen. Wenn Emmi, weil sie nichts hatte, keinen Mann fand, musste man sie eben unter ihrem Stande verheiraten, mit einem braven Handwerker! Aber freilich, Emmi spielte sich auf die Feinste in der Familie hinaus, sie verkehrte mit Brietzens.... Denn dies erbitterte Guste am meisten, Emmi ward zu den Fraeulein von Brietzen eingeladen - obwohl diese das Haus nie betreten hatten. Ihr Bruder, der Leutnant, wuerde Guste, von den Soupers bei ihrer Mutter her, wenigstens einen Besuch geschuldet haben, aber nur der zweite Stock des Hesslingschen Hauses ward von ihm fuer wuerdig befunden, es war nachgerade auffallend.... Ihre gesellschaftlichen Erfolge behueteten Emmi freilich nicht vor Tagen grosser Niedergeschlagenheit; dann verliess sie ihr Zimmer nicht einmal zu den Mahlzeiten, die gemeinsam waren. Einmal ging Guste, aus Mitgefuehl und Langeweile, hinauf zu ihr, Emmi schloss aber, wie sie sie sah, die Augen, sie lag in ihrer hinfliessenden Matinee bleich und starr da. Guste, die keine Antwort bekam, versuchte es ihrerseits mit Vertraulichkeiten ueber Diederich und ueber ihren Zustand. Da zog Emmis starres Gesicht sich jaeh zusammen, sie waelzte sich auf einen ihrer Arme, und mit dem anderen winkte sie heftig nach der Tuer. Guste blieb den Ausdruck ihrer Empoerung nicht schuldig; Emmi, jaeh aufgesprungen, gab ihrem Wunsch, alleinzubleiben, die deutlichsten Worte; und als die alte Frau Hessling hinzukam, war es schon beschlossene Sache, dass die beiden Teile der Familie kuenftig getrennt essen wuerden. Diederich, dem Guste vorweinte, war peinlich beruehrt von den Weibergeschichten. Zum Glueck kam ihm ein Gedanke, der geeignet schien, zunaechst mal Ruhe zu schaffen. Da er wieder ueber ein wenig Stimme verfuegte, ging er gleich zu Emmi und verkuendete ihr seinen Entschluss, sie fuer einige Zeit nach Eschweiler zu schicken, zu Magda. Erstaunlicherweise lehnte sie ab. Da er nicht nachliess, wollte sie aufbegehren, ward aber ploetzlich wie von Angst befallen und begann leise und instaendig zu bitten, dass sie dableiben duerfe. Diederich, dem, er wusste nicht was, ans Herz griff, liess ratlos die Augen umhergehen, und dann zog er sich zurueck. Am Tage darauf erschien Emmi, als sei nichts geschehen, beim Mittagessen, frisch geroetet und in bester Laune. Guste, die um so zurueckhaltender blieb, warf Diederich Blicke zu. Er glaubte zu verstehen; er erhob sein Glas gegen Emmi und sagte schalkhaft: "Prost, Frau von Brietzen". Da erblasste Emmi. "Mach' dich nicht laecherlich!" rief sie zornig, warf die Serviette hin und schlug die Tuer zu. "Nanu", knurrte Diederich; aber Guste hob nur die Schultern. Erst als die alte Frau Hessling fort war, sah sie Diederich merkwuerdig in die Augen und fragte: "Glaubst du wirklich?" Er erschrak, machte aber ein fragendes Gesicht. "Ich meine," erklaerte Guste, "dann koennte mich der Herr Leutnant wenigstens auf der Strasse gruessen. Aber heute hat er einen Bogen gemacht." Diederich bezeichnete dies als Unsinn. Guste erwiderte: "Wenn ich es mir bloss einbilde, dann bilde ich mir noch mehr ein, weil ich naemlich in der Nacht schon oefter was durchs Haus schleichen gehoert habe, und heute sagte auch Minna -." Weiter kam Guste nicht. "Aha!" Diederich schnob. "Mit den Dienstboten steckst du zusammen! Das tat Mutter auch immer. Aber ich kann dir nur sagen, dass ich das nicht dulde. Ueber der Ehre meines Hauses wache ich allein, dazu brauche ich weder Minna noch dich, und wenn ihr anderer Meinung seid, dann seht lieber gleich beide zu, dass ihr die Tuer wiederfindet, wo ihr hereingekommen seid!" Vor dieser mannhaften Haltung konnte Guste sich freilich nur ducken, aber sie laechelte ihm von unten nach, wie er davonging. Diederich seinerseits war froh, durch sein festes Auftreten die Sache aus der Welt geschafft zu haben. Denn noch verwickelter, als es in diesen Zeiten schon war, durfte das Leben nicht werden. Seine Heiserkeit, die ihn leider nun drei Tage lang dem Kampfe fernhielt, war von den Feinden nicht unbenutzt gelassen. Ja, Napoleon Fischer hatte ihn noch heute morgen davon unterrichtet, dass die "Partei des Kaisers" ihm zu stark werde und dass sie neuerdings zu viel gegen die Sozialdemokratie hetze. Unter diesen Umstaenden -. Um ihn zu beruhigen, hatte Diederich ihm versprechen muessen, gleich heute werde er die uebernommenen Verpflichtungen erfuellen und von den Stadtverordneten das sozialdemokratische Gewerkschaftshaus verlangen.... So begab er sich, durchaus noch nicht hergestellt, in die Versammlung - und hier musste er erleben, dass der Antrag betreffend das Gewerkschaftshaus soeben eingebracht worden war, und zwar von den Herren Cohn und Genossen. Die Liberalen stimmten dafuer, er ging durch, so glatt, als sei er der erste beste. Diederich, der den nationalen Verrat der Cohn und Genossen laut geisseln wollte, konnte nur bellen: der tueckische Streich hatte ihn abermals der Stimme beraubt. Kaum heimgekehrt, liess er sich Napoleon Fischer kommen. "Sie sind entlassen!" bellte Diederich. Der Maschinenmeister grinste verdaechtig. "Schoen", sagte er und wollte abziehen. "Halt!" bellte Diederich. "Wenn Sie meinen, Sie kommen so leicht los. Gehen Sie mit dem Freisinn zusammen, dann verlassen Sie sich darauf, dass ich unseren Vertrag bekanntmache! Sie sollen was erleben!" "Politik ist Politik", bemerkte Napoleon Fischer achselzuckend. Und da Diederich vor so viel Zynismus nicht einmal mehr bellen konnte, trat Napoleon Fischer vertraulich naeher, fast haette er Diederich auf die Schulter geklopft. "Herr Doktor," sagte er wohlwollend, "tun Sie doch nur nicht so. Wir beide: - na ja, ich sage bloss, wir beide ..." Und sein Grinsen war so voll Mahnungen, dass Diederich erschauerte. Schnell bot er Napoleon Fischer eine Zigarre an. Fischer rauchte und sagte: "Wenn einer von uns beiden erst anfaengt zu reden, wo hoert dann der andere auf! Hab' ich recht, Herr Doktor? Aber wir sind doch keine alten Seichtbeutel, die immer gleich mit allem herausmuessen, wie zum Beispiel der Herr Buck." "Wieso?" fragte Diederich tonlos und fiel von einer Angst in die andere. Der Maschinenmeister tat erstaunt. "Das wissen Sie nicht? Der Herr Buck erzaehlt doch ueberall, dass Sie den nationalen Rummel nicht so schlimm meinen. Sie moechten bloss Gausenfeld billig haben, und denken, Sie kriegen es billiger, wenn Kluesing Angst wegen gewisser Auftraege hat, weil er nicht national ist." "Das sagt er?" fragte Diederich, zu Stein geworden. "Das sagt er", wiederholte Fischer. "Und er sagt auch, er tut Ihnen den Gefallen und spricht fuer Sie mit Kluesing. Dann werden Sie sich wohl wieder beruhigen, sagt er." Da wich der Bann von Diederich. "Fischer!" versetzte er mit kurzem Gebell. "Merken Sie sich, was jetzt kommt. Den alten Buck werden Sie noch im Rinnstein stehen und betteln sehen. Jawohl! Dafuer werd' ich sorgen, Fischer. Adieu." Napoleon Fischer war hinaus, aber Diederich bellte noch lange, im Zimmer umherstampfend, vor sich hin. Der Schuft, der falsche Biedermann! Hinter allen Widerstaenden stak der alte Buck, Diederich hatte es immer geahnt. Der Antrag Cohn und Genossen war sein Werk gewesen - und jetzt die infame Verleumdung mit Gausenfeld. Diederichs ganzes Innere baeumte sich auf, in der Unbestechlichkeit seiner kaisertreuen Gesinnung. "Und woher weiss er es?" dachte er mit zornigem Entsetzen. "Hat Wulckow mich verkauft? Sie glauben wohl alle schon, ich treibe doppeltes Spiel?" Denn Kunze und die anderen waren ihm heute merklich abgekuehlt erschienen; sie hielten es scheinbar nicht mehr fuer noetig, ihn einzuweihen in das, was vorging? Diederich gehoerte nicht dem Komitee an, er hatte der Sache das Opfer seines persoenlichen Ehrgeizes gebracht. War er darum vielleicht nicht der eigentliche Gruender der Partei des Kaisers?... Verrat ueberall, Intrigen, feindseliger Verdacht - und nirgends schlichte deutsche Treue. Da er nur bellen konnte, musste er in der naechsten Wahlversammlung hilflos zusehen, wie Zillich - es war klar, aus welchem persoenlichen Interesse - Jadassohn reden liess, und wie Jadassohn stuermischen Beifall erntete, als er gegen die Elenden und die vaterlandslosen Gesellen loszog, die Napoleon Fischer waehlen wuerden. Diederich bemitleidete dieses wenig staatsmaennische Vorgehen, er wusste sich Jadassohn hoch ueberlegen. Andererseits war es nicht zu verkennen, dass Jadassohn, je weiter er sich durch seinen Erfolg hinreissen liess, desto lautere Zustimmung bei gewissen Zuhoerern fand, die keineswegs national anmuteten, sondern sichtlich zu Cohn und Heuteufel gehoerten. Sie waren in verdaechtiger Menge erschienen - und Diederich, ueberreizt durch die Fallen ringsum, sah am Ursprung auch dieses Manoevers wieder den Erzfeind stehen, ihn, der ueberall das Boese lenkte, den alten Buck. Der alte Buck hatte blaue Augen, ein menschenfreundliches Laecheln, und er war der falscheste Hund von allen, die die Gutgesinnten umdrohten. Der Gedanke an den alten Buck hielt Diederich noch im Traum besessen. Am folgenden Abend unter der Familienlampe gab er den Seinen keine Antworten; er fuehrte eingebildete Streiche gegen den alten Buck. Besonders erbitterte es ihn, dass er den Alten fuer einen schon zahnlosen Schwaetzer gehalten hatte, und jetzt zeigte er die Zaehne. Nach all seinen humanitaeren Redensarten wirkte es auf Diederich wie eine Herausforderung, dass er sich nun doch nicht einfach fressen liess. Die heuchlerische Milde, mit der er getan hatte, als verzeihe er Diederich den Ruin seines Schwiegersohnes! Wozu hatte er ihn protegiert und in die Stadtverordnetenversammlung gebracht? Nur damit Diederich sich Bloessen gebe und leichter zu fassen sei. Die Frage des Alten damals, ob Diederich der Stadt sein Grundstueck verkaufen wolle, stellte sich jetzt als die gefaehrlichste Falle heraus. Diederich fuehlte sich durchschaut von jeher; ihm war jetzt, als sei bei seiner geheimen Unterredung mit dem Praesidenten von Wulckow der alte Buck, unsichtbar im Tabaksqualm, dabei gewesen; und als Diederich, in einer dunklen Winternacht an Gausenfeld hinangeschlichen, sich in den Graben geduckt und die Augen, die vielleicht funkelten, geschlossen hatte, da war droben der alte Buck vorbeigegangen und hatte zu ihm hinabgespaeht ... Im Geiste sah Diederich den Alten sich ueber ihn beugen und die weisse, weiche Hand hinhalten, um ihm aus dem Graben zu helfen. Die Guete in seinen Zuegen war krasser Hohn, sie war das Unertraeglichste. Er dachte Diederich kirre zu machen und mit seinen Schlichen leise zurueckzuleiten wie einen verlorenen Sohn. Aber man sollte sehen, wer schliesslich die Treber frass! "Was hast du, mein lieber Sohn?" fragte Frau Hessling, denn Diederich hatte vor Hass und Angst schwer aufgestoehnt. Er erschrak; in diesem Augenblick betrat Emmi das Zimmer, sie hatte es, so meinte Diederich, schon mehrmals betreten - ging zum Fenster, streckte den Kopf hinaus, seufzte, als sei sie allein, und begab sich auf den Rueckweg. Guste sah ihr nach; wie Emmi an Diederich vorbeikam, umfasste Gustes spoettischer Blick sie beide, und Diederich erschrak noch tiefer: denn dies war das Laecheln des Umsturzes, das er an Napoleon Fischer kannte. So laechelte Guste. Vor Schrecken runzelte er die Stirn und rief barsch: "Was gibt es!" Schleunigst verkroch sich Guste in ihre Flickerei, Emmi aber blieb stehen und sah ihn mit den entgeisterten Augen an, die sie jetzt manchmal hatte. "Was ist mit dir?" fragte er, und da sie stumm blieb: "Wen suchst du auf der Strasse?" Sie hob nur die Schultern, in ihrer Miene geschah gar nichts. "Nun?" wiederholte er leiser; denn ihr Blick, ihre Haltung, die merkwuerdig unbeteiligt und dadurch ueberlegen schienen, erschwerten es ihm, laut zu sein. Sie liess sich endlich herbei zu sprechen. "Es haette sein koennen, dass die beiden Fraeulein von Brietzen noch gekommen waeren." "Am spaeten Abend?" fragte Diederich. Da sagte Guste: "Weil wir an die Ehre doch gewoehnt sind. Und ueberhaupt, sie sind schon gestern mit ihrer Mama abgereist. Wenn sie einem nicht adieu sagen, weil sie einen gar nicht kennen, braucht man bloss an der Villa vorbeizugehen." "Wie?" machte Emmi. "Na gewiss doch!" Und das Gesicht ueberglaenzt, triumphierend liess Guste das Ganze los. "Der Leutnant reist auch bald hinterher. Er ist doch versetzt." Eine Pause, ein Blick. "Er hat sich versetzen lassen." "Du luegst", sagte Emmi. Sie hatte gewankt, man sah, wie sie sich steif machte. Den Kopf sehr hoch, wandte sie sich ab und liess hinter sich den Vorhang fallen. Im Zimmer war Stille. Die alte Frau Hessling auf ihrem Sofa faltete die Haende, Guste sah herausfordernd Diederich nach, der schnaufend umherlief. Als er wieder bei der Tuer war, gab er sich einen Ruck. Durch den Spalt erblickte er Emmi, die im Esszimmer auf einem Stuhl sass oder hing, zusammengekruemmt, als habe man sie gebunden und dort hingeworfen. Sie zuckte, dann kehrte sie das Gesicht der Lampe zu; vorhin war es ganz weiss gewesen und war jetzt stark geroetet, der Blick sah nichts - und ploetzlich sprang sie auf, fuhr los wie gebrannt, und mit zornigen, unsicheren Schritten stuermte sie fort, sich anschlagend, ohne Schmerz zu fuehlen, fort, wie in Nebel hinein, wie in Qualm ... Diederich drehte sich in steigender Angst nach Frau und Mutter um. Da Guste zur Respektlosigkeit geneigt schien, raffte er den gewohnten Komment zusammen und stampfte stramm hinter Emmi her. Noch hatte er nicht die Treppe erreicht, und droben ward schon heftig die Tuer versperrt, mit Schluessel und Riegel. Da begann Diederichs Herz so stark zu klopfen, dass er anhalten musste. Als er hinaufgelangt war, blieb ihm nur noch eine schwache, atemlose Stimme, um Einlass zu verlangen. Keine Antwort, aber er hoerte etwas klirren auf dem Waschtisch, - und ploetzlich schwenkte er die Arme, schrie, schlug gegen die Tuer und schrie unfoermlich. Vor seinem eigenen Laerm hoerte er nicht, wie sie oeffnete, und schrie noch, als sie schon vor ihm stand. "Was willst du?" fragte sie zornig, worauf Diederich sich sammelte. Von der Treppe spaehten mit fragendem Entsetzen Frau Hessling und Guste hinauf. "Unten bleiben!" befahl er, und er draengte Emmi in das Zimmer zurueck. Er schloss die Tuer. "Das brauchen die anderen nicht zu riechen", sagte er knapp, und er nahm aus der Waschschuessel einen kleinen Schwamm, der von Chloroform troff. Er hielt ihn mit gestrecktem Arm von sich fort und heischte: "Woher hast du das?" Sie warf den Kopf zurueck und sah ihn an, sagte aber nichts. Je laenger dies dauerte, um so weniger wichtig fuehlte Diederich die Frage werden, die doch von Rechts wegen die erste war. Schliesslich ging er einfach zum Fenster und warf den Schwamm in den dunklen Hof. Es platschte, er war in den Bach gefallen. Diederich seufzte erleichtert. Jetzt hatte Emmi eine Frage. "Was fuehrst du hier eigentlich auf? Lass mich gefaelligst machen, was ich will!" Dies kam ihm unerwartet. "Ja, was - was willst du denn?" Sie sah weg, sie sagte achselzuckend: "Dir kann es gleich sein." "Na, hoere mal!" Diederich empoerte sich. "Wenn du vor deinem himmlischen Richter dich nicht mehr genierst, was ich persoenlich durchaus missbillige: ein bisschen Ruecksicht koenntest du wohl auch auf uns hier nehmen. Man ist nicht allein auf der Welt." Ihre Gleichgueltigkeit verletzte ihn ernstlich. "Einen Skandal in meinem Hause verbitte ich mir! Ich bin der erste, den es trifft." Ploetzlich sah sie ihn an. "Und ich?" Er schnappte. "Meine Ehre -!" Aber er hoerte gleich wieder auf; ihre Miene, die er nie so ausdrucksvoll gekannt hatte, klagte und hoehnte zugleich. In seiner Verwirrung ging er zur Tuer. Hier fiel ihm ein, was das Gegebene sei. "Im uebrigen werde ich meinerseits als Bruder und Ehrenmann natuerlich voll und ganz meine Pflicht tun. Ich darf erwarten, dass du dir inzwischen die aeusserste Zurueckhaltung auferlegst." Mit einem Blick nach der Waschschuessel, aus der noch immer der Geruch kam. "Dein Ehrenwort!" "Lass mich in Ruhe", sagte Emmi. Da kehrte Diederich zurueck. "Du scheinst dir des Ernstes der Lage denn doch nicht bewusst zu sein. Du hast, wenn das, was ich fuerchten muss, wahr ist -" "Es ist wahr", sagte Emmi. "Dann hast du nicht nur deine eigene Existenz, zum mindesten deine gesellschaftliche, in Frage gestellt, sondern eine ganze Familie mit Schande bedeckt. Und wenn ich nun im Namen von Pflicht und Ehre vor dich hintrete -" "Dann ist es auch noch so", sagte Emmi. Er erschrak; er setzte an, um seinen Abscheu zu bekunden vor so viel Zynismus, aber in Emmis Gesicht stand zu deutlich, was alles sie durchschaut und abgetan hinter sich liess. Vor der Ueberlegenheit ihrer Verzweiflung kam Diederich ein Schaudern an. In ihm zersprang es wie kuenstliche Federn. Die Beine wurden ihm weich, er setzte sich und brachte hervor: "So sag' mir doch nur -. Ich will dir auch -." Er sah an Emmis Erscheinung hin, das Wort Verzeihen blieb ihm stecken. "Ich will dir helfen", sagte er. Sie sagte muede: "Wie willst du das wohl machen?" und sie lehnte sich drueben an die Wand. Er sah vor sich nieder. "Du musst mir freilich einige Aufklaerungen geben: ich meine, ueber gewisse Einzelheiten. Ich vermute, dass es schon seit deinen Reitstunden dauert?..." Sie liess ihn weiter vermuten, sie bestaetigte nicht, noch widersprach sie - wie er aber zu ihr aufsah, hatte sie weich geoeffnete Lippen, und ihr Blick hing an ihm mit Staunen. Er begriff, dass sie staunte, weil er vieles, das sie allein getragen hatte, ihr abnahm, indem er es aussprach. Ein unbekannter Stolz erfasste sein Herz, er stand auf und sagte vertraulich: "Verlass dich auf mich. Gleich morgen frueh gehe ich hin." Sie bewegte leise und angstvoll den Kopf. "Du kennst das nicht. Es ist aus." Da machte er seine Stimme wohlgemut. "Ganz wehrlos sind wir auch nicht! Ich moechte doch sehen!" Zum Abschied gab er ihr die Hand. Sie rief ihn nochmals zurueck. "Du wirst ihn fordern?" Sie riss die Augen auf und hielt die Hand vor den Mund. "Wieso?" machte Diederich, denn hieran hatte er nicht mehr gedacht. "Schwoere mir, dass du ihn nicht forderst!" Er versprach es. Zugleich erroetete er, denn er haette gern noch gewusst, fuer wen sie fuerchtete, fuer ihn oder fuer den anderen. Dem anderen wuerde er es nicht gegoennt haben. Aber er unterdrueckte die Frage, weil die Antwort ihr peinlich sein konnte; und er verliess das Zimmer beinahe auf den Fussspitzen. Die beiden Frauen, die noch immer drunten warteten, schickte er streng zu Bett. Er selbst legte sich erst dann neben Guste, als sie schon schlief. Er hatte zu bedenken, wie er morgen auftreten wuerde. Natuerlich imponieren! Zweifel am Ausgang der Sache ueberhaupt nicht zulassen! Aber anstatt seiner eigenen, schneidigen Gestalt erschien vor Diederichs Geist immer wieder ein gedrungener Mann mit blanken bekuemmerten Augen, der bat, aufbrauste und ganz zusammenbrach: Herr Goeppel, Agnes Goeppels Vater. Jetzt verstand Diederich in banger Seele, wie damals dem Vater zumute gewesen war. "Du kennst das nicht", meinte Emmi. Er kannte es - weil er es zugefuegt hatte. "Gott bewahre!" sagte er laut und waelzte sich herum. "Ich lasse mich auf die Sache nicht ein. Emmi hat doch nur geblufft mit dem Chloroform. Die Weiber sind raffiniert genug dafuer. Ich werf' sie hinaus, wie es sich gehoert!" Da stand vor ihm auf regnerischer Strasse Agnes und starrte, das Gesicht weiss von Gaslicht, zu seinem Fenster hinauf. Er deckte das Bettuch ueber seine Augen. "Ich kann sie nicht auf die Strasse jagen!" Es ward Morgen, und er sah verwundert, was mit ihm geschehen war. "Ein Leutnant steht frueh auf", dachte er und entwischte, bevor Guste wach wurde. Hinter dem Sachsentor die Gaerten zwitscherten und dufteten zum Fruehlingshimmel. Die Villen, noch verschlossen, sahen frisch gewaschen aus und als seien lauter Neuvermaehlte hineingezogen. "Wer weiss," dachte Diederich und atmete die gute Luft ein, "vielleicht ist es gar nicht schwer. Es gibt anstaendige Menschen. Auch liegen die Dinge doch wesentlich guenstiger als -" Er liess den Gedanken lieber fallen. Dort hinten hielt ein Wagen - vor welchem Haus denn? Also doch. Das Gitter stand offen, auch die Tuer. Der Bursche kam ihm entgegen. "Lassen Sie nur," sagte Diederich, "ich sehe den Herrn Leutnant schon." Denn im Zimmer geradeaus packte Herr von Brietzen einen Koffer. "So frueh?" fragte er, liess den Deckel des Koffers fallen und klemmte sich den Finger ein. "Verdammt." Diederich dachte entmutigt: "Er ist auch beim Packen." "Welchem Zufall verdanke ich denn -" begann Herr von Brietzen, aber Diederich machte, ohne es zu wollen, eine Bewegung, des Sinnes, dass dies unnuetz sei. Trotzdem natuerlich leugnete Herr von Brietzen. Er leugnete sogar laenger als damals Diederich, und Diederich erkannte dies innerlich an, denn wenn es auf die Ehre eines Maedchens ankam, hatte ein Leutnant immerhin noch um einige Grade genauer zu sein als ein Neuteutone. Als man endlich ueber die Lage der Dinge im reinen war, stellte Herr von Brietzen sich dem Bruder sofort zur Verfuegung, was von ihm gewiss nicht anders zu erwarten war. Aber Diederich, trotz seinem tiefen Bangen, erwiderte mit heiterer Stirn, er hoffe, eine Austragung mit den Waffen eruebrige sich, wenn naemlich Herr von Brietzen -. Und Herr von Brietzen machte eben das Gesicht, das Diederich vorhergesehen hatte, und brauchte eben die Ausreden, die in Diederichs Geist schon erklungen waren. In die Enge getrieben, sagte er den Satz, den Diederich vor allem fuerchtete und der, er sah es ein, nicht zu vermeiden war. Ein Maedchen, das ihre Ehre nicht mehr hatte, machte man nicht zur Mutter seiner Kinder! Diederich antwortete darauf, was Herr Goeppel geantwortet hatte, niedergeschlagen wie Herr Goeppel. Den rechten Zorn fand er erst, als er an seine grosse Drohung gelangte, die Drohung, von der er sich schon seit gestern den Erfolg versprach. "Angesichts Ihrer unritterlichen Weigerung, Herr Leutnant, sehe ich mich leider veranlasst, Ihren Oberst von der Sache in Kenntnis zu setzen." Wirklich schien Herr von Brietzen peinlich getroffen. Er fragte unsicher: "Was wollen Sie damit erreichen? Dass ich eine Moralpredigt kriege? Na schoen. Im uebrigen aber -" Herr von Brietzen festigte sich wieder, "was Ritterlichkeit ist, darueber denkt der Oberst denn doch wohl etwas anders als ein Herr, der sich nicht schlaegt." Da aber stieg Diederich. Herr von Brietzen moege gefaelligst seine Zunge hueten, sonst koenne es ihm passieren, dass er es mit der Neuteutonia zu tun bekomme! Ihm, Diederich, sei der freudige Blutverlust fuer die Ehre der Farben durch seine Schmisse bescheinigt! Er wolle dem Herrn Leutnant wuenschen, dass er einmal in den Fall komme, einen Grafen von Tauern-Baerenheim zu fordern! "Ich hab' ihn glatt gefordert!" Und im selben Atem behauptete er, dass er so einem frechen Junker noch lange nicht das Recht einraeume, einen buergerlichen Mann und Familienvater nur so abzuschiessen. "Die Schwester verfuehren und den Bruder abschiessen, das moechten Sie wohl!" rief er, ausser sich. Herr von Brietzen, in einem aehnlichen Zustand wie Diederich, sprach davon, dem Koofmich von seinem Burschen die Fresse einschlagen zu lassen; und da der Bursche schon bereitstand, raeumte Diederich das Feld, aber nicht ohne einen letzten Schuss. "Wenn Sie meinen, fuer Ihre Frechheiten bewilligen wir Ihnen auch noch die Militaervorlage! Sie sollen sehen, was Umsturz ist!" Draussen in der einsamen Allee wuetete er weiter, zeigte dem unsichtbaren Feinde die Faust und stiess Drohungen aus. "Das kann euch schlecht bekommen! Wenn wir mal Schluss machen!" Ploetzlich bemerkte er, dass die Gaerten noch immer zum Fruehlingshimmel zwitscherten und dufteten, und es ward ihm klar, selbst die Natur, mochte sie schmeicheln oder die Zaehne zeigen, war ohne Einfluss auf die Macht, die Macht ueber uns, die ganz unerschuetterlich ist. Mit dem Umsturz war leicht drohen; aber das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Wulckow und Gausenfeld? Wer treten wollte, musste sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht. Diederich, nach seinem Anfall von Auflehnung, fuehlte schon wieder den heimlichen Schauer dessen, den sie tritt ... Ein Wagen kam von dort hinten: Herr von Brietzen mit seinem Koffer. Diederich, ehe er es bedachte, machte halb Front, bereit zu gruessen. Aber Herr von Brietzen sah weg. Diederich freute sich, trotz allem, des frischen und ritterlichen jungen Offiziers. "Den macht uns niemand nach", stellte er fest. Freilich, nun er die Meisestrasse betrat, ward ihm beklommen. Von weitem sah er Emmi nach ihm ausspaehen. Ihm fiel auf einmal ein, was sie in der vergangenen Stunde, die ihr Schicksal entschied, durchgemacht haben musste. Arme Emmi, nun war es entschieden. Die Macht war wohl erhebend, aber wenn es die eigene Schwester traf -. "Ich habe nicht gewusst, dass es mir so nahegehen wuerde." Er nickte hinauf, so ermunternd wie moeglich. Sie war viel schmaler geworden, warum sah das niemand? Unter ihrem blass flimmernden Haar hatte sie grosse schlaflose Augen, ihre Lippe zitterte, als er ihr zuwinkte; auch das fing er auf in seiner scharfsichtigen Angst. Die Treppe hinauf schlich er fast. Im ersten Stock kam sie aus dem Zimmer und ging vor ihm her in den zweiten. Oben drehte sie sich um - und als sie sein Gesicht gesehen hatte, ging sie hinein ohne eine Frage, ging bis zum Fenster und blieb abgewendet stehen. Er raffte sich zusammen, er sagte laut: "Oh! noch ist nichts verloren." Darauf erschrak er und schloss die Augen. Da er aufstoehnte, wandte sie sich um, kam langsam herbei und legte, um mitzuweinen, den Kopf an seine Schulter. Nachher hatte er einen Auftritt mit Guste, die hetzen wollte. Diederich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie Emmis Unglueck nur missbrauche, um sich zu raechen fuer die ihr nicht gerade guenstigen Umstaende, unter denen sie selbst geheiratet worden war. "Emmi laeuft wenigstens keinem nach." Guste kreischte auf. "Bin ich dir vielleicht nachgelaufen?" Er schnitt ab. "Ueberhaupt ist sie meine Schwester!" ... Und da sie nun unter seinem Schutz lebte, fing er an, sie interessant zu finden und ihr eine ungewoehnliche Achtung zu erweisen. Nach dem Essen kuesste er ihr die Hand, mochte Guste grinsen. Er verglich die beiden; wieviel gemeiner war Guste! Magda selbst, die er bevorzugt hatte, weil sie Erfolg gehabt hatte, kam in seiner Erinnerung nicht mehr auf gegen die verlassene Emmi. Denn Emmi war durch ihr Unglueck feiner und gewissermassen ungreifbarer geworden. Wenn ihre Hand so bleich und abwesend dalag und Emmi stumm in sich versenkt war wie in einen unbekannten Abgrund, fuehlte Diederich sich beruehrt von der Ahnung einer tieferen Welt. Die Eigenschaft als Gefallene, unheimlich und veraechtlich bei jeder anderen, um Emmi, Diederichs Schwester, legte sie eine Luft von seltsamem Schimmer und fragwuerdiger Anziehung. Glaenzender zugleich und ruehrender war nun Emmi. Der Leutnant, der das alles veranlasst hatte, verlor erheblich gegen sie - und mit ihm die Macht, in deren Namen er triumphiert hatte. Diederich erfuhr, dass sie manchmal einen gemeinen und niedrigen Anblick bieten koenne: die Macht und alles, was in ihren Spuren ging, Erfolg, Ehre, Gesinnung. Er sah Emmi an und musste zweifeln an dem Wert dessen, was er erreicht hatte oder noch erstrebte: Gustes und ihres Geldes, des Denkmals, der hohen Gunst, Gausenfelds, der Auszeichnungen und Aemter. Er sah Emmi an und dachte auch an Agnes. Agnes, die Weichheit und Liebe in ihm gepflegt hatte, sie war in seinem Leben das Wahre gewesen, er haette es festhalten sollen! Wo war sie jetzt? Tot? Er sass manchmal da, den Kopf in den Haenden. Was hatte er nun? Was hatte man vom Dienst der Macht? Wieder einmal versagte alles, alle verrieten ihn, missbrauchten seine reinsten Absichten, und der alte Buck beherrschte die Lage. Agnes, die nichts vermochte als leiden, es beschlich ihn, als ob sie gesiegt habe. Er schrieb nach Berlin und erkundigte sich nach ihr. Sie war verheiratet und leidlich gesund. Das erleichterte ihn, aber irgendwie enttaeuschte es ihn auch. Aber waehrend er, den Kopf in den Haenden, dasass, kam der Wahltag herbei. Erfuellt von der Eitelkeit der Dinge, hatte Diederich von allem, was vorging, nichts mehr sehen wollen, auch nicht, dass die Miene seines Maschinenmeisters immer feindlicher ward. Am Sonntag der Wahl, fruehmorgens, als Diederich noch im Bett lag, trat Napoleon Fischer bei ihm ein. Ohne sich im geringsten zu entschuldigen, begann er: "Ein ernstes Wort in letzter Stunde, Herr Doktor!" Diesmal war er es, der Verrat witterte und sich auf den Pakt berief. "Ihre Politik, Herr Doktor, hat ein doppeltes Gesicht. Uns haben Sie Versprechungen gemacht, und loyal, wie wir sind, haben wir gegen Sie nicht agitiert, sondern bloss gegen den Freisinn." "Wir auch", behauptete Diederich. "Das glauben Sie selbst nicht. Sie haben sich bei Heuteufel angebiedert. Er hat Ihnen Ihr Denkmal schon bewilligt. Wenn Sie nicht gleich heute mit fliegenden Fahnen zu ihm uebergehen, dann tun Sie es sicher bei der Stichwahl und treiben schnoeden Volksverrat." Napoleon Fischer tat, die Arme verschraenkt, noch einen langen Schritt auf das Bett zu. "Sie sollen bloss wissen, Herr Doktor, dass wir die Augen offen halten." Diederich sah sich in seinem Bett hilflos dem politischen Gegner ausgeliefert. Er suchte ihn zu besaenftigen. "Ich weiss, Fischer, Sie sind ein grosser Politiker. Sie sollten in den Reichstag kommen." "Stimmt." Napoleon blinzte von unten. "Denn wenn ich nicht hineinkomme, dann geht in Netzig in mehreren Betrieben ein Streik los. Einen von den Betrieben kennen Sie ziemlich genau, Herr Doktor." Er machte kehrt. Von der Tuer her fasste er Diederich, der vor Schreck ganz in die Federn gerutscht war, nochmals ins Auge. "Und darum hoch die internationale Sozialdemokratie!" rief er und ging ab. Diederich rief aus seinen Federn: "Seine Majestaet, der Kaiser hurra!" Dann aber blieb nichts uebrig, als der Lage ins Gesicht zu sehen. Sie sah drohend genug aus. Schwer von Ahnungen eilte er auf die Strasse, in den Kriegerverein, zu Klappsch, und ueberall musste er erkennen, dass in den Tagen seiner Mutlosigkeit die tueckische Taktik des alten Buck weitere Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte. Die Partei des Kaisers war verwaessert durch Zulauf aus den Reihen des Freisinns und der Abstand Kunzes von Heuteufel unbetraechtlich gegen die Kluft zwischen ihm und Napoleon Fischer. Pastor Zillich, der mit seinem Schwager Heuteufel einen verschaemten Gruss austauschte, erklaerte, dass die Partei des Kaisers mit ihrem Erfolg zufrieden sein duerfe, denn sicher habe sie dem Kandidaten des Freisinns, wenn er schliesslich siege, das nationale Gewissen gestaerkt. Da Professor Kuehnchen sich aehnlich aeusserte, war der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass ihnen die von Diederich und Wulckow erpressten Versprechungen noch nicht genuegten, und dass sie sich durch weitere persoenliche Vorteile vom alten Buck hatten gewinnen lassen. Der Korruption des demokratischen Kluengels war alles zuzutrauen! Was Kunze betraf, so wollte er auf jeden Fall selbst gewaehlt werden, notfalls mit Hilfe der Freisinnigen. Ihn hatte sein Ehrgeiz korrumpiert, er hatte ihn schon dahin gebracht, zu versprechen, dass er fuer das Saeuglingsheim eintreten werde! Diederich entruestete sich; Heuteufel sei hundertmal schlimmer als irgendein Prolet; und er spielte auf die duesteren Folgen an, die eine so unpatriotische Haltung haben muesse. Leider durfte er nicht deutlicher werden - und vor sich das Bild des Streiks, im Herzen schon die Truemmer des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, Gausenfelds, aller seiner Traeume, lief er im Regen umher zwischen den Wahllokalen und schleppte gutgesinnte Waehler herbei, im vollen Bewusstsein, dass ihre Kaisertreue den Weg verfehlte und den schlimmsten Feinden des Kaisers helfe. Abends bei Klappsch, kotbespritzt bis an den Hals und fiebrig entrueckt durch den Laerm des langen Tages, durch das viele Bier und das Nahen der Entscheidung, vernahm er das Ergebnis: gegen achttausend Stimmen fuer Heuteufel, sechstausend und einige fuer Napoleon Fischer, Kunze aber hatte dreitausendsechshundertzweiundsiebzig. Stichwahl zwischen Heuteufel und Fischer. "Hurra!" schrie Diederich, denn nichts war verloren und Zeit war gewonnen. Mit starkem Schritt ging er von dannen, den Schwur im Herzen, dass er fortan das Aeusserste tun werde, um die nationale Sache noch zu retten. Es eilte, denn Pastor Zillich haette am liebsten sofort alle Mauern mit Zetteln bedeckt, die den Anhaengern der Partei des Kaisers empfahlen, in der Stichwahl fuer Heuteufel zu stimmen. Kunze freilich gab sich der eitlen Hoffnung hin, Heuteufel werde ihm zu Gefallen zuruecktreten. Welche Verblendung! Gleich am Morgen las man die weissen Zettel, auf denen der Freisinn heuchlerisch erklaerte, national sei auch er, die nationale Gesinnung sei nicht das Privileg einer Minderheit, und darum -. Der Trick des alten Buck enthuellte sich vollends; wenn nicht die ganze Partei des Kaisers in den Schoss des Freisinns zurueckkehren sollte, hiess es handeln. Maechtig von Energie gespannt, traf Diederich von seinen Erkundigungen heimkehrend, im Hausflur auf Emmi, die einen Schleier vor dem Gesicht hatte und sich bewegte, als sei alles gleich. "Danke," dachte er, "es ist durchaus nicht gleich. Wohin kaemen wir." Und er gruesste Emmi verstohlen und mit einer Art von Scheu. Er zog sich in sein Bureau zurueck, aus dem der alte Soetbier verschwunden war und wo nun Diederich, sein eigener Prokurist und nur seinem Gott verantwortlich, seine folgenschweren Entschluesse fasste. Er trat zum Telephon, er verlangte Gausenfeld. Da ging die Tuer auf, der Brieftraeger legte seinen Packen hin, und Diederich sah obenauf: Gausenfeld. Er haengte wieder ein, er betrachtete, nickend wie das Schicksal, den Brief. Schon gemacht. Der Alte hatte ohne Worte begriffen, dass er seinen Freunden Buck und Konsorten kein Geld mehr geben duerfe, und dass man noetigenfalls imstande sei, ihn persoenlich verantwortlich zu machen. Gelassen zerriss Diederich den Umschlag - aber nach zwei Zeilen las er fliegend. Was fuer eine Ueberraschung! Kluesing wollte verkaufen! Er war alt, er sah seinen natuerlichen Nachfolger in Diederich! Was hiess dies? Diederich setzte sich in die Ecke und dachte tief. Es hiess vor allem, dass Wulckow schon eingegriffen hatte. Der Alte war in blasser Angst wegen der Regierungsauftraege, und der Streik, mit dem Napoleon Fischer drohte, gab ihm den Rest. Wo war die Zeit, als er sich aus der Klemme zu ziehen glaubte, wenn er Diederich einen Teil des Papiers fuer die "Netziger Zeitung" anbot. Jetzt bot er ihm ganz Gausenfeld an! "Man ist eine Macht", stellte Diederich fest - und es ging ihm auf, dass Kluesings Zumutung, die Fabrik zu kaufen und richtig nach ihrem Wert zu bezahlen, wie die Dinge lagen, einfach laecherlich sei. Worauf er wirklich laut lachte ... Da nahm er wahr, dass am Schlusse des Briefes, nach der Unterschrift, noch etwas stand, ein Zusatz, kleiner geschrieben als das uebrige und so unscheinbar, dass Diederich ihn vorhin uebersehen hatte. Er entzifferte - und der Mund ging ihm von selbst auf. Ploetzlich tat er einen Sprung. "Na also!" rief er frohlockend durch sein einsames Bureau. "Da haben wir sie!" Hierauf bemerkte er tiefernst: "Es ist schauerlich. Ein Abgrund." Er las noch einmal, Wort fuer Wort, den verhaengnisvollen Zusatz, legte den Brief in den Geldschrank und schloss mit hartem Griff. Dort innen schlummerte nun das Gift fuer Buck und die Seinen - geliefert von ihrem Freund. Nicht nur, dass Kluesing sie nicht mehr mit Geld versah, er verriet sie auch. Aber sie hatten es verdient, das konnte man sagen; eine solche Verderbnis hatte wahrscheinlich selbst Kluesing angeekelt. Wer da noch Schonung uebte, machte sich mitschuldig. Diederich pruefte sich. "Schonung waere geradezu ein Verbrechen. Sehe jeder, wo er bleibe! Hier heisst es ruecksichtslos vorgehen. Dem Geschwuer die Maske herunterreissen und es mit eisernem Besen auskehren! Ich uebernehme es im Interesse des oeffentlichen Wohles, meine Pflicht als nationaler Mann schreibt es mir vor. Es ist nun mal eine harte Zeit!" Den Abend darauf war eine grosse oeffentliche Volksversammlung, einberufen vom freisinnigen Wahlkomitee in den Riesensaal der "Walhalla". Mit der regen Hilfe Gottlieb Hornungs hatte Diederich Vorsorge getroffen, dass die Waehler Heuteufels keineswegs unter sich blieben. Er selbst fand es unnuetz, die Programmrede des Kandidaten mit anzuhoeren; er ging hin, als schon die Diskussion begonnen haben musste. Gleich im Vorraum stiess er auf Kunze, der in uebler Verfassung war. "Ausrangierter Schlagetot!" rief er. "Sehen Sie mich an, Herr, und sagen Sie mir, ob so ein Mann aussieht, der sich das sagen laesst!" Da er vor Aufregung sich nicht weiter erklaeren konnte, loeste Kuehnchen ihn ab. "Zu mir haette Heuteufel das sagen sollen!" schrie er. "Da haette er nun aber Kuehnchen kennengelernt!" Diederich empfahl dem Major dringend, seinen Gegner zu verklagen. Aber Kunze brauchte keinen Ansporn mehr, er vermass sich, Heuteufel ganz einfach in die Pfanne zu hauen. Auch dies war Diederich recht, und er stimmte lebhaft zu, als Kunze erkennen liess, dass er unter diesen Umstaenden lieber mit dem aergsten Umsturz gehe als mit dem Freisinn. Hiergegen aeusserten Kuehnchen und auch Pastor Zillich, der hinzukam, ihre Bedenken. Die Reichsfeinde - und die Partei des Kaisers! "Bestochene Feiglinge!" sagte Diederichs Blick - indes der Major fortfuhr, Rache zu schnauben. Blutige Traenen sollte die Bande weinen! "Und zwar noch heute abend", verhiess darauf Diederich mit einer so eisernen Bestimmtheit, dass alle stutzten. Er machte eine Pause und blitzte jeden einzeln an. "Was wuerden Sie sagen, Herr Pastor, wenn ich Ihren Freunden vom Freisinn gewisse Machenschaften nachwiese ..." Pastor Zillich war erbleicht, Diederich ging zu Kuehnchen ueber. "Betruegerische Manipulationen mit oeffentlichen Geldern ..." Kuehnchen huepfte. "Nu leg' sich eener lang hin!" rief er schreckensvoll. Kunze aber bruellte auf. "An mein Herz!" und er riss Diederich in seine Arme. "Ich bin ein schlichter Soldat", versicherte er. "Die Schale mag rauh sein, aber der Kern ist echt. Beweisen Sie den Kanaillen ihre Schurkerei, und Major Kunze ist Ihr Freund, als ob Sie mit ihm im Feuer gestanden haetten bei Marslatuhr!" Der Major hatte Traenen in den Augen, Diederich auch. Und so hochgespannt wie ihre beiden Seelen war die Stimmung im Saal. Der Eintretende sah ueberall Arme in die Luft fahren, die aus blauem Dunst bestand, und hier und dort schrie eine Brust: "Pfui!" "Sehr richtig!" oder "Gemeinheit!" Der Wahlkampf war auf der Hoehe, Diederich stuerzte sich hinein, mit unerhoerter Erbitterung, denn vor dem Bureau, das der alte Buck in Person leitete, wer stand am Rand der Buehne und redete? Soetbier, Diederichs entlassener Prokurist! Aus Rache hielt Soetbier eine Hetzrede, worin er ueber die Arbeiterfreundlichkeit gewisser Herren auf das abfaelligste urteilte. Sie sei nichts als ein demagogischer Kniff, womit man, um gewisser persoenlicher Vorteile willen, das Buergertum spalten und dem Umsturz Waehler zutreiben wolle. Frueher habe der Betreffende im Gegenteil gesagt: Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben. "Pfui!" riefen die Organisierten. Diederich stiess um sich, bis er unter der Buehne stand. "Gemeine Verleumdung!" schrie er Soetbier ins Gesicht. "Schaemen Sie sich, seit Ihrer Entlassung sind Sie unter die Noergler gegangen!" Der von Kunze kommandierte Kriegerverein bruellte wie ein Mann: "Gemeinheit!" und "Hoert, hoert!" - indes die Organisierten pfiffen und Soetbier eine zitterige Faust machte gegen Diederich, der ihm drohte, er werde ihn einsperren lassen. Da erhob der alte Buck sich und klingelte. Als man wieder hoeren konnte, sagte er mit weicher Stimme, die anschwoll und erwaermte: "Mitbuerger! Wollt doch dem persoenlichen Ehrgeiz einzelner nicht Nahrung gewaehren, indem ihr ihn ernst nehmt! Was sind hier Personen? Was selbst Klassen? Es geht um das Volk, dazu gehoeren alle, nur die Herren nicht. Wir muessen zusammenhalten, wir Buerger duerfen nicht immer aufs neue den Fehler begehen, der schon in meiner Jugend begangen wurde, dass wir unser Heil den Bajonetten anvertrauen, sobald auch die Arbeiter ihr Recht wollen. Dass wir den Arbeitern niemals ihr Recht geben wollten, das hat den Herren die Macht verschafft, auch uns das unsere zu nehmen." "Sehr wahr!" "Das Volk, wir alle haben angesichts der uns abgeforderten Heeresvermehrung die vielleicht letzte Gelegenheit, unsere Freiheit zu behaupten gegen Herren, die uns nur noch ruesten, damit wir unfrei sind. Wer Knecht ist, soll Knecht bleiben, das wird nicht nur euch Arbeitern gesagt: das sagen die Herren, deren Macht wir immer teurer bezahlen sollen, uns allen!" "Sehr wahr! Bravo! Keinen Mann und keinen Groschen!" Inmitten bewegter Zustimmung setzte der alte Buck sich. Diederich, dem aeussersten Kampf nahe und im voraus schweisstriefend, sandte noch einen Blick durch den Saal und bemerkte Gottlieb Hornung, der die Lieferanten des Kaiser-Wilhelm-Denkmals befehligte. Pastor Zillich bewegte sich unter den christlichen Juenglingen, der Kriegerverein war um Kunze geschart: da zog Diederich blank. "Der Erbfeind erhebt wieder mal das Haupt!" schrie er mit Todesverachtung. "Ein Vaterlandsverraeter, wer unserem herrlichen Kaiser versagt, was er" - "Hu, hu!" riefen die Vaterlandsverraeter; aber Diederich, unter den Beifallssalven der Gutgesinnten, schrie weiter, wenn ihm auch die Stimme ueberschnappte. "Ein franzoesischer General hat Revanche verlangt!" Vom Bureau her fragte jemand: "Wieviel hat er aus Berlin dafuer bekommen?" Worauf man lachte - indes Diederich mit den Armen hinaufgriff, als wollte er in die Luft steigen. "Schimmernde Wehr! Blut und Eisen! Mannhafte Ideale! Starkes Kaisertum!" Seine Kraftworte stiessen rasselnd aneinander, umlaermt vom Getoese der Gutgesinnten. "Festes Regiment! Bollwerk gegen die Schlammflut der Demokratie!" "Ihr Bollwerk heisst Wulckow!" rief wieder die Stimme vom Bureau. Diederich fuhr herum, er erkannte Heuteufel. "Wollen Sie sagen, die Regierung Seiner Majestaet -?" "Auch ein Bollwerk!" sagte Heuteufel. Diederich reckte den Finger nach ihm. "Sie haben den Kaiser beleidigt!" rief er mit aeusserster Schneidigkeit. Aber hinter ihm kreischte jemand: "Spitzel!" Es war Napoleon Fischer, und seine Genossen wiederholten es aus rauhen Kehlen. Sie waren aufgesprungen, sie umringten Diederich in unglueckverheissender Weise. "Er provoziert schon wieder! Er will noch einen ins Loch bringen! 'raus!" Und Diederich ward angepackt. Angstverzerrt wand er den Hals, den schwielige Faeuste beengten, nach dem Vorsitzenden hin und flehte erstickt um Hilfe. Der alte Buck gewaehrte sie ihm, er klingelte anhaltend, und er schickte sogar einige junge Leute aus, damit sie Diederich von seinen Feinden erretteten. Kaum dass er sich ruehren konnte, schwang Diederich den Finger gegen den alten Buck. "Die demokratische Korruption!" schrie er, tanzend vor Leidenschaft. "Ich will sie ihm beweisen!" "Bravo! Reden lassen!" - und das Lager der nationalen Maenner setzte sich in Bewegung, ueberrannte die Tische und mass sich Aug' in Auge mit dem Umsturz. Ein Handgemenge schien bevorzustehen: schon fasste der Polizeileutnant dort oben seinen Helm an, um sich damit zu bedecken; es war ein kritischer Moment - da hoerte man von der Buehne herab befehlen: "Ruhe! Er soll sprechen!" Und es ward fast still, man hatte einen Zorn vernommen, groesser als irgendeiner hier. Der alte Buck, heraufgewachsen hinter seinem Tisch dort oben, war kein wuerdiger Greis mehr, er schien schlanker vor Kraft, vom Hass war er bleich, und einen Blick schnellte er gegen Diederich: der Atem stockte einem. "Er soll sprechen!" wiederholte der Alte. "Auch Verraeter haben das Wort, bevor sie abgeurteilt werden. So sehen die Verraeter an der Nation aus. Sie haben sich nur aeusserlich veraendert seit den Zeiten, da mein Geschlecht kaempfte, fiel, ins Gefaengnis und auf die Richtstaette ging." "Haha", machte hier Gottlieb Hornung, voll ueberlegenen Spottes. Zu seinem Unglueck sass er im Armbereich eines starken Arbeiters, der so furchtbar nach ihm ausholte, dass Hornung, noch bevor der Schlag ihn traf, umfiel mitsamt seinem Stuhl. "Schon damals", rief der Alte, "gab es solche, die statt der Ehre den Nutzen waehlten und denen keine Herrschaft demuetigend schien, wenn sie sie bereicherte. Der sklavische Materialismus, Frucht und Mittel jeder Tyrannei, er war es, dem wir unterlagen, und auch ihr, Mitbuerger -" Der Alte breitete die Arme aus, er spannte sich zu dem letzten Schrei seines Gewissens. "Mitbuerger, auch ihr lauft heute Gefahr, von ihm verraten und seine Beute zu werden! Dieser Mensch soll sprechen." "Nein!" "Er soll sprechen. Dann aber fragt ihn, wieviel eine Gesinnung, die national zu nennen er die Stirn hat, in barem Gelde betraegt. Fragt ihn, wem er sein Haus verkauft hat, zu welchem Zweck und mit welchem Nutzen!" "Wulckow!" Der Ruf kam von der Buehne, aber der Saal nahm ihn auf. Diederich, gebieterische Faeuste hinter sich, gelangte nicht ganz freiwillig die Stufen zur Buehne hinauf. Dort sah er ratsuchend umher: der alte Buck sass regungslos, die Hand geballt auf dem Knie und liess ihn nicht aus dem Auge; Heuteufel, Cohn, alle Herren des Bureaus erwarteten mit kalter Gier im Gesicht seinen Zusammenbruch; und "Wulckow!" rief der Saal ihm zu, "Wulckow!" Er stammelte etwas von Verleumdung, das Herz flog ihm, einen Augenblick schloss er die Augen, in der Hoffnung, er werde umfallen und der Sache ueberhoben sein. Aber er fiel nicht um - und als nichts anderes mehr moeglich war, kam ihm ein ungeheurer Mut. Er griff an seine Brusttasche, seiner Waffe sicher, und er mass kampfesfreudig den Feind, jenen tueckischen Alten, der nun endlich die Maske des vaeterlichen Goenners verloren hatte und seinen Hass bekannte. Diederich blitzte ihn an, er stiess vor ihm beide Faeuste gegen den Boden. Dann trat er kraftvoll vor den Saal her. "Wollen Sie was verdienen?" bruellte er wie ein Ausrufer in den Tumult - und es ward still, wie auf ein Zauberwort. "Jeder kann bei mir verdienen!" bruellte Diederich; mit unverminderter Gewalt. "Jedem, der mir nachweist, wieviel ich am Verkauf meines Hauses verdient habe, zahle ich ebensoviel!" Hierauf schien niemand gefasst. Die Lieferanten zuerst riefen "Bravo", dann entschlossen sich auch die Christen und die Krieger, aber ohne rechte Zuversicht, denn es ward wieder "Wulckow!" gerufen, noch dazu nach dem Takt von Bierglaesern, die man auf die Tische stiess. Diederich erkannte, dass dies ein vorbereiteter Streich war, der nicht nur ihm, sondern weit hoeheren Maechten galt. Er sah sich unruhig um, und wirklich zueckte der Polizeileutnant schon wieder den Helm. Diederich bedeutete ihm mit der Hand, dass er es schon machen werde, und er bruellte: "Nicht Wulckow, ganz andere Leute! Das freisinnige Saeuglingsheim! Dafuer haette ich mein Haus hergeben sollen, das ist mir nahegelegt worden, ich kann es beschwoeren. Ich als nationaler Mann habe mich energisch gewehrt gegen die Zumutung, die Stadt zu betruegen und den Raub zu teilen mit einem gewissenlosen Magistratsrat!" "Sie luegen!" rief der alte Buck und stand flammend da. Aber Diederich flammte noch hoeher, im Vollgefuehl seines Rechtes und seiner sittlichen Sendung. Er griff in die Brusttasche, und vor dem tausendkoepfigen Drachen dort unten, der ihn anspritzte: "Luegner! Schwindler!" schwenkte er furchtlos seinen Schein. "Beweis!" bruellte er und schwenkte so lange, bis sie hoerten. "Bei mir ist es nicht geglueckt, aber in Gausenfeld. Jawohl, Mitbuerger! In Gausenfeld ... Wieso? Gleich. Zwei Herren von der freisinnigen Partei sind beim Besitzer gewesen und haben das Vorkaufsrecht verlangt auf ein gewisses Terrain, fuer den Fall, dass das Saeuglingsheim dorthin kommt." "Namen! Namen!" Diederich schlug sich auf die Brust, auch zum letzten bereit. Kluesing hatte ihm alles verraten, nur nicht die Namen. Blitzend fasste er die Herren des Vorstandes ins Auge; einer schien zu erbleichen. "Wer wagt, gewinnt", dachte Diederich, und er bruellte: "Der eine ist Herr Warenhausbesitzer Cohn!" Und er trat ab, mit der Miene erfuellter Pflicht. Drunten nahm Kunze ihn entgegen und kuesste ihn selbstvergessen rechts und links ins Gesicht, wozu die Nationalgesinnten klatschten. Die anderen schrien: "Beweis!" oder "Schwindel!" Aber "Cohn soll reden!", das wollten alle, Cohn konnte sich den Anforderungen unmoeglich entziehen. Der alte Buck sah ihn an, starr, mit einem sichtbaren Zittern der Wangen; und dann erteilte er ihm von selbst das Wort. Cohn, von Heuteufel mit einem Stoss versehen, kam ohne rechte Ueberzeugung hinter dem langen Tisch des Komitees hervor, schleppte die Fuesse nach und hatte unguenstig gewirkt, noch bevor er anfing. Er laechelte entschuldigend. "Meine Herren, das werden Sie dem Herrn Vorredner doch nicht glauben," sagte er so sanft, dass fast niemand es verstand. Dennoch meinte Cohn schon zu weit gegangen zu sein. "Ich will den Herrn Vorredner nicht geradezu dementieren, aber so war es denn doch nicht." "Aha! Er gibt es zu!" - und jaeh brach ein Aufruhr los, dass Cohn, auf nichts vorbereitet, einen Sprung rueckwaerts tat. Der Saal war nur noch ein Fuchteln und Schaeumen. Schon fielen da und dort Gegner uebereinander her. "Hurra!" kreischte Kuehnchen und sauste durch die Reihen mit flatterndem Haar, die Faeuste geschwungen, anfeuernd zur Metzelei ... Auch auf der Buehne war alles auf den Beinen, ausser dem Polizeileutnant. Der alte Buck hatte den Platz des Vorsitzenden verlassen, und abgekehrt von dem Volk, ueber das der letzte Schrei seines Gewissens vergebens hingegangen war, abseits und allein, richtete er die Augen dorthin, wo niemand sah, dass sie weinten. Heuteufel sprach entruestet auf den Polizeileutnant ein, der sich von seinem Stuhl nicht ruehrte, ward aber darueber belehrt, dass der Beamte allein entscheide, ob und wann er aufloese. Es brauchte nicht gerade in dem Augenblick zu geschehen, wo es fuer den Freisinn schlecht stand! Worauf Heuteufel zum Tisch ging und die Glocke fuehrte. Dazu schrie er: "Der zweite Name!" Und da alle Herren auf der Buehne mitschrien, hoerte man es endlich und Heuteufel konnte fortfahren. "Der zweite, der in Gausenfeld war, ist Herr Landgerichtsrat Kuehlemann! Stimmt. Kuehlemann selbst. Derselbe Kuehlemann, aus dessen Nachlass das Saeuglingsheim gebaut werden soll. Will jemand behaupten, Kuehlemann bestiehlt seinen eigenen Nachlass? Na also!" - und Heuteufel zuckte die Achseln, woraus beifaellig gelacht ward. Nicht lange; die Leidenschaften pfauchten schon wieder. "Beweise! Kuehlemann soll selbst reden! Diebe!" Herr Kuehlemann sei schwerkrank, erklaerte Heuteufel. Man werde hinschicken, man telephoniere schon. "Auweh", raunte Kunze seinem Freunde Diederich zu. "Wenn Kuehlemann es war, sind wir fertig und koennen einpacken." "Noch lange nicht!" verhiess Diederich, tollkuehn. Pastor Zillich seinerseits setzte seine Hoffnung nur mehr auf den Finger Gottes. Diederich in seiner Tollkuehnheit sagte: "Brauchen wir gar nicht!" - und er machte sich ueber einen Zweifler her, dem er zuredete. Die Gutgesinnten reizte er zu entschiedener Stellungnahme, ja, er drueckte Sozialdemokraten die Hand, um ihren Hass gegen die buergerliche Korruption zu verstaerken - und ueberall hielt er den Leuten Kluesings Brief vor die Augen. Er schlug so heftig mit dem Handruecken auf das Papier, dass niemand lesen konnte, und rief: "Steht da Kuehlemann? Da steht Buck! Wenn Kuehlemann noch japsen kann, wird er zugeben muessen, dass er es nicht war. Buck war es!" Dabei ueberwachte er dennoch die Buehne, wo es merkwuerdig still geworden war. Die Herren des Komitees liefen durcheinander, aber sie fluesterten nur. Den alten Buck sah man nicht mehr. "Was ist los?" Auch im Saal ward es ruhiger, noch wusste man nicht, warum. Ploetzlich hiess es: "Kuehlemann soll tot sein." Diederich fuehlte es mehr, als dass er es hoerte. Er gab es ploetzlich auf, zu reden und sich abzuarbeiten. Vor Spannung schnitt er Gesichter. Wenn jemand ihn fragte, antwortete er nicht, er vernahm ringsum ein wesenloses Gewirr von Lauten und wusste nicht mehr deutlich, wo er war. Dann kam aber Gottlieb Hornung und sagte: "Er ist weiss Gott tot. Ich war oben, sie haben telephoniert. Im Moment ist er gestorben." "Im richtigen Moment", sagte Diederich und sah sich um, erstaunt, als erwachte er. "Der Finger Gottes hat sich wieder mal bewaehrt", stellte Pastor Zillich fest, und Diederich ward sich bewusst, dass dieser Finger doch nicht zu verachten war. Wie, wenn er dem Schicksal einen anderen Lauf angewiesen haette?... Die Parteien im Saale loesten sich auf; das Eingreifen des Todes in die Politik machte aus den Parteien Leute; sie sprachen gedaempft und verzogen sich. Als er schon draussen war, erfuhr Diederich noch, der alte Buck habe eine Ohnmacht erlitten. Die "Netziger Zeitung" berichtete ueber die "tragisch verlaufene Wahlversammlung" und schloss daran einen ehrenvollen Nachruf fuer den hochverdienten Mitbuerger Kuehlemann. Den Verblichenen traf kein Makel, wenn etwa Dinge vorgefallen waren, die der Aufklaerung bedurften ... Das weitere geschah, nachdem Diederich und Napoleon Fischer eine Besprechung unter vier Augen gehabt hatten. Noch am Abend vor der Wahl hielt die "Partei des Kaisers" eine Versammlung ab, von der die Gegner nicht ausgeschlossen waren. Diederich trat auf und geisselte mit flammenden Worten die demokratische Korruption und ihr Haupt in Netzig, das mit Namen zu nennen die Pflicht eines kaisertreuen Mannes sei - aber er nannte es doch lieber nicht. "Denn, meine Herren, das Hochgefuehl schwellt mir die Brust, dass ich mich verdient mache um unseren herrlichen Kaiser, wenn ich seinem gefaehrlichsten Feinde die Maske abreisse und Ihnen beweise, dass er auch nur verdienen will." Hier kam ihm ein Einfall, oder war es eine Erinnerung, er wusste nicht. "Seine Majestaet haben das erhabene Wort gesprochen: 'Mein afrikanisches Kolonialreich fuer einen Haftbefehl gegen Eugen Richter!' Ich aber, meine Herren, liefere Seiner Majestaet die naechsten Freunde Richters!" Er liess die Begeisterung verrauschen; dann, mit verhaeltnismaessig gedaempfter Stimme: "Und darum, meine Herren, habe ich besondere Gruende, zu vermuten, was man an hoher, sehr hoher Stelle von der Partei des Kaisers erwartet." Er griff an seine Brusttasche, als truege er dort auch diesmal die Entscheidung; und ploetzlich aus voller Lunge: "Wer jetzt noch seine Stimme dem Freisinnigen gibt, der ist kein kaisertreuer Mann!" Da die Versammlung dies einsah, machte Napoleon Fischer, der zugegen war, den Versuch, sie auf die gebotenen Konsequenzen ihrer Haltung hinzuweisen. Sofort fuhr Diederich dazwischen. Die nationalen Waehler wuerden schweren Herzens ihre Pflicht tun und das kleinere Uebel waehlen. "Aber ich bin der erste, der jedes Paktieren mit dem Umsturz weit von sich weist!" Er schlug so lange auf das Rednerpult, bis Napoleon in der Versenkung verschwand. Und dass Diederichs Entruestung echt war, ersah man in der Fruehe des Stichwahltages aus der sozialdemokratischen "Volksstimme", die unter hoehnischen Ausfaellen gegen Diederich selbst alles wiedergab, was er ueber den alten Buck gesagt hatte, und zwar nannte sie den Namen. "Hessling faellt hinein," sagten die Waehler, "denn jetzt muss Buck ihn verklagen." Aber viele antworteten: "Buck faellt hinein, der andere weiss zuviel." Auch die Freisinnigen, soweit sie der Vernunft zugaenglich waren, fanden jetzt, es sei an der Zeit, vorsichtig zu werden. Wenn die Nationalen, mit denen nicht zu spassen schien, nun einmal meinten, man solle fuer den Sozialdemokraten stimmen -. Und war der Sozialdemokrat erst gewaehlt, dann war es gut, dass man ihn mitgewaehlt hatte, sonst ward man noch boykottiert von den Arbeitern ... Die Entscheidung aber fiel nachmittags um drei. In der Kaiser-Wilhelm-Strasse erscholl Alarmgeblaese, alles stuerzte an die Fenster und unter die Ladentueren, um zu sehen, wo es brenne. Es war der Kriegerverein in Uniform, der herbeimarschierte. Seine Fahne zeigte ihm den Weg der Ehre. Kuehnchen, der das Kommando fuehrte, hatte die Pickelhaube wild im Nacken sitzen und schwang auf furchterregende Weise seinen Degen. Diederich in Reih' und Glied stapfte mit und freute sich der Zuversicht, dass nun in Reih' und Glied, nach Kommandos und auf mechanischem Wege alles Weitere sich abwickeln werde. Man brauchte nur zu stapfen, und aus dem alten Buck ward Kompott gemacht unter dem Taktschritt der Macht!... Am anderen Ende der Strasse holte man die neue Fahne ab und empfing sie, bei schmetternder Musik, mit stolzem Hurra. Unabsehbar verlaengert durch die Werbungen des Patriotismus erreichte der Zug das Klappsche'sche Lokal. Hier ward in Sektionen eingeschwenkt, und Kuehnchen befahl "Kueren". Der Wahlvorstand, an seiner Spitze Pastor Zillich, wartete schon, festlich gekleidet, im Hausflur. Kuehnchen kommandierte mit Kampfgeschrei: "Auf, Kameraden, zur Wahl! Wir waehlen Fischer!" - worauf es vom rechten Fluegel ab, unter schmetternder Musik, in das Wahllokal ging. Dem Kriegerverein aber folgte der ganze Zug. Klappsch, der auf so viel Begeisterung nicht vorbereitet war, hatte schon kein Bier mehr. Zuletzt, als die nationale Sache alles abgeworfen zu haben schien, dessen sie faehig war, kam noch, von Hurra empfangen, der Buergermeister Doktor Scheffelweis. Er liess sich ganz offenkundig den roten Zettel in die Hand druecken, und bei der Rueckkehr von der Urne sah man ihn freudig bewegt. "Endlich!" sagte er und drueckte Diederich die Hand. "Heute haben wir den Drachen besiegt." Diederich erwiderte schonungslos: "Sie, Herr Buergermeister? Sie stecken noch halb in seinem Rachen. Dass er Sie nur nicht mitnimmt, jetzt wo er verreckt!" Waehrend Doktor Scheffelweis erbleichte, stieg wieder ein Hurra. Wulckow!... Fuenftausend und mehr Stimmen fuer Fischer! Heuteufel mit kaum dreitausend war fortgefegt von der nationalen Woge, und in den Reichstag zog der Sozialdemokrat. Die "Netziger Zeitung" stellte einen Sieg der "Partei des Kaisers" fest, denn ihr verdanke man es, dass eine Hochburg des Freisinns gefallen sei - womit aber Nothgroschen weder grosse Befriedigung noch lauten Widerspruch weckte. Die eingetretene Tatsache fanden alle natuerlich, aber gleichgueltig. Nach dem Rummel der Wahlzeit hiess es nun wieder Geld verdienen. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, noch soeben der Mittelpunkt eines Buergerkrieges, regte keinen mehr auf. Der alte Kuehlemann hatte der Stadt sechshunderttausend Mark fuer gemeinnuetzige Zwecke vermacht, sehr anstaendig. Saeuglingsheim oder Kaiser-Wilhelm-Denkmal, es war wie Schwamm oder Zahnbuerste, wenn man zu Gottlieb Hornung kam. In der entscheidenden Sitzung der Stadtverordneten zeigte es sich, dass die Sozialdemokraten fuer das Denkmal waren, also schoen. Irgend jemand schlug vor, gleich ein Komitee zu bilden und dem Herrn Regierungspraesidenten von Wulckow den Ehrenvorsitz anzubieten. Hier erhob sich Heuteufel, den seine Niederlage wohl doch geaergert hatte, und aeusserte Bedenken, ob der Regierungspraesident, der einem gewissen Grundstuecksgeschaeft nicht fernstehe, sich selbst fuer berufen halten werde, das Grundstueck mitzubestimmen, auf dem das Denkmal stehen solle. Man schmunzelte und zwinkerte ein wenig; und Diederich, dem es kalt durch den Leib schnitt, wartete, ob jetzt der Skandal kam. Er wartete still, mit einem verstohlenen Kitzel, wie es der Macht ergehen werde, nun jemand ruettelte. Er haette nicht sagen koennen, was er sich wuenschte. Da nichts kam, erhob er sich stramm und protestierte, ohne uebertriebene Anstrengung, gegen eine Unterstellung, die er schon einmal oeffentlich widerlegt habe. Die andere Seite dagegen habe die ihr zur Last gelegten Missbraeuche bisher nicht im mindesten entkraeftet. "Troesten Sie sich," erwiderte Heuteufel, "Sie werden es bald erleben. Die Klage ist schon eingereicht." Dies bewirkte immerhin eine Bewegung. Der Eindruck ward freilich abgeschwaecht, als Heuteufel gestehen musste, dass sein Freund Buck nicht den Stadtverordneten Doktor Hessling, sondern nur die "Volksstimme" verklagt habe. "Hessling weiss zuviel", wiederholte man - und neben Wulckow, dem der Ehrenvorsitz zufiel, ward Diederich zum Vorsitzenden des Kaiser-Wilhelm-Denkmal-Komitees ernannt. Im Magistrat fanden diese Beschluesse in dem Buergermeister Doktor Scheffelweis einen warmen Fuersprecher, und sie gingen durch, wobei der alte Buck durch Abwesenheit glaenzte. Wenn er seine Sache selbst nicht hoeher einschaetzte! Heuteufel sagte: "Soll er sich die Schweinereien, die er nicht verhindern kann, auch noch persoenlich ansehen?" Aber damit schadete Heuteufel nur sich selbst. Da der alte Buck nun in kurzer Zeit zwei Niederlagen erlitten hatte, sah man voraus, der Prozess gegen die "Volksstimme" werde seine dritte sein. Die Aussage, die man vor Gericht zu machen haben wuerde, passte jeder schon im voraus den gegebenen Umstaenden an. Hessling war natuerlich zu weit gegangen, sagten vernuenftig Denkende. Der alte Buck, den alle von jeher kannten, war kein Schwindler und Gauner. Eine Unvorsichtigkeit waere ihm vielleicht zuzutrauen gewesen, besonders jetzt, wo er die Schulden seines Bruders bezahlte und selbst schon das Wasser an der Kehle hatte. Ob er nun wirklich mit Cohn bei Kluesing gewesen war wegen des Terrains? Ein gutes Geschaeft: - es haette nur nicht herauskommen duerfen! Und warum musste Kuehlemann genau in der Minute abkratzen, wo er seinen Freund haette freischwoeren sollen! So viel Pech bedeutete etwas. Herr Tietz, der kaufmaennische Leiter der "Netziger Zeitung", der in Gausenfeld ein und aus ging, sagte ausdruecklich, man begehe nur ein Verbrechen gegen sich selbst, wenn man fuer Leute eintrete, die augenscheinlich ausgespielt haetten. Auch machte Tietz darauf aufmerksam, dass der alte Kluesing, der mit einem Wort die ganze Sache haette beenden koennen, sich huetete zu reden. Er war krank, nur seinetwegen musste die Verhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt werden. Was ihn aber nicht abhielt, seine Fabrik zu verkaufen. Dies war das Neueste, dies waren die "einschneidenden Veraenderungen in einem grossen, fuer das wirtschaftliche Leben Netzigs hochbedeutsamen Unternehmen", von denen die "Netziger Zeitung" dunkel meldete. Kluesing war mit einem Berliner Konsortium in Verbindung getreten. Diederich, gefragt, warum er nicht mittue, zeigte den Brief vor, worin Kluesing ihm, frueher als jedem anderen, den Kauf angeboten hatte. "Und zwar unter Bedingungen, die nie wiederkommen", setzte er hinzu. "Leider bin ich stark engagiert bei meinem Schwager in Eschweiler, ich weiss nicht einmal, ob ich nicht von Netzig wegziehen muss." Aber als Sachverstaendiger erklaerte er auf Befragen Nothgroschens, der seine Antwort veroeffentlichte, dass der Prospekt eher noch hinter der Wahrheit zurueckbleibe. Gausenfeld sei tatsaechlich eine Goldgrube; der Ankauf der Aktien, die an der Boerse zugelassen seien, koenne nur auf das waermste empfohlen werden. Tatsaechlich wurden die Aktien in Netzig stark gefragt. Wie sachlich und von persoenlichem Interesse unbeeinflusst Diederichs Urteil gewesen war, zeigte sich bei einer besonderen Gelegenheit, als naemlich der alte Buck Geld suchte. Denn er war so weit; seine Familie und sein Gemeinsinn hatten ihn gluecklich so weit gebracht, dass auch seine Freunde nicht mehr mitgingen. Da griff Diederich ein. Er gab dem Alten zweite Hypothek fuer sein Haus in der Fleischhauergrube. "Er muss es verzweifelt noetig gehabt haben", bemerkte Diederich, sooft er davon erzaehlte. "Wenn er es von mir, seinem entschiedensten politischen Gegner, annimmt! Wer haette das frueher von ihm gedacht!" Und Diederich sah gedankenvoll in das Schicksal ... Er setzte hinzu, das Haus werde ihm teuer zu stehen kommen, wenn es ihm zufalle. Freilich, aus dem seinen muesse er bald heraus. Und auch dies zeigte, dass er auf Gausenfeld nicht rechnete ... "Aber", erklaerte Diederich, "der Alte ist nicht auf Rosen gebettet, wer weiss, wie sein Prozess ausgeht - und gerade weil ich ihn politisch bekaempfen muss, wollte ich zeigen - Sie verstehen." Man verstand, und man beglueckwuenschte Diederich zu seinem mehr als korrekten Verhalten. Diederich wehrte ab. "Er hat mir Mangel an Idealismus vorgeworfen, das durfte ich nicht auf mir sitzen lassen." Maennliche Ruehrung zitterte in seiner Stimme. Die Schicksale nahmen ihren Lauf; und wenn man manche auf Terrainschwierigkeiten stossen sah, durfte man um so freudiger anerkennen, dass das eigene glatt ging. Diederich erfuhr dies so recht an dem Tage, als Napoleon Fischer nach Berlin reiste, um die Militaervorlage abzulehnen. Die "Volksstimme" hatte eine Massendemonstration angekuendigt, der Bahnhof sollte polizeilich besetzt sein; Pflicht eines nationalen Mannes war es, dabei zu sein. Unterwegs stiess Diederich auf Jadassohn. Man begruesste einander so foermlich, wie die kuehl gewordenen Beziehungen es vorschrieben. "Sie wollen sich auch den Klimbim ansehen?" fragte Diederich. "Ich gehe in Urlaub - nach Paris." Tatsaechlich trug Jadassohn Kniehosen. Er setzte hinzu: "Schon um den politischen Dummheiten auszuweichen, die hier begangen worden sind." Diederich beschloss, vornehm hinwegzuhoeren ueber die Veraergerung eines Menschen, der keinen Erfolg gehabt hatte. "Man dachte eigentlich," sagte er, "Sie wuerden jetzt Ernst machen." "Ich? Wieso?" "Fraeulein Zillich ist freilich fort zu ihrer Tante." "Tante ist gut", Jadassohn feixte. "Und man dachte. Sie wohl auch?" "Mich lassen Sie nur aus dem Spiel." Diederich machte ein Gesicht voll Einverstaendnis. "Aber wieso ist Tante gut? Wo ist sie denn hin?" "Durchgegangen", sagte Jadassohn. Da blieb Diederich denn doch stehen und schnaufte. Kaethchen Zillich durchgegangen! In was fuer Abenteuer haette man verwickelt werden koennen!... Jadassohn sagte weltmaennisch: "Nun ja, nach Berlin. Die guten Eltern haben noch keine Ahnung. Ich bin weiter nicht boese mit ihr, Sie verstehen, es musste mal zum Klappen kommen." "So oder so", ergaenzte Diederich, der sich gefasst hatte. "Lieber so als so", berichtigte Jadassohn; worauf Diederich, vertraulich die Stimme gesenkt: "Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen, mir kam das Maedchen schon immer so vor, als ob sie bei Ihnen auch nicht sauer werden wuerde." Aber Jadassohn verwahrte sich, nicht ohne Eigenliebe. "Was glauben Sie denn? Ich selbst habe ihr Empfehlungen mitgegeben. Passen Sie auf, sie macht Karriere in Berlin." "Daran zweifle ich nicht." Diederich zwinkerte. "Ich kenne ihre Qualitaeten ... Sie allerdings haben mich fuer naiv gehalten." Jadassohns Abwehr liess er nicht gelten. "Sie haben mich fuer naiv gehalten. Und zur selben Zeit bin ich Ihnen verdammt ins Gehege gekommen, jetzt kann ich es ja sagen." Er berichtete dem anderen, der immer unruhiger ward, sein Erlebnis mit Kaethchen im Liebeskabinett - berichtete es so vollstaendig, wie es in Wahrheit nicht stattgefunden hatte. Mit einem Laecheln befriedigter Rache sah er auf Jadassohn, der sichtlich im Zweifel war, ob hier der Ehrenpunkt Platz greifen muesse. Schliesslich entschied er sich dafuer, Diederich auf die Schulter zu klopfen, und man zog in freundschaftlicher Weise die gebotenen Schluesse. "Die Sache bleibt natuerlich streng unter uns ... So ein Maedchen muss man auch gerecht beurteilen, denn woher soll die bessere Lebewelt sich ergaenzen ... Die Adresse? Aber nur Ihnen. Kommt man dann mal nach Berlin, so weiss man doch, woran man ist." "Es haette sogar einen gewissen Reiz", bemerkte Diederich, in sich hineinblickend; und da Jadassohn sein Gepaeck sah, nahmen sie Abschied. "Die Politik hat uns leider etwas auseinander gebracht, aber im Menschlichen findet man sich, Gott sei Dank, wieder. Viel Vergnuegen in Paris." "Vergnuegen kommt nicht in Frage." Jadassohn wandte sich um, mit einem Gesicht, als sei er im Begriff, jemand hineinzulegen. Da er Diederichs beunruhigte Miene sah, kam er zurueck. "In vier Wochen", sagte er merkwuerdig ernst und gefasst, "werden Sie es selbst sehen. Vielleicht ist es vorzuziehen, wenn Sie die Oeffentlichkeit schon jetzt darauf vorbereiten." Diederich, ergriffen wider Willen, fragte: "Was haben Sie vor?" Und Jadassohn, bedeutungsschwer, mit dem Laecheln eines opfervollen Entschlusses: "Ich stehe im Begriff, meine aeussere Erscheinung in Einklang zu bringen mit meinen nationalen Ueberzeugungen" ... Als Diederich den Sinn dieser Worte erfasst hatte, konnte er nur noch eine achtungsvolle Verbeugung machen; Jadassohn war schon fort. Dahinten flammten, nun er die Halle betrat, seine Ohren noch einmal - das letztemal! - auf, wie zwei Kirchenfenster im Abendschein. Auf den Bahnhof zu rueckte eine Gruppe von Maennern, in deren Mitte eine Standarte schwebte. Einige Schutzleute kamen nicht eben leichtfuessig die Treppe herab und stellten sich ihnen entgegen. Alsbald stimmte die Gruppe die Internationale an. Gleichwohl ward ihr Ansturm von den Vertretern der Macht erfolgreich zurueckgeschlagen. Mehrere kamen freilich durch und scharten sich um Napoleon Fischer, der, langatmig wie er war, seine bestickte Reisetasche beinahe am Boden schleppte. Beim Buefett erfrischte man sich nach diesen, in der Julisonne fuer die Sache des Umsturzes bestandenen Strapazen. Dann versuchte Napoleon Fischer auf dem Bahnsteig, da der Zug ohnedies Verspaetung hatte, eine Ansprache zu halten; aber ein Polizist untersagte es dem Abgeordneten. Napoleon setzte die bestickte Tasche hin und fletschte die Zaehne. Wie Diederich ihn kannte, war er im Begriff, einen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu begehen. Zu seinem Glueck fuhr der Zug ein - und erst jetzt ward Diederich auf einen untersetzten Herrn aufmerksam, der sich aber abwandte, wenn man um ihn herumging. Er hielt einen grossen Blumenstrauss vor sich hin und sah dem Zug entgegen. Diederich kannte doch diese Schultern ... Das ging mit dem Teufel zu! Aus einem Coupe gruesste Judith Lauer, ihr Mann half ihr herunter, ja, er ueberreichte ihr den Blumenstrauss, und sie nahm ihn mit dem ernsten Laecheln, das sie hatte. Wie die beiden sich nach dem Ausgang wandten, ging Diederich ihnen schleunigst aus dem Weg, und er schnaufte dabei. Mit dem Teufel ging es nicht zu, Lauers Zeit war einfach herum, er war wieder frei. Nicht dass von ihm etwas zu fuerchten stand, immerhin musste man sich erst wieder daran gewoehnen, ihn draussen zu wissen ... Und mit einem Bukett holte er sie ab! Wusste er denn nichts? Er hatte doch Zeit gehabt, nachzudenken. Und sie, die zu ihm zurueckkehrte, nachdem er fertig gesessen hatte! Es gab Verhaeltnisse, von denen man sich als anstaendiger Mensch nichts traeumen liess. Uebrigens stand Diederich den Dingen nicht naeher als jeder andere; er hatte damals nur seine Pflicht getan. "Alle werden dieselbe peinliche Empfindung haben wie ich. Man wird ihm allerseits zu verstehen geben, dass er am besten zu Hause bleibt ... Denn wie man sich bettet, liegt man." Kaethchen Zillich hatte es begriffen und die richtige Folgerung gezogen. Was ihr recht war, konnte gewissen anderen Leuten billig sein, nicht nur dem Herrn Lauer. Diederich selbst, der von achtungsvollen Gruessen geleitet durch die Stadt schritt, nahm jetzt auf die natuerlichste Weise den Platz ein, den seine Verdienste ihm bereitet hatten. Durch diese harte Zeit hatte er sich nun so weit hindurchgekaempft, dass bloss noch die Fruechte zu pfluecken waren. Die anderen hatten angefangen an ihn zu glauben: alsbald kannte auch er keinen Zweifel mehr ... Ueber Gausenfeld liefen neuerdings unguenstige Geruechte um, und die Aktien fielen. Woher wusste man, dass die Regierung der Fabrik ihre Auftraege entzogen und sie dem Hesslingschen Werk uebertragen hatte? Diederich hatte nichts verlauten lassen, aber man wusste es, noch bevor die Arbeiterentlassungen kamen, die die "Netziger Zeitung" so sehr bedauerte. Der alte Buck, als Vorsitzender des Aufsichtsrates, musste sie leider persoenlich anregen, was ihm allgemein schadete. Die Regierung ging wahrscheinlich nur wegen des alten Buck so scharf vor. Es war ein Fehler gewesen, ihn zum Vorsitzenden zu waehlen. Ueberhaupt haette er mit dem Geld, das Hessling ihm anstaendigerweise gegeben hatte, lieber Schulden bezahlen sollen, statt Gausenfelder Aktien zu kaufen. Diederich selbst aeusserte ueberall diese Ansicht. "Wer haette das frueher von ihm gedacht!" bemerkte er auch hierzu wieder, und wieder tat er einen gedankenvollen Blick in das Schicksal. "Man sieht, wozu einer imstande ist, der den Boden unter den Fuessen verliert." Worauf jeder den beklemmenden Eindruck mitnahm, der alte Buck werde auch ihn selbst, als Aktionaer von Gausenfeld, in seinen Ruin hineinreissen. Denn die Aktien fielen. Infolge der Entlassungen drohte ein Streik: sie fielen noch tiefer ... Hier machte Kienast sich Freunde. Kienast war unvermutet in Netzig eingetroffen, zur Erholung, wie er sagte. Keiner gestand es gern dem anderen ein, dass er Gausenfelder hatte und hereingefallen war. Kienast hinterbrachte es dem, dass jener schon verkauft habe. Seine persoenliche Meinung war, dass es hohe Zeit sei. Ein Makler, den er uebrigens nicht kannte, sass dann und wann im Cafe und kaufte. Einige Monate spaeter brachte die Zeitung ein taegliches Inserat des Bankhauses Sanft & Co. Wer noch Gausenfelder hatte, konnte sie hier muehelos abstossen. Tatsaechlich besass zu Anfang des Herbstes kein Mensch mehr die faulen Papiere. Dagegen ging das Gerede, Hessling und Gausenfeld sollten fusioniert werden. Diederich zeigte sich verwundert. "Und der alte Herr Buck?" fragte er. "Als Vorsitzender des Aufsichtsrates wird er wohl noch mitreden wollen. Oder hat er selbst schon verkauft?" - "Der hat mehr Sorgen", hiess es dann. Denn in seiner Beleidigungssache gegen die "Volksstimme" war jetzt die Verhandlung anberaumt. "Er wird wohl hineinfliegen", meinte man; und Diederich, mit vollkommener Sachlichkeit: "Schade um ihn. Dann hat er in seinem letzten Aufsichtsrat gesessen." In diesem Vorgefuehl gingen alle zu der Verhandlung. Die auftretenden Zeugen erinnerten sich nicht. Kluesing hatte schon laengst zu jedem vom Verkauf der Fabrik gesprochen. Hatte er von jenem Terrain besonders gesprochen? Und hatte er als den Unterhaendler den alten Buck genannt? Dies alles blieb zweifelhaft. In den Kreisen der Stadtverordneten war bekannt gewesen, dass das Grundstueck in Frage komme fuer das damals in Aussicht genommene Saeuglingsheim. War Buck dafuer gewesen? Jedenfalls nicht dagegen. Mehreren war es aufgefallen, wie lebhaft er sich fuer den Platz interessierte. Kluesing selbst, der noch immer krank war, hatte in seiner kommissarischen Vernehmung ausgesagt, sein Freund Buck sei bis vor kurzem bei ihm ein und aus gegangen. Wenn Buck ihm von dem Vorkaufsrecht auf das Terrain gesprochen haben sollte, so habe er dies keinesfalls in einem fuer Buck ehrenruehrigen Sinne aufgefasst ... Der Klaeger Buck wuenschte festgestellt zu sehen, dass der verstorbene Kuehlemann es gewesen sei, der mit Kluesing verhandelt habe: Kuehlemann selbst, der Spender des Geldes. Aber die Feststellung misslang, Kluesings Aussage war unentschieden auch hierin. Dass Cohn es behauptete, war nicht wesentlich, da Cohn ein Interesse hatte, seinen eigenen Besuch in Gausenfeld harmlos erscheinen zu lassen. Als gewichtigster Zeuge blieb Diederich uebrig, dem Kluesing geschrieben und der gleich darauf mit ihm eine Unterredung gehabt hatte. War damals ein Name gefallen? Er sagte aus: "Mir lag nicht daran, den oder jenen Namen zu erfahren. Ich stelle fest, dass ich, was alle Zeugen bestaetigen, niemals oeffentlich den Namen des Herrn Buck genannt habe. Mein Interesse in der Sache war einzig das der Stadt, die nicht durch einzelne geschaedigt werden sollte. Ich bin fuer die politische Moral eingetreten. Persoenliche Gehaessigkeit liegt mir fern, und es wuerde mir leid tun, wenn der Herr Klaeger aus dieser Verhandlung nicht ganz vorwurfsfrei hervorgehen sollte." Seinen Worten folgte ein anerkennendes Gemurmel. Nur Buck schien unzufrieden; er fuhr auf, rot im Gesicht ... Diederich sollte nun angeben, welches seine persoenliche Auffassung der Sache sei. Er setzte an: da trat Buck vor, straff aufgerichtet, und seine Augen flammten wieder, wie in der tragisch verlaufenen Wahlversammlung. "Ich erlasse es dem Herrn Zeugen, ein schonendes Gutachten abzugeben ueber meine Person und mein Leben. Er ist nicht der Mann dazu. Seine Erfolge sind mit anderen Mitteln erreicht als die meinen, und sie haben einen anderen Gegenstand. Mein Haus war immer jedem offen und zugaenglich, auch dem Herrn Zeugen. Mein Leben gehoert seit mehr als fuenfzig Jahren nicht mir, es gehoert einem Gedanken, den zu meiner Zeit mehrere hatten, der Gerechtigkeit und dem Wohl aller. Ich war vermoegend, als ich in die Oeffentlichkeit trat. Wenn ich sie verlasse, werde ich arm sein. Ich brauche keine Verteidigung!" Er schwieg, sein Gesicht zitterte noch - aber Diederich zuckte nur die Achseln. Auf welche Erfolge berief sich der Alte? Er hatte schon laengst keine mehr und brachte nun hohle Worte vor, auf die niemand eine Hypothek gab. Er tat erhaben und befand sich schon unter den Raedern. Konnte ein Mensch seine Lage so sehr verkennen? "Wenn einer von uns den anderen von oben herab zu behandeln hat -" Und Diederich blitzte. Er blitzte den Alten, der vergebens flammte, einfach nieder, und diesmal endgueltig, mitsamt der Gerechtigkeit und dem Wohl aller. Zuerst das eigene Wohl - und gerecht war die Sache, die Erfolg hatte!... Er fuehlte deutlich, dass dies fuer alle feststand. Auch der Alte fuehlte es, er setzte sich wieder, er bekam runde Schultern, in seine Miene trat etwas wie Scham. Zu den Schoeffen gewendet, sagte er: "Ich verlange keine Ausnahmestellung, ich unterwerfe mich dem Urteil meiner Mitbuerger." Worauf denn Diederich, als sei nichts geschehen, in seiner Aussage fortfuhr. Sie war wirklich sehr schonend und machte den besten Eindruck. Seit dem Prozess Lauer fand man ihn durchaus guenstig veraendert; er hatte an ueberlegener Ruhe gewonnen, was freilich kein Kunststueck hiess, da er jetzt ein gemachter Mann und fein heraus war. Gerade schlug es Mittag, und im Saal verbreitete sich summend das Neueste aus der "Netziger Zeitung": es war Tatsache, Hessling, Grossaktionaer von Gausenfeld, war als Generaldirektor berufen worden ... Neugierig musterte man ihn - und ihm gegenueber den alten Buck, auf dessen Kosten er Seide gesponnen hatte. Die zwanzigtausend, die er dem Alten zuletzt noch geliehen hatte, bekam er nun mit hundert Prozent zurueck, und war noch edel. Dass der Alte sich fuer das Geld gerade Gausenfelder gekauft hatte, wirkte wie ein guter Witz von Hessling und troestete im Augenblick manchen ueber den eigenen Verlust. Bei Diederichs Abgang schwieg man an seinem Wege. Die Gruesse drueckten Achtung in dem Grade aus, wo sie in Unterwuerfigkeit uebergeht. Die Hereingefallenen gruessten den Erfolg. Mit dem alten Buck verfuhren sie unwirscher. Als der Vorsitzende das Urteil verkuendete, ward geklatscht. Nur fuenfzig Mark fuer den Redakteur der "Volksstimme"! Der Beweis war nicht vollstaendig erbracht, guter Glaube ward zugebilligt. Vernichtend fuer den Klaeger, sagten die Juristen - und wie Buck das Gerichtsgebaeude verliess, wichen auch die Freunde ihm aus. Kleine Leute, die an Gausenfeld ihre Ersparnisse verloren hatten, schuettelten die Faeuste hinter ihm her. Und allen brachte dieser Spruch des Gerichts die Erleuchtung, dass sie mit ihrer Meinung ueber den alten Buck eigentlich schon laengst fertig waren. Ein Geschaeft wie das mit dem Terrain fuer das Saeuglingsheim musste wenigstens gluecken: das Wort war von Hessling, und es stimmte. Aber daran lag es: dem alten Buck war seiner Lebtage kein Geschaeft geglueckt. Er duenkte sich was Wunder, wenn er als Stadtvater und Parteifuehrer mit Schulden abschnitt. Faule Kunden gab es noch mehr! Der geschaeftlichen Fragwuerdigkeit aber entsprach die moralische, dafuer zeugte die nie recht aufgeklaerte Geschichte mit der Verlobung seines Sohnes, desselben, der sich jetzt beim Theater umhertrieb. Und Bucks Politik? Eine internationale Gesinnung, immer nur Opfer fordern fuer demagogische Zwecke, aber wie Hund und Katz' mit der Regierung, was dann wieder auf die Geschaefte zurueckwirkte: das war die Politik eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat und dem es an gutbuergerlicher Muendelsicherheit gebricht. Entruestet erkannte man, dass man sich auf Gedeih und Verderb in der Hand eines Abenteurers befunden hatte. Ihn unschaedlich zu machen, war der allgemeine Herzenswunsch. Da er von selbst aus dem vernichtenden Urteil die Folgerungen nicht zog, mussten andere sie ihm nahelegen. Das Verwaltungsrecht enthielt doch wohl eine Bestimmung, wonach ein Gemeindebeamter sich durch sein Verhalten in und ausser dem Amte der Achtung, die dieses erfordert, wuerdig zu erweisen hatte. Ob der alte Buck diese Bestimmung erfuellte? Die Frage aufwerfen, hiess sie verneinen, wie die "Netziger Zeitung", ohne natuerlich seinen Namen zu nennen, feststellte. Aber es musste erst so weit kommen, dass die Stadtverordnetenversammlung mit der Angelegenheit befasst ward. Da endlich, einen Tag vor der Debatte, nahm der hartgesottene Alte Vernunft an und legte sein Amt als Stadtrat nieder. Seine politischen Freunde konnten ihn hiernach, bei Gefahr, die letzten Anhaenger zu verlieren, nicht laenger an der Spitze der Partei lassen. Er machte es ihnen nicht leicht, wie es schien; mehrfache Besuche bei ihm und ein sanfter Druck waren noetig, bevor in der Zeitung sein Brief erschien: das Wohl der Demokratie sei ihm wichtiger als seins. Da ihr, unter der Einwirkung von Leidenschaften, die er fuer vergaenglich halten wolle, jetzt Schaden drohe durch seinen Namen, trete er zurueck. "Wenn es dem Ganzen nuetzen kann, bin ich bereit, den ungerechten Makel, den der getaeuschte Volkswille mir auferlegt, zu tragen, im Glauben an die ewige Gerechtigkeit des Volkes, das ihn dereinst wieder von mir nehmen wird." Dies fasste man als Heuchelei und Ueberhebung auf; die Wohlmeinenden entschuldigten es mit Greisenhaftigkeit. Uebrigens hatte, was er schrieb oder nicht schrieb, keinen Belang mehr, denn was war er noch? Leute, die ihm Stellungen oder Gewinn verdankten, sahen ihm ploetzlich ins Gesicht, ohne an den Hut zu fassen. Manche lachten und machten laute Bemerkungen: es waren die, denen er nichts zu befehlen gehabt hatte und die dennoch voll Ergebenheit gewesen waren, solange er das allgemeine Ansehen genoss. Statt der alten Freunde aber, die auf seinem taeglichen Spaziergang sich niemals vorfanden, kamen neue, seltsame. Sie begegneten ihm, wenn er heimkehrte und es schon daemmerte, und es war etwa ein kleiner Geschaeftsmann mit gehetzten Augen, dem der Bankerott im Nacken sass, oder ein duesterer Trunkenbold, oder irgendein die Haeuser entlang streichender Schatten. Diese sahen ihm, den Schritt verlangsamend, entgegen mit scheuer oder frecher Vertraulichkeit. Sie rueckten wohl zoegernd ihre Kopfbedeckung, dann winkte der alte Buck ihnen zu, und auch die Hand, die hingehalten ward, nahm er, ganz gleich welche. Da die Zeit verging, beachtete auch der Hass ihn nicht mehr. Wer mit Absicht weggesehen hatte, ging nun gleichgueltig vorbei, und manchmal gruesste er wieder, aus alter Gewohnheit. Ein Vater, der seinen jungen Sohn bei sich hatte, bekam eine nachdenkliche Miene, und waren sie vorueber, erklaerte er dem Kinde: "Hast du den alten Herrn gesehen, der da so allein hinschleicht und niemand ansieht? Dann merke dir fuer dein Leben, was aus einem Menschen die Schande machen kann." Und das Kind ward fortan beim Anblick des alten Buck von einem geheimnisvollen Grauen ueberlaufen, gleich wie das erwachsene Geschlecht, als es klein war, bei seinem Anblick einen unerklaerten Stolz gefuehlt hatte. Junge Leute freilich gab es, die der herrschenden Meinung nicht folgten. Manchmal, wenn der Alte das Haus verliess, war eben die Schule aus. Die Herden der Heranwachsenden trabten davon, ehrfuerchtig machten sie ihren Lehrern Platz, und Kuehnchen, jetzt rueckhaltlos national, oder Pastor Zillich, sittenstrenger als je seit dem Unglueck mit Kaethchen, eilten hindurch, ohne einen Blick fuer den Gefallenen. Da blieben am Wege diese wenigen jungen Leute stehen, jeder fuer sich, wie es schien, und aus eigenem Antrieb. Ihre Stirnen sahen weniger glatt aus als die meisten; sie hatten Ausdruck in den Augen, nun sie Kuehnchen und Zillich den Ruecken kehrten und vor dem alten Buck den Kopf entbloessten. Unwillkuerlich hielt er dann den Schritt an und sah in diese zukunftstraechtigen Gesichter, noch einmal voll der Hoffnung, mit der er sein Leben lang in alle Menschengesichter gesehen hatte. Diederich inzwischen hatte wahrhaftig keine Zeit, viel Aufmerksamkeit zu wenden an nebensaechliche Begleiterscheinungen seines Aufstiegs. Die "Netziger Zeitung", jetzt unbedingt zu Diederichs Verfuegung, stellte fest, dass Herr Buck selbst es gewesen sei, der, noch bevor er den Vorsitz im Aufsichtsrat niederlegte, die Berufung des Herrn Doktor Hessling zum Generaldirektor befuerworten musste. An der Tatsache spuerte mancher einen eigenartigen Geschmack. Doch gab Nothgroschen zu bedenken, dass Herr Generaldirektor Doktor Hessling sich ein grosses und unbestrittenes Verdienst um die Allgemeinheit erworben habe. Ohne ihn, der mehr als die Haelfte der Aktien in aller Stille an sich gebracht hatte, waeren sie sicherlich immer tiefer gefallen, und gar manche Familie verdankte es nur Herrn Doktor Hessling, dass sie vor dem Zusammenbruch bewahrt blieb. Der Streik war durch die Energie des neuen Generaldirektors gluecklich beschworen. Seine nationale und kaisertreue Gesinnung buergte dafuer, dass die Regierungssonne kuenftig ueber Gausenfeld nicht mehr untergehen werde. Kurz, herrliche Zeiten brachen nun an fuer das wirtschaftliche Leben Netzigs und besonders fuer die Papierindustrie - zumal das Geruecht von einer Fusion des Hesslingschen Werkes mit Gausenfeld, wie aus sicherer Quelle verlautete, auf Wahrheit beruhte. Nothgroschen konnte verraten, dass Herr Doktor Hessling nur unter dieser Bedingung sich habe bewegen lassen, die Leitung Gausenfelds zu uebernehmen. Tatsaechlich hatte Diederich nichts so Eiliges zu tun, als das Aktienkapital erhoehen zu lassen. Fuer das neue Kapital ward das Hesslingsche Werk erworben. Diederich hatte ein glaenzendes Geschaeft gemacht. Seine erste Regierungshandlung hatte der Erfolg gekroent, er war Herr der Lage, mit seinem Aufsichtsrat aus gefuegigen Maennern, und konnte daran gehen, der inneren Organisation des Unternehmens seinen Herrscherwillen aufzudruecken. Gleich anfangs versammelte er sein ganzes Volk von Arbeitern und Angestellten. "Einige von euch", sagte er, "kennen mich schon, vom Hesslingschen Werk her. Na, und ihr anderen sollt mich kennenlernen! Wer mir behilflich sein will, ist willkommen, aber Umsturz wird nicht geduldet! Vor noch nicht zwei Jahren hab' ich das einem kleinen Teil von euch gesagt, und jetzt seht euch an, wie viele ich jetzt unter meinem Befehle habe. Ihr koennt stolz auf einen solchen Herrn sein! Verlasst euch auf mich, ich werde es mir angelegen sein lassen, euern nationalen Sinn zu wecken und euch zu treuen Anhaengern der bestehenden Ordnung zu machen." Und er verhiess ihnen eigene Wohnhaeuser, Krankenunterstuetzungen, billige Lebensmittel. "Sozialistische Umtriebe aber verbitte ich mir! Wer in Zukunft anders waehlt, als ich will, fliegt!" Auch dem Unglauben, sagte Diederich, sei er zu steuern entschlossen; jeden Sonntag werde er sich ueberzeugen, wer in der Kirche sei und wer nicht. "Solange in der Welt die unerloeste Suende herrscht, wird es Krieg und Hass, Neid und Zwietracht geben. Und darum: einer muss Herr sein!" Um diesen obersten Grundsatz zur Geltung zu bringen, wurden alle Raeume der Fabrik bedeckt mit Inschriften, die ihn verkuendeten. Durchgang verboten! Wasserholen mit den Eimern der Feuerloeschapparate verboten! Flaschenbierholen erst recht verboten, denn Diederich hatte nicht versaeumt, mit einer Brauerei einen Vertrag zu schliessen, der ihm Vorteile sicherte vom Konsum seiner Leute ... Essen, Schlafen, Rauchen, Kinder mitbringen, "Poussieren, Schaekern, Knutschen, ueberhaupt jede Unzucht" strengstens verboten! In den Arbeiterhaeusern waren, noch bevor sie wirklich dastanden, Pflegekinder verboten. Ein in freier Liebe dahinlebendes Paar, das unter Kluesing zehn Jahre lang sich der Entdeckung zu entziehen gewusst hatte, wurde feierlich entlassen. Dieser Vorfall war fuer Diederich sogar der Anlass, ein neues Mittel zur sittlichen Hebung des Volkes zu verwenden. An den geeigneten Orten liess er ein in Gausenfeld selbst erzeugtes Papier aufhaengen, bei dessen Benutzung niemand umhin konnte, die moralischen oder staatserhaltenden Maximen zu beachten, mit denen es bedruckt war. Zuweilen hoerte er die Arbeiter einen von hoher Stelle stammenden Ausspruch einander zurufen, von dem sie auf diesem Wege ueberzeugt worden waren, oder sie sangen ein patriotisches Lied, das sich ihnen bei derselben Gelegenheit eingepraegt hatte. Ermutigt durch diese Erfolge, brachte Diederich seine Erfindung in den Handel. Sie trat unter dem Zeichen "Weltmacht" auf, und wirklich trug sie, wie eine grosszuegige Reklame es verkuendete, deutschen Geist, gestuetzt auf deutsche Technik, siegreich durch die Welt. Alle Konfliktsstoffe zwischen Herrn und Arbeitern konnten auch diese erzieherischen Papiere nicht entfernen. Eines Tages sah Diederich sich veranlasst, bekanntzugeben, dass er vom Versicherungsgeld nur Zahnbehandlung, nicht aber auch Zahnersatz bezahlen werde. Ein Mann hatte sich ein ganzes Gebiss verfertigen lassen! Da Diederich sich auf seine, freilich erst nachtraeglich erlassene Bekanntmachung berief, prozessierte der Mann und bekam abenteuerlicherweise sogar recht. Hierdurch in seinem Glauben an die herrschende Ordnung erschuettert, ward er zum Aufwiegler, verkam sittlich und waere unter anderen Umstaenden unbedingt entlassen worden. So aber konnte Diederich sich nicht entschliessen, das Gebiss, das ihn teuer zu stehen kam, dahinzugeben, und behielt daher auch den Mann.... Die ganze Angelegenheit, er verhehlte es sich nicht, war dem Geiste der Arbeiterschaft nicht zutraeglich. Hinzu kam die Einwirkung gefaehrlicher politischer Ereignisse. Als im neu eroeffneten Reichstagsgebaeude mehrere sozialdemokratische Abgeordnete beim Kaiserhoch sitzengeblieben waren, da konnte man nicht mehr zweifeln, die Notwendigkeit einer Umsturzvorlage war bewiesen. Diederich machte in der Oeffentlichkeit dafuer Stimmung; seine Leute bereitete er darauf in einer Ansprache vor, die sie mit duesterem Schweigen aufnahmen. Die Mehrheit des Reichstages war gewissenlos genug, die Vorlage abzulehnen, und der Erfolg liess nicht warten, ein Industrieller ward ermordet. Ermordet! Ein Industrieller! Der Moerder behauptete kein Sozialdemokrat zu sein, aber das kannte Diederich von seinen eigenen Leuten her; und der Ermordete sollte arbeiterfreundlich gewesen sein, aber das kannte Diederich an sich selbst. Tage- und wochenlang oeffnete er keine Tuer ohne Bangen vor einem dahinter schon gezueckten Messer. Sein Bureau erhielt Selbstschuesse, und gemeinsam mit Guste kroch er jeden Abend durch das Schlafzimmer und suchte. Seine Telegramme an den Kaiser, mochten sie von der Stadtverordnetenversammlung ausgehen, vom Vorstand der "Partei des Kaisers", vom Unternehmerverband oder vom Kriegerverein: die Telegramme, mit denen Diederich den Allerhoechsten Herrn ueberschuettete, schrien nach Hilfe gegen die von den Sozialisten angefachte Revolutionsbewegung, der wieder ein Opfer mehr erlegen war; nach Befreiung von dieser Pest, nach schleunigen gesetzlichen Massnahmen, militaerischem Schutz der Autoritaet und des Eigentums, nach Zuchthausstrafen fuer Streikende, die jemand abhielten zu arbeiten.... Die "Netziger Zeitung", die alles dies puenktlich wiedergab, vergass aber keinesfalls hinzuzufuegen, wie sehr gerade Herr Generaldirektor Doktor Hessling sich verdient mache um den sozialen Frieden und die Arbeiterfuersorge. Jedes von Diederich neuerbaute Arbeiterhaus fuehrte Nothgroschen stark geschmeichelt im Bilde vor und schrieb dazu einen hochgestimmten Artikel. Mochten gewisse andere Arbeitgeber, deren Einfluss in Netzig gluecklicherweise nicht mehr in Frage kam, unter ihren Angestellten subversive Tendenzen schueren, indem sie sie am Gewinn beteiligten. Die von Herrn Generaldirektor Doktor Hessling vertretenen Grundsaetze zeitigten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer das denkbar beste Verhaeltnis, wie Seine Majestaet der Kaiser es ueberall in der deutschen Industrie zu sehen wuenschten. Ein kraeftiger Widerstand gegen die unberechtigten Forderungen der Arbeiter sowie eine Koalition der Arbeitgeber gehoerten bekanntlich gleichfalls zum sozialen Programm des Kaisers, das mit zu verwirklichen ein Ruhmestitel des Herrn Generaldirektor Doktor Hessling war. - Und daneben stand Diederichs Bild. Solche Anerkennung spornte zu immer eifrigerer Betaetigung an - trotz der unerloesten Suende, die ihre verheerende Wirkung uebrigens nicht nur geschaeftlich, sondern auch in der Familie aeusserte. Hier war es leider Kienast, der Neid und Zwietracht saete. Er behauptete, dass ohne ihn und seine unauffaellige Vermittlung beim Ankauf der Aktien Diederich seine glaenzende Stellung gar nicht erlangt haben wuerde. Worauf Diederich erwiderte, dass Kienast durch einen seinen Mitteln entsprechenden Aktienbesitz entschaedigt sei. Dies erkannte der Schwager nicht an, vielmehr vermass er sich, fuer seine pietaetlosen Ansprueche eine rechtliche Grundlage gefunden zu haben. War er nicht als Gatte Magdas der Mitbesitzer, zu einem Achtel ihres Wertes, der alten Hesslingschen Fabrik gewesen? Die Fabrik war verkauft, Diederich hatte bares Geld und Gausenfelder Vorzugsaktien dafuer bekommen. Kienast verlangte ein Achtel der Kapitalrente und der jaehrlichen Dividende der Vorzugsaktien. Auf dieses unerhoerte Ansinnen erwiderte Diederich mit aller Energie, dass er weder seinem Schwager noch seiner Schwester irgend etwas mehr schuldig sei. "Ich war nur verpflichtet, euch euren Anteil vom jaehrlichen Gewinn meiner Fabrik zu zahlen. Meine Fabrik ist verkauft. Gausenfeld gehoert nicht mir, sondern einer Aktiengesellschaft. Was das Kapital betrifft, das ist mein Privatvermoegen. Ihr habt nichts zu fordern." - Kienast nannte dies einen offenen Raub, Diederich, durch die eigenen Argumente vollkommen ueberzeugt, sprach von Erpressung, und dann folgte ein Prozess. Der Prozess dauerte drei Jahre. Er ward mit immer wachsender Erbitterung gefuehrt, besonders von seiten Kienasts, der, um sich ihm ganz zu widmen, seine Stellung in Eschweiler aufgab und mit Magda nach Netzig zog. Als Hauptzeugen gegen Diederich hatte er den alten Soetbier aufgestellt, der in seiner Rachsucht nun wirklich beweisen wollte, dass Diederich schon frueher an seine Verwandten nicht die ihnen zustehenden Summen abgefuehrt habe. Auch verfiel Kienast darauf, gewisse Punkte in Diederichs Vergangenheit mit Hilfe des jetzigen Abgeordneten Napoleon Fischer aufhellen zu wollen: was ihm freilich niemals recht gelang. Immerhin aber ward Diederich durch dieses Vorgehen genoetigt, zu verschiedenen Malen groessere Betraege fuer die sozialdemokratische Parteikasse zu erlegen. Und er durfte es sich sagen, sein persoenlicher Verlust schmerzte ihn weniger als der Abbruch, den dergestalt die nationale Sache erlitt ... Guste, deren Blick so weit nicht reichte, schuerte den Streit der Maenner mehr aus weiblichen Motiven. Ihr Erstes war ein Maedchen, und sie verzieh Magda ihren Jungen nicht. Magda, die den Geldsachen anfangs nur ein laues Interesse entgegengebracht hatte, leitete den Beginn der Feindseligkeiten von dem Tage her, als Emmi mit einem aus Berlin bezogenen unerhoerten Hut erschien. Magda stellte fest, dass Emmi jetzt von Diederich in der empoerendsten Weise bevorzugt wurde. Emmi bewohnte in Gausenfeld ein eigenes Appartement, wo sie Tees gab. Die Hoehe ihres Toilettegeldes stellte eine Unverschaemtheit gegen die verheiratete Schwester dar. Magda musste sehen, dass der Vorrang, den ihre Verheiratung ihr eingetragen hatte, sich in das Gegenteil verkehrte; und sie beschuldigte Diederich, er habe sich ihrer, vor dem Anbruch seiner Glanzzeit, heimtueckisch entledigt. Wenn Emmi auch jetzt noch keinen Mann fand, schien dies besondere Gruende zu haben - die man sich in Netzig denn auch ins Ohr sagte. Magda sah kein Hindernis, sie laut auszusprechen. Durch Inge Tietz erfuhr man es in Gausenfeld; aber Inge brachte zugleich eine Waffe gegen die Verleumderin mit, weil sie naemlich bei Kienasts der Hebamme begegnet war, und das erste Kind war kaum ein halbes Jahr. Ein furchtbarer Aufruhr trat hierauf ein, telephonische Beschimpfungen von Haus zu Haus, Drohungen mit gerichtlicher Klage, wofuer man Stoff sammelte, indem jede der beiden Frauen das Zimmermaedchen der anderen anwarb. Und bald nachdem Diederich und Kienast mit maennlicher Besonnenheit den aeussersten Familienskandal fuer diesmal noch verhuetet hatten, brach er dennoch aus. Guste und Diederich bekamen anonyme Briefe, die sie vor jedem Dritten und sogar voreinander verstecken mussten, so grenzenlos frivol war ihr Inhalt. Noch dazu illustrierten ihn Zeichnungen, die jedes erlaubte Mass einer wenn auch realistischen Kunst ueberschritten. Puenktlich jeden Morgen lagen die harmlos grauen Umschlaege auf dem Fruehstueckstisch, und jeder liess den seinen verschwinden, wobei man tat, als habe man den des anderen nicht bemerkt. Eines Tages freilich war es aus mit dem Versteckenspiel, denn Magda hatte die Kuehnheit, in Gausenfeld zu erscheinen, versehen mit einem Packen ganz gleichartiger Briefe, die sie selbst erhalten haben wollte. Dies fand Guste zu stark. "Du wirst wohl wissen, wer sie dir schreibt!" brachte sie hervor, erstickt und rot angelaufen. Magda sagte, sie koenne es sich denken, und darum sei sie gekommen. "Wenn du es noetig hast," erwiderte Guste und zischte, "dass du dir selbst musst solche Briefe schreiben, damit du in Stimmung kommst, dann schreib' sie wenigstens anderen Leuten nicht, die es nicht noetig haben!" Magda protestierte und stiess ihrerseits, gruen im Gesicht, Beschuldigungen aus. Aber Guste war zum Telephon gestuerzt, sie rief Diederich aus dem Bureau herbei; dann lief sie fort und kehrte mit einem Packen Briefe zurueck. Gegenueber trat Diederich ein und hatte seinen auch schon dabei. Als die drei interessanten Sammlungen wirkungsvoll ausgebreitet auf dem Tisch lagen, sahen die drei Verwandten entgeistert einander an. Dann fassten sie sich und schrien alle gleichzeitig dieselben Anklagen. Um nicht an Boden zu verlieren, rief Magda das Zeugnis ihres Mannes an, der gleichfalls heimgesucht sei. Guste behauptete, auch bei Emmi etwas gesehen zu haben. Emmi ward geholt und gestand unschwer in ihrer wegwerfenden Art, dass auch ihr die Post solche Schweinereien gebracht habe. Die meisten habe sie vernichtet. Die alte Frau Hessling sogar war nicht verschont geblieben! Sie leugnete zwar weinend, solange es ging, ward aber ueberfuehrt ... Da dies alles die Angelegenheit nur erweiterte, aber nicht klaerte, trennte man sich beiderseits mit Drohungen, die innerlich haltlos, aber keineswegs ohne Schrecken waren. Um ihre Stellung zu befestigen, hielt jede der Parteien Umschau nach Bundesgenossen, wobei sich zunaechst herausstellte, dass auch Inge Tietz zu den Empfaengern der unpassenden Darbietungen gehoerte. Was hiernach zu vermuten stand, bestaetigte sich. Der unheimliche Briefschreiber hatte ueberall in das Privatleben eingegriffen, sogar bei Pastor Zillich, ja beim Buergermeister und den Seinen. Soweit man blickte, hatte er um das Haus Hessling und alle guten Haeuser, die ihm nahestanden, eine Atmosphaere der krassesten Obszoenitaet geschaffen. Wochenlang wagte Guste sich nicht hinaus. Ihr und Diederichs Argwohn warf sich entsetzensvoll von dem auf jenen. In ganz Netzig traute keiner mehr dem Vertrautesten. Der Tag kam und die Fruehstuecksstunde, da im Schoss der Familie Hessling der Verdacht die letzten Grenzen verletzte. Ein Dokument, unbeirrbar wie noch keins, zitterte in Gustes Hand; es hielt Augenblicke fest, die in ihrer Eigentuemlichkeit nur ihr und ihrem Gatten, tief verschwiegen, bewusst waren. Kein Dritter ahnte dies, sonst hoerte alles auf. Dann aber?... Guste sandte ueber den Kaffeetisch einen pruefenden Blick zu Diederich: in seiner Hand zitterte das gleiche Papier, und auch sein Blick pruefte. Schnell schlugen beide, schreckengepackt, die Augen nieder. Der Verraeter war ueberall. Wo niemand sonst war, da war er ein zweites Ich. Durch ihn ward in nie geahnter Weise alle buergerliche Ehrbarkeit in Frage gestellt. Dank seiner Taetigkeit waere in Netzig jedes moralische Selbstgefuehl und alle gegenseitige Achtung zum Untergang verurteilt gewesen, haette man nicht, wie auf allseitige Verabredung, Gegenmassregeln getroffen, die sie wiederherstellten. Die tausendfaeltigen Aengste, unterirdisch fortarbeitend nach einem Ausweg, liefen zusammen von allen Seiten, schufen mit der Kraft der vereinigten Angst den Kanal, der ans Licht fuehrte, und konnten endlich ihre dunkeln Fluten ergiessen ueber einen Mann. Gottlieb Hornung wusste nicht, wie ihm geschah. Unter vier Augen mit Diederich hatte er nach seiner Weise gross getan und sich gewisser Briefe geruehmt, die er geschrieben haben wollte. Auf Diederichs strenge Vorhaltungen bemerkte er nur, solche Briefe schriebe doch jetzt jeder, es sei Mode, ein Gesellschaftsspiel - was Diederich sofort gebuehrend zurueckwies. Er nahm aus der Unterredung den Eindruck mit, sein alter Freund und Kommilitone Gottlieb Hornung, der schon so manche nuetzlichen Dienste geleistet hatte, sei ganz geeignet, auch hier einen zu leisten, waere es selbst unfreiwillig; weshalb er ihn pflichtgemaess anzeigte. Und als Hornung erst einmal laut genannt war, zeigte es sich, dass er schon laengst ueberall verdaechtigt war. Er hatte waehrend der Wahlen zahlreiche Einblicke erhalten, war uebrigens aus Netzig und ohne Verwandte, was ihm den Unfug offenbar erleichtert hatte. Hinzu kam sein Verzweiflungskampf um das Recht, weder Schwaemme noch Zahnbuersten zu verkaufen; dieser Kampf verbitterte ihn zusehends, er hatte ihm gewisse hoehnische Aeusserungen entrissen, ueber Herrschaften, die die Schwaemme wohl nicht nur aussen noetig haetten, und bei denen mit Zaehneputzen noch nichts geschehen sei. Er ward angeklagt und gab in mehreren Faellen seine Urheberschaft ohne weiteres zu. In den meisten freilich leugnete er sie um so kraeftiger, aber dafuer gab es Schreibsachverstaendige. Gegenueber der Meinung eines Zeugen wie Heuteufel, der von einer Epidemie sprach und behauptete, ein einzelner sei zu schwach fuer diesen ungeheuren Haufen Mist, standen alle uebrigen Aussagen, stand der oeffentliche Wille. Auf das gluecklichste vertrat ihn Jadassohn, der seit seiner Rueckkehr aus Paris kleinere Ohren hatte und zum Staatsanwalt befoerdert war. Der Erfolg und das Bewusstsein, einwandfrei dazustehen, hatten ihn sogar Maessigung gelehrt; er sah ein, dass Ruecksicht auf das grosse Ganze es gebiete, den Stimmen Gehoer zu schenken, die Hornung fuer nervoes ueberreizt ausgaben. Am bestimmtesten tat dies Diederich, der fuer seinen ungluecklichen Jugendfreund in jeder Weise eintrat. Hornung kam mit einem Aufenthalt im Sanatorium davon, und als er herausdurfte, versah Diederich ihn, wenn er nur Netzig verliess, mit Mitteln, die ihn gegen die Schwaemme und Zahnbuersten fuer einige Zeit wappneten. Auf die Dauer freilich waren sie wohl die Staerkeren, und ein gutes Ende liess sich kaum vorhersagen fuer Gottlieb Hornung.... Natuerlich hoerten, sobald er wohlverwahrt in der Anstalt sass, die Briefe auf. Oder wenigstens liess man sich, wenn noch einer kam, nichts mehr merken, die Affaere war abgetan. Diederich durfte wieder sagen: "Mein Haus ist meine Burg." Die Familie, nicht laenger schmutzigen Eingriffen ausgesetzt, bluehte auf das reinste empor. Nach Gretchen, die 1894 geboren ward, und Horst, von 1895, folgte 1896 Kraft. Diederich, ein gerechter Vater, legte jedem der Kinder, noch bevor es da war, ein Konto an und trug vorerst die Kosten der Ausstattung und der Hebamme ein. Seine Auffassung vom Eheleben war die strengste. Horst kam nicht ohne Muehe zur Welt. Als es vorueber war, erklaerte Diederich seiner Gattin, dass er, vor die Wahl gestellt, sie glatt haette sterben lassen. "So peinlich es mir gewesen waere", setzte er hinzu. "Aber die Rasse ist wichtiger, und fuer meine Soehne bin ich dem Kaiser verantwortlich." Die Frauen waren der Kinder wegen da, Frivolitaeten und Ungehoerigkeiten versagte Diederich ihnen, war aber nicht abgeneigt, ihnen Erhebung und Erholung zu goennen. "Halte dich an die drei grossen G", bedeutete er Guste. "Gott, Gafee und Goeren." Auf dem rotgewuerfelten Tischtuch, mit Reichsadler und Kaiserkrone in den Wuerfeln, lag neben der Kaffeekanne immer die Bibel, und Guste war gehalten, jeden Morgen daraus vorzulesen. Am Sonntag ging man zur Kirche. "Es ist oben erwuenscht", sagte Diederich ernst, wenn Guste sich straeubte. Wie Diederich in der Furcht seines Herrn, hatte Guste in der Furcht des ihren zu leben. Beim Eintritt ins Zimmer war es ihr bewusst, dass dem Gatten der Vortritt gebuehre. Die Kinder wieder mussten ihr selbst die Ehre erweisen, und der Teckel Maenne hatte alle zu Vorgesetzten. Beim Essen dann oblag es Hund und Kindern, sich schweigend zu verhalten; Gustes Sache war es, aus den Stirnfalten des Gatten zu ersehen, ob es geboten sei, dass man ihn ungestoert lasse, oder aber ihm durch Geplauder die Sorgen verscheuche. Gewisse Gerichte wurden nur fuer den Hausherrn aufgetragen, und Diederich warf an guten Tagen ein Stueck davon ueber den Tisch, um herzlich lachend zuzusehn, wer es erwischte, Gretchen, Guste oder Maenne. Sein Nachmittagsschlaf war oefters durch eine Verdauungsstoerung beschwert; Gustes Pflicht erheischte dann, ihm warme Bauchbinden anzulegen. Diederich verhiess ihr, aechzend und schwer beaengstet, dass er sein Testament machen und einen Vormund einsetzen werde. Guste werde kein Geld in die Hand bekommen. "Ich hab' fuer meine Soehne gearbeitet, aber nicht, damit du dich nachher amuesierst!" Guste machte geltend, ihr eigenes Vermoegen sei die Grundlage von allem, aber sie kam schoen an ... Freilich, wenn Guste den Schnupfen hatte, durfte sie nicht erwarten, dass Diederich nun seinerseits ihre Pflege uebernahm. Sie hatte sich dann nach Moeglichkeit von ihm fernzuhalten, denn Diederich war entschlossen, keine Bazillen zu dulden. Die Fabrik betrat er nur mit desinfizierenden Tabletten im Munde; und eines Nachts entstand grosser Laerm, weil die Koechin an Influenza erkrankt war und vierzig Grad Fieber hatte. "Sofort aus dem Hause mit der Schweinerei!" befahl Diederich; und als sie fort war, irrte er noch lange, keimtoetende Fluessigkeiten verspritzend, durch die Wohnung. Am Abend bei der Lektuere des "Lokal-Anzeigers" erklaerte er seiner Gattin immer wieder, dass leben nicht notwendig sei, wohl aber schiffahren - was Guste schon darum einsah, weil auch sie die Kaiserin Friedrich nicht mochte, die uns bekanntlich an England verriet, ganz abgesehen von gewissen haeuslichen Zustaenden in Schloss Friedrichskron, die Guste lebhaft missbilligte. Gegen England brauchten wir eine starke Flotte; es musste unbedingt zerschmettert werden, es war der aergste Feind des Kaisers. Und warum? Man wusste es in Netzig ganz genau: nur weil Seine Majestaet einst in angeregter Laune dem Prinzen von Wales dort, wo es am verlockendsten erschien, einen freundschaftlichen Schlag versetzt hatte. Ausserdem kamen aus England gewisse feine Papiersorten, deren Einfuhr durch einen siegreichen Krieg am sichersten abgestellt worden waere. Ueber die Zeitung hinweg sagte Diederich zu Guste: "So wie ich England hasse, hat nur Friedrich der Grosse dies Volk von Dieben und Haendlern gehasst. Das ist ein Wort Seiner Majestaet, und ich unterschreibe es." Er unterschrieb jedes Wort in jeder Rede des Kaisers, und zwar in der ersten, staerkeren Form, nicht in der abgeschwaechten, die sie am Tage darauf annahmen. Alle diese Kernworte deutschen und zeitgemaessen Wesens - Diederich lebte und webte in ihnen, wie in Ausstrahlungen seiner eigenen Natur, sein Gedaechtnis bewahrte sie, als habe er sie selbst gesprochen. Manchmal hatte er sie wirklich schon gesprochen. Andere untermischte er bei oeffentlichen Gelegenheiten seinen eigenen Erfindungen, und weder er noch ein anderer unterschied, was von ihm kam und was von einem Hoeheren ... "Dies ist suess", sagte Guste, die das Vermischte las. "Der Dreizack gehoert in unsere Faust", behauptete Diederich unbeirrt, indes Guste ein Erlebnis der Kaiserin zum besten gab, das sie tief befriedigte. In Hubertusstock gefiel sich die hohe Frau in einfacher, beinahe buergerlicher Kleidung. Ein Brieftraeger, dem sie sich auf der Landstrasse zu erkennen gab, hatte ihr nicht geglaubt, dass sie es sei, und sie ausgelacht. Nachher war er vernichtet auf die Knie gesunken und hatte eine Mark erhalten. Dies entzueckte auch Diederich - wie es ihm andererseits an das Herz griff, dass der Kaiser am Weihnachtsabend auf die Strasse ging, um mit 57 Mark neugepraegten Geldes den Armen Berlins ein frohes Fest zu bereiten - und wie es ihn ahnungsvoll erschauern liess, dass Seine Majestaet Ehrenbailli des Maltheserordens geworden war. Welten, nie geahnt, erschloss der "Lokal-Anzeiger", und dann wieder brachte er einem die Allerhoechsten Herrschaften gemuetlich nahe. Im Erker dort die dreiviertel lebensgrossen Bronzefiguren der Majestaeten schienen laechelnd naeher zu ruecken, und den Trompeter von Saeckingen, der sie begleitete, hoerte man traulich blasen. "Himmlisch muss es bei Kaisers sein," meinte Guste, "wenn grosse Waesche ist. Sie haben hundert Leute zum Waschen!" Wohingegen Diederich von tiefem Wohlgefallen erfuellt ward durch die Teckel des Kaisers, die vor den Schleppen der Hofdamen keine Achtung zu haben brauchten. Der Plan reifte in ihm, bei seiner naechsten Soiree seinem Maenne volle diesbezuegliche Freiheit zu erteilen. Freilich, schon auf der folgenden Spalte machte ein Telegramm ihm ernste Sorge, weil es noch immer nicht feststand, ob der Kaiser und der Zar sich treffen wuerden. "Wenn es nicht bald kommt," sagte er gewichtig, "muessen wir uns auf alles gefasst machen. Die Weltgeschichte laesst nicht mit sich spassen." Gern hielt er sich laenger bei drohenden Katastrophen auf, denn "die deutsche Seele ist ernst, fast tragisch", stellte er fest. Aber Guste zeigte keine Teilnahme mehr, sie gaehnte immer haeufiger. Unter dem strafenden Blick des Gatten schien sie sich an eine Pflicht zu erinnern, sie machte herausfordernde Schlitzaugen und bedraengte ihn sogar mit ihren Knien. Er wollte noch einen nationalen Gedanken aeussern, da sagte Guste mit ungewohnt strenger Stimme "Quatsch"; Diederich aber, weit entfernt, diesen Uebergriff zu bestrafen, blinzelte sie an, als erwartete er noch mehr ... Da er sie unten zu umspannen versuchte, verscheuchte sie vollends ihre Muedigkeit, und ploetzlich hatte er eine maechtige Ohrfeige - worauf er nichts erwiderte, sondern aufstand und sich schnaufend hinter einen Vorhang drueckte. Und als er wieder in das Licht kam, zeigte es sich, dass seine Augen keineswegs blitzten, sondern voll Angst und dunkeln Verlangens standen ... Dies schien Guste die letzten Bedenken zu nehmen. Sie erhob sich; indes sie in fesselloser Weise mit den Hueften schaukelte, begann sie ihrerseits heftig zu blitzen, und den wurstfoermigen Finger gebieterisch gegen den Boden gestreckt, zischte sie: "Auf die Knie, elender Schklafe!" Und Diederich tat, was sie heischte! In einer unerhoerten und wahnwitzigen Umkehrung aller Gesetze durfte Guste ihm befehlen: "Du sollst meine herrliche Gestalt anbeten!" - und dann auf den Ruecken gelagert, liess er sich von ihr in den Bauch treten. Freilich unterbrach sie sich inmitten dieser Taetigkeit und fragte ploetzlich ohne ihr grausames Pathos und streng sachlich: "Haste genug?" Diederich ruehrte sich nicht; sofort ward Guste wieder ganz Herrin. "Ich bin die Herrin, du bist der Untertan", versicherte sie ausdruecklich. "Aufgestanden! Marsch!" - und sie stiess ihn mit ihren Gruebchenfaeusten vor sich her nach dem ehelichen Schlafgemach. "Freu' dich!" verhiess sie ihm schon, da gelang es Diederich, zu entwischen und das Licht abzudrehen. Im Dunkeln, versagenden Herzens vernahm er, wie Guste dort hinten ihm die wenigst anstaendigen Namen gab, wobei sie freilich schon wieder gaehnte. Etwas spaeter lag sie vielleicht schon und schlief - Diederich aber, noch immer des Aeussersten gewaertig, kroch auf allen Vieren die Estrade hinan und versteckte sich hinter dem bronzenen Kaiser ... Regelmaessig nach solchen naechtlichen Phantasien liess er sich am Morgen das Wirtschaftsbuch vorlegen, und wehe, wenn Gustes Rechnung nicht glatt aufging. Durch ein fuerchterliches Strafgericht in Gegenwart aller Dienstboten setzte Diederich ihrem kurzen Machtduenkel, falls sie noch eine Erinnerung daran bewahrte, ein jaehes Ende. Autoritaet und Sitte triumphierten wieder. Auch sonst war dafuer gesorgt, dass die ehelichen Beziehungen nicht allzusehr zum Vorteil Gustes ausschlugen, denn jeden zweiten, dritten Abend, manchmal noch oefter, ging Diederich fort - zum Stammtisch in den Ratskeller, wie er sagte, aber das stimmte nicht immer ... Am Stammtisch war Diederichs Platz unter einem gotischen Bogen, in dem zu lesen stand: "Je schoener die Kneip', desto schlimmer das Weib, je schlimmer das Weib, desto schoener die Kneip'." Und auch die kernigen alten Sinnsprueche in den uebrigen Bogen raechten einen in wohltuender Weise fuer die Zugestaendnisse, die man, durch die Natur genoetigt, der Frau daheim zuweilen machte. "Wer nicht liebt Wein und Gesang, verdient ein Weib sein Leben lang", oder "Behuet euch Gott vor Schmerz und Wunden, vor boesen Weibern und boesen Hunden". Dagegen las, wer zwischen Jadassohn und Heuteufel die Augen zur Decke erhob: "Friedliche Rast am traulichen Herd, und an der Wand ein schneidiges Schwert. Nach alter Sitt' in deutscher Mitt', kommt trinkt euch aller Sorgen quitt". Was allerseits geschah, ohne Unterschied der Konfession und Partei. Denn auch Cohn und Heuteufel samt ihren naeheren Freunden und Gesinnungsgenossen hatten im Lauf der Zeit sich eingefunden, einer nach dem anderen und ohne viel Aufsehen, weil es eben auf die Dauer niemandem moeglich war, den Erfolg zu bestreiten oder zu uebersehen, der den nationalen Gedanken befluegelte und immer hoeher trug. Das Verhaeltnis Heuteufels zu seinem Schwager Zillich litt nach wie vor unter Misshelligkeiten. Zwischen den Weltanschauungen lagen denn doch unuebersteigbare Schranken, und "in seine religioesen Ueberzeugungen laesst sich der Deutsche nicht hineinreden", wie man auf beiden Seiten feststellte. In der Politik dagegen war bekanntlich jede Ideologie vom Uebel. Seinerzeit im Frankfurter Parlament hatten gewisse hochbedeutende Maenner gesessen, aber es waren noch keine Realpolitiker gewesen, und darum hatten sie nichts als Unsinn gemacht, wie Diederich bemerkte. Uebrigens milde gestimmt durch seine Erfolge, gab er zu, dass das Deutschland der Dichter und Denker vielleicht auch seine Berechtigung gehabt habe. "Aber es war doch nur eine Vorstufe, unsere geistigen Leistungen heute liegen auf dem Gebiet der Industrie und Technik. Der Erfolg beweist." Heuteufel musste es zugeben. Seine Aeusserungen ueber den Kaiser, ueber Wirksamkeit und Bedeutung Seiner Majestaet klangen wesentlich zurueckhaltender als ehedem; bei jedem neuen Auftreten des allerhoechsten Redners stutzte er, versuchte zu noergeln und liess doch erkennen, dass er am liebsten sich einfach angeschlossen haette. Der entschiedene Liberalismus, dies ward nachgerade allgemein anerkannt, konnte nur gewinnen, wenn auch er sich mit der Energie des nationalen Gedankens erfuellte, wenn er positiv mitarbeitete und bei zielbewusstem Hochhalten des freiheitlichen Banners doch den Feinden, die uns den Platz in der Sonne nicht goennten, ein unerbittliches _quos ego_ zurief. Denn nicht nur unser Erbfeind Frankreich erhob immer aufs neue das Haupt: auch die Abrechnung mit den unverschaemten Englaendern rueckte naeher! Die Flotte, fuer deren Ausbau die geniale Propaganda unseres genialen Kaisers unermuedlich wirkte, tat uns bitter not, und unsere Zukunft lag tatsaechlich auf dem Wasser, diese Erkenntnis gewann immer mehr an Boden. Rings um den Stammtisch griff die Idee der Flotte Platz und ward zur lodernden Flamme, die immer neu mit deutschem Wein genaehrt, ihrem Schoepfer huldigte. Die Flotte, diese Schiffe, verblueffende Maschinen buergerlicher Erfindung, die in Betrieb gesetzt, Weltmacht produzierten, genau wie in Gausenfeld gewisse Maschinen ein gewisses "Weltmacht" benanntes Papier produzierten, sie lag Diederich mehr als alles am Herzen, und Cohn wie Heuteufel wurden dem nationalen Gedanken vor allem durch die Flotte gewonnen: Eine Landung in England war der Traum, der unter den gotischen Gewoelben des Ratskellers nebelte. Die Augen funkelten, und die Beschiessung Londons ward verhandelt. Die Beschiessung von Paris war eine Begleiterscheinung und vollendete die Plaene, die Gott mit uns vorhatte. Denn "die christlichen Kanonen tun gute Arbeit", wie Pastor Zillich sagte. Nur Major Kunze bezweifelte dies, er erging sich in den duestersten Voraussagen. Seit er, Kunze, von dem Genossen Fischer besiegt worden war, hielt er jede Niederlage fuer moeglich. Aber er blieb der einzige Noergler. Wer am meisten triumphierte, war Kuehnchen. Die Taten, die der schreckliche kleine Greis einst im grossen Krieg vollfuehrt hatte, jetzt endlich, ein Vierteljahrhundert spaeter, fanden sie ihre wahre Bestaetigung in der allgemeinen Gesinnung. "Die Saat," sagte er, "die wir dunnemals gesaet haben, na nu geht se auf. Dass meine alten Augen das noch sehen duerfen!" - und dann schlief er ein bei seiner dritten Flasche. Im ganzen erfreulich gestaltete sich auch Diederichs Verhaeltnis zu Jadassohn. Die ehemaligen Rivalen, beide gereift und in die Sphaere der gesaettigten Existenzen vorgerueckt, beeintraechtigten einander weder politisch noch am Stammtisch, und auch nicht in jener verschwiegenen Villa, die Diederich an dem Abend der Woche aufsuchte, wo er ohne Gustes Wissen dem Stammtisch fernblieb. Sie lag vor dem Sachsentor, es war die ehemals von Brietzensche Villa, und sie ward bewohnt von einer einzelnen Dame, die selten oeffentlich gesehen ward und dann niemals zu Fuss. In einer Proszeniumsloge der "Walhalla" sass sie zuweilen in grosser Aufmachung, ward allgemein durch die Opernglaeser betrachtet, aber von niemand gegruesst; und ihrerseits verhielt sie sich wie eine Koenigin, die ihr Inkognito wahrt. Natuerlich wusste trotz der Aufmachung alle Welt, das war Kaethchen Zillich, die, in Berlin fuer ihren Beruf vorgebildet, ihn in der von Brietzenschen Villa nunmehr erfolgreich ausuebte. Auch verkannte niemand, dass dieser Tatbestand nicht geeignet schien, das Ansehen des Pastors Zillich zu heben. Die Gemeinde nahm schweres Aergernis, zu schweigen von den Spoettern, die entzueckt waren. Um eine Katastrophe abzuwenden, beantragte der Pastor bei der Polizei die Beseitigung des Uebels, stiess aber auf einen Widerstand, der nur erklaerlich schien, wenn man gewisse Zusammenhaenge annahm zwischen der Villa von Brietzen und den hoechsten Stellen der Stadt. An der irdischen Gerechtigkeit nicht weniger als an der goettlichen verzweifelnd, schwor der Vater, das Amt des Richters selbst zu uebernehmen, und wirklich sollte er eines Nachmittags, als sie noch im Bette lag, die verlorene Tochter einer Zuechtigung unterzogen haben. Nur der Mutter, die ihm, alles ahnend, gefolgt war, verdankte Kaethchen ihr nacktes Leben, wie die Gemeinde behauptete. Der Mutter sagte man eine verwerfliche Schwaeche nach fuer die Tochter in ihrem suendigen Glanz. Was Pastor Zillich betraf, so erklaerte er von der Kanzel herab Kaethchen fuer tot und verfault, wodurch er sich vor dem Einschreiten des Konsistoriums rettete. Mit der Zeit verstaerkte die ihm widerfahrene Pruefung seine Autoritaet ... Diederich seinerseits kannte von den Herren, die an Kaethchens Lebenswandel mit Einlagen beteiligt waren, offiziell nur Jadassohn, obwohl Jadassohn von allen die kleinsten Einlagen machte, Diederich vermutete sogar, gar keine. Jadassohns Beziehungen zu Kaethchen lagen eben, noch von frueher her, als Hypothek auf dem Unternehmen. So nahm Diederich keinen Anstand, die Sorgen, die es ihm machte, mit Jadassohn zu besprechen. Die beiden rueckten am Stammtisch in der Nische zusammen, die die Inschrift trug: "Was einem Mann zur Lust ein minnig Weiblein braet, gar wohl geraet"; und mit der gebotenen Ruecksicht auf Pastor Zillich, der nicht weit davon ueber die christlichen Kanonen handelte, besprachen sie die Angelegenheiten der Villa von Brietzen. Diederich beklagte sich ueber Kaethchens unersaettliche Ansprueche an seine Kasse, von Jadassohn erwartete er einen guenstigen Einfluss auf sie in dieser Beziehung. Aber Jadassohn fragte nur: "Wozu haben Sie sie denn? Sie soll doch Geld kosten?" Und dies war auch wieder richtig. Denn nach seiner ersten kurzen Genugtuung, Kaethchen auf diesem Wege doch noch erworben zu haben, betrachtete Diederich sie nachgerade nur mehr als einen Posten, einen stattlichen Posten auf seinem Reklamekonto. "Meine Stellung," sagte er zu Jadassohn, "erfordert eine grosszuegige Repraesentation. Sonst wuerde ich, offen gestanden, das ganze Geschaeft fallen lassen, denn unter uns, Kaethchen bietet nicht genug." Hier laechelte Jadassohn beredsam, sagte aber nichts. "Ueberhaupt," fuhr Diederich fort, "ist sie dasselbe Genre wie meine Frau, und meine Frau" - er hielt die Hand vor - "ist leistungsfaehiger. Sehen Sie, gegen sein Gemuet kann man nichts machen, nach jedem Abstecher in die Villa von Brietzen kommt es mir vor, als ob ich meiner Frau etwas schulde. Lachen Sie nur, tatsaechlich schenke ich ihr dann immer was. Wenn es ihr nur nicht auffaellt!" Jadassohn lachte mit noch mehr Grund, als Diederich meinte; denn er hatte es schon laengst fuer seine sittliche Pflicht gehalten, Frau Generaldirektor Hessling aufzuklaeren ueber diese Zusammenhaenge. Im Politischen ergab sich fuer Diederich und Jadassohn ein aehnlich erspriessliches Zusammenwirken wie bei Kaethchen; denn gemeinsam beeiferten sie sich, die Stadt von Schlechtgesinnten zu reinigen, besonders von solchen, die die Pest der Majestaetsbeleidigungen weiter verbreiteten. Diederich mit seinen vielfachen Beziehungen machte sie ausfindig, worauf Jadassohn sie ans Messer lieferte. Nach dem Erscheinen des Sanges an Aegir gestaltete sich ihre Taetigkeit besonders fruchtbar. In Diederichs eigenem Hause nannte die Klavierlehrerin, die mit Guste uebte, den Sang an Aegir einen -! In das, was sie gesagt hatte, flog sie selbst ... Wolfgang Buck sogar, der neuerdings wieder in Netzig weilte, erklaerte die Verurteilung fuer durchaus angemessen, denn sie befriedige das monarchische Gefuehl. "Einen Freispruch haette das Volk nicht verstanden", sagte er am Stammtisch. "Die Monarchie ist unter den politischen Regimen eben das, was in der Liebe die strengen und energischen Damen sind. Wer dementsprechend veranlagt ist, verlangt, dass etwas geschieht, und mit Milde ist ihm nicht gedient." Hier erroetete Diederich ... Leider bekundete Buck solche Gesinnungen nur, solange er nuechtern war. Spaeterhin gab er durch seine von frueher her sattsam bekannte Art, die heiligsten Gueter in den Schmutz zu ziehen, Gelegenheit genug, ihn aus jeder anstaendigen Gesellschaft auszuschliessen. Diederich war es, der ihn vor diesem Schicksal bewahrte. Er verteidigte seinen Freund. "Die Herren muessen bedenken, er ist erblich belastet, denn die Familie weist Anzeichen einer schon ziemlich weit vorgeschrittenen Degeneration auf. Andererseits spricht es fuer einen gesunden Kern in ihm, dass das Schauspielerdasein ihn denn doch nicht befriedigt hat und dass er zu seinem Beruf als Rechtsanwalt zurueckgefunden hat." Man erwiderte, es sei verdaechtig, wenn Buck sich ueber seine fast dreijaehrigen Erfahrungen beim Theater so voellig ausschweige. War er ueberhaupt noch satisfaktionsfaehig? Diese Frage konnte Diederich nicht beantworten; es war ein logisch nicht begruendeter, aber tiefsitzender Drang, der ihn dem Sohn des alten Buck immer wieder naeherte. Immer wieder nahm er mit Eifer eine Unterredung auf, die doch jedesmal schroff abbrach, nachdem sie die schaerfsten Gegensaetze blossgelegt hatte. Er fuehrte Buck sogar in sein Heim ein, erlebte dabei aber eine Ueberraschung. Denn wenn Buck anfangs wohl nur einem besonders guten Kognak zuliebe kam, bald kam er sichtlich wegen Emmi. Die beiden verstanden sich ueber Diederich hinweg und in einer Art, die ihn befremdete. Sie fuehrten spitze und scharfe Gespraeche, anscheinend ohne das Gemuet oder die anderen Faktoren, die der Verkehr der Geschlechter normalerweise in Betrieb setzte; und senkten sie die Stimmen und wurden vertraulich, fand Diederich sie vollends unheimlich. Er hatte nur die Wahl, ob er dazwischenfahren und korrekte Verhaeltnisse herstellen oder aber das Zimmer verlassen sollte. Zu seinem eigenen Erstaunen entschied er sich fuer das letztere. "Sie haben beide sozusagen ihre Schicksale gehabt, wenn die Schicksale auch danach waren", sagte er sich mit der Ueberlegenheit, die ihm zukam, und ohne viel darauf zu achten, dass er im Grunde stolz war auf Emmi, stolz, weil Emmi, seine eigene Schwester, fein genug, besonders genug, ja, fragwuerdig genug schien, um sich mit Wolfgang Buck zu verstaendigen. "Wer weiss", dachte er zoegernd, und dann entschlossen: "Warum nicht! Bismarck hat es auch so gemacht, mit Oesterreich. Zuerst niedergeworfen, dann ein Buendnis!" Aus diesen noch dunklen Ueberlegungen heraus widmete Diederich auch dem Vater Wolfgangs wieder ein gewisses Interesse. Der alte Buck, von einem Herzleiden befallen, kam nur mehr selten zum Vorschein, und dann stand er die meiste Zeit vor irgendeinem Schaufenster, scheinbar in die Auslage vertieft, in Wirklichkeit aber einzig bemueht, zu verbergen, dass er nicht atmen konnte. Was dachte er? Wie urteilte er ueber die neue geschaeftliche Bluete Netzigs, den nationalen Aufschwung und ueber die, die jetzt die Macht hatten? War er ueberzeugt und auch innerlich besiegt? Es kam vor, dass Generaldirektor Doktor Hessling, der maechtigste Mann der Buergerschaft, sich heimlich in ein Haustor drueckte, um dann ungesehen hinterdrein zu schleichen hinter diesem einflusslosen, schon halb vergessenen Alten: er auf seiner Hoehe raetselhaft beunruhigt durch einen Sterbenden ... Da der alte Buck seine Hypothekenzinsen nur noch mit Verspaetung zahlte, schlug Diederich dem Sohn vor, er wolle das Haus uebernehmen. Natuerlich duerfe der alte Herr es bewohnen, solange er lebe. Auch die Einrichtung wollte Diederich kaufen und sogleich bezahlen. Wolfgang bestimmte den Vater, anzunehmen. Inzwischen ging der 22. Maerz vorueber, Wilhelm der Grosse war hundert Jahre alt geworden, und sein Denkmal stand noch immer nicht im Volkspark. Die Interpellationen in der Stadtverordnetenversammlung nahmen kein Ende, mehrmals waren unter schweren Kaempfen Nachtragskredite bewilligt und wieder ueberschritten worden. Der schwerste Schlag hatte die Gemeinde getroffen, als Seine Majestaet den hoechstseligen Grossvater als Fussgaenger ablehnten und ein Reiterstandbild befahlen. Diederich, von Ungeduld getrieben, ging des oefteren am Abend in die Meisestrasse, um sich vom Stand der Arbeiten zu ueberzeugen. Es war Mai und peinlich warm noch in der Daemmerung, aber auf dem leeren, neu angepflanzten Areal des Volksparkes ging ein Luftzug. Diederich sann wieder einmal mit gereizten Gefuehlen dem glaenzenden Geschaeft nach, das der Rittergutsbesitzer Herr von Quitzin hier gemacht hatte. Der hatte es bequem gehabt! Grundstuecksgeschaefte waren kein Kunststueck, wenn der Vetter Regierungspraesident war. Die Stadt musste ihm einfach das Ganze abnehmen fuer das Kaiser-Wilhelm-Denkmal und musste zahlen, was er verlangte ... Da tauchten zwei Gestalten auf; Diederich sah rechtzeitig, wer es war und zog sich ins Gebuesch zurueck. "Hier laesst sich atmen", sagte der alte Buck. Sein Sohn erwiderte: "Wenn einem hier nicht die Lust dazu vergeht. Sie haben anderthalb Millionen Schulden gemacht, um dieses Muellager zu schaffen." Und er zeigte auf den unfertigen Aufbau von steinernen Sockeln, Adlern, Rundbaenken, Loewen, Tempeln und Figuren. Die Adler setzten fluegelschlagend ihre Krallen in den noch leeren Sockel, andere Exemplare nisteten wieder auf jenen, die Rundbaenke symmetrisch unterbrechenden Tempeln; dort holten aber auch Loewen zum Sprung aus nach dem Vordergrund, wo ohnehin Aufregung genug herrschte durch flatternde Fahnen und heftig agierende Menschen. Napoleon der Dritte, in der geknickten Haltung von Wilhelmshoehe die Rueckwand des Sockels zierend, als Besiegter hinter dem Triumphwagen, war ueberdies immer in Gefahr, von einem Loewen angefallen zu werden, der gerade hinter ihm, auf der Treppe des Monuments, seinen schlimmsten Buckel machte - wohingegen Bismarck und die anderen Paladine, mitten im Tierkaefig wie zu Hause, vom Fuss des Sockels mit allen Haenden hinauflangten, um mit anzugreifen bei den Taten des noch abwesenden Herrschers. "Wer muesste nun dort oben einhersprengen?" fragte Wolfgang Buck. "Der Alte war nur ein Vorlaeufer. Dies mystisch-heroische Spektakel wird nachher mit Ketten von uns abgesperrt sein, und wir werden zu gaffen haben: was von allem der Endzweck war. Theater, und kein gutes." Nach einer Weile - die Daemmerung graute - sagte der Vater: "Und du, mein Sohn? Auch dir schien es einmal der Endzweck, zu spielen." "Wie meinem ganzen Geschlecht. Mehr koennen wir nicht. Wir sollten uns leicht und klein nehmen heute, es ist die sicherste Haltung angesichts der Zukunft; und ich sage nicht, dass es mehr war als Eitelkeit, weshalb ich die Buehne wieder verlassen habe. Laecherlich, Vater, ich bin gegangen, weil einmal, als ich spielte, ein Polizeipraesident geweint hatte. Aber bedenke auch, ob dies ertraeglich war. Feinheiten letzten Grades, Einsicht in Herzen, hohe Moral, Modernitaet des Intellektes und der Seele stelle ich fuer Menschen dar, die meinesgleichen scheinen, weil sie mir zuwinken und betroffene Gesichter haben. Nachher aber liefern sie Revolutionaere aus und schiessen auf Streikende. Denn mein Polizeipraesident steht fuer alle." Hier wandte Buck sich genau dem Busch zu, der Diederich barg. "Kunst bleibt euch Kunst, und alles Ungestuem des Geistes ruehrt nie an euer Leben. Den Tag, an dem die Meister eurer Kultur dies begriffen haetten wie ich, wuerden sie euch, wie ich, allein lassen mit euren wilden Tieren." Und er zeigte nach den Loewen und Adlern. Auch der Alte sah auf das Denkmal; er sagte: "Sie sind sehr maechtig geworden; aber durch ihre Macht ist in die Welt weder mehr Geist noch mehr Guete gekommen. Also war es umsonst. Auch wir waren scheinbar umsonst da." Er blickte auf den Sohn. "Dennoch duerft ihr ihnen das Feld nicht lassen." Wolfgang seufzte schwer. "Worauf hoffen, Vater? Sie hueten sich, die Dinge auf die Spitze zu treiben, wie jene Privilegierten vor der Revolution. Aus der Geschichte haben sie leider Maessigung gelernt. Ihre soziale Gesetzgebung baut vor und korrumpiert. Sie saettigt das Volk gerade so weit, dass es ihm sich nicht mehr verlohnt, ernstlich zu kaempfen, um Brot, geschweige Freiheit. Wer zeugt noch gegen sie?" Da reckte der Alte sich auf, seine Stimme ward noch einmal klangvoll. "Der Geist der Menschheit", sagte er, und nach einer Pause, da der Junge den Kopf gesenkt hielt: "Du musst ihm glauben, mein Sohn. Wenn die Katastrophe, der sie auszuweichen denken, vorueber sein wird, sei gewiss, die Menschheit wird das, worauf die erste Revolution folgte, nicht scham- und vernunftloser nennen, als die Zustaende, die die unseren waren." Er sagte leise wie aus der Ferne: "Der wuerde nicht gelebt haben, der nur in der Gegenwart lebte." Ploetzlich schien es, als schwankte er. Der Sohn griff rasch hin, und an seinem Arm, zusammengesunken und stockenden Schrittes, verschwand der Alte im Dunkel. Diederich aber, der auf anderen Wegen enteilte, hatte das Gefuehl, aus einem boesen, wenn auch groesstenteils unbegreiflichen Traum zu kommen, worin an den Grundlagen geruettelt worden war. Und trotz dem Unwirklichen, das alles Gehoerte an sich hatte, schien hier tiefer geruettelt worden zu sein, als je der ihm bekannte Umsturz ruettelte. Dem einen dieser beiden waren die Tage gezaehlt, der andere hatte auch nicht viel vor sich, aber Diederich fuehlte, es waere besser gewesen, sie haetten einen gesunden Laerm im Lande geschlagen, als dass sie hier im Dunkeln diese Dinge fluesterten, die doch nur von Geist und Zukunft handelten. In der Gegenwart gab es freilich greifbarere Angelegenheiten. Gemeinsam mit dem Schoepfer des Denkmals entwarf Diederich das kuenstlerische Arrangement fuer die Feier der Enthuellung - wobei der Schoepfer mehr Entgegenkommen bewies, als man von ihm erwartet haben wuerde. Ueberhaupt kehrte er bis jetzt nur die guten Seiten seines Berufes hervor, naemlich Genie und vornehme Gesinnung, waehrend er sich im uebrigen durchaus korrekt und geschaeftstuechtig zeigte. Der junge Mann, ein Neffe des Buergermeisters Doktor Scheffelweis, lieferte ein Beispiel dafuer, dass es, veralteter Vorurteile ungeachtet, ueberall Anstaendigkeit gibt, und dass noch kein Grund zum Verzweifeln ist, wenn ein junger Mensch fuer ein Brotstudium zu faul ist und Kuenstler wird. Als er das erstemal von Berlin nach Netzig zurueckkehrte, trug er noch eine Samtjacke und zog der Familie nur Unannehmlichkeiten zu; aber bei seinem zweiten Besuch besass er schon einen Zylinder, und nicht lange, so ward er von Seiner Majestaet entdeckt und durfte fuer die Siegesallee das wohlgetroffene Bildnis des Markgrafen Hatto des Gewaltigen schaffen, nebst den Bildnissen seiner beiden bedeutendsten Zeitgenossen, des Moenches Tassilo, der an einem Tage hundert Liter Bier trinken konnte, und des Ritters Klitzenzitz, der die Berliner robotten lehrte, wenn sie ihn dann auch haengten. Auf die Verdienste des Ritters Klitzenzitz hatten Seine Majestaet den Oberbuergermeister noch besonders aufmerksam gemacht, was wieder guenstig zurueckgewirkt hatte auf die Karriere des Bildhauers. Man konnte nicht Zuvorkommenheit genug haben fuer einen Mann, auf dem ein unmittelbarer Strahl der Gnadensonne lag; Diederich stellte ihm sein Haus zur Verfuegung, er mietete ihm auch das Reitpferd, das der Kuenstler brauchte, um seine Kraefte spielen zu lassen - und welche Aussichten, als der beruehmte Gast die ersten Zeichenversuche des kleinen Horst vielversprechend nannte! Diederich bestimmte stehenden Fusses Horst der Kunst, dieser so zeitgemaessen Laufbahn. Wulckow, der keinen Sinn fuer die Kunst hatte und sich mit dem Guenstling Seiner Majestaet nicht zu stellen wusste, bekam vom Denkmalskomitee die Ehrengabe von 2000 Mark, auf die er als Ehrenvorsitzender das Recht hatte; die bei der Enthuellung zu haltende Festrede aber uebertrug das Komitee seinem ordentlichen Vorsitzenden, dem geistigen Schoepfer des Denkmals und Begruender der nationalen Bewegung, die zu seiner Errichtung gefuehrt hatte, Herrn Stadtverordneten Generaldirektor Doktor Hessling, bravo! Diederich, bewegt und geschwellt, sah sich am Fusse neuer Erhoehungen. Der Oberpraesident selbst ward erwartet, vor der hohen Exzellenz sollte Diederich reden, welche Folgen versprach das! Wulckow freilich schickte sich an, sie zu hintertreiben; gereizt, weil ausgeschaltet, weigerte er sich sogar, auf der Tribuene der offiziellen Damen auch Guste zuzulassen. Diederich hatte dieserhalb mit ihm einen Auftritt, der erregt verlief, aber ohne Ergebnis blieb. Heftig schnaufend kehrte er zu Guste heim. "Es bleibt dabei, du sollst keine offizielle Dame sein. Man wird ja sehen, wer offizieller ist, du oder er! Er soll dich noch bitten! Ich hab' ihn Gott sei Dank nicht mehr noetig, aber er vielleicht mich." - Und so kam es, denn als das naechste Heft der "Woche" erschien, was brachte es ausser den gewohnten Kaiserbildern? Zwei Portraetaufnahmen, die eine den Schoepfer des Netziger Kaiser-Wilhelm-Denkmals darstellend, wie er gerade an seinem Werk den letzten Hammerschlag tat, die andere aber den Vorsitzenden des Komitees und seine Gattin, Diederich samt Guste. Von Wulckow nichts - was allgemein bemerkt und als Zeichen angesehen ward, dass seine Stellung erschuettert sei. Er selbst musste es fuehlen, denn er tat Schritte, um doch noch in die "Woche" zu kommen. Er suchte Diederich auf, aber Diederich liess sich verleugnen. Der Kuenstler seinerseits brauchte Ausfluechte. Da geschah es tatsaechlich, dass Wulckow auf der Strasse an Guste herantrat. Die Geschichte mit dem Platz bei den offiziellen Damen sei ein Missverstaendnis ... "Schoen hat er gemacht wie unser Maenne", berichtete Guste. "Aber nun gerade nicht!" entschied Diederich, und er nahm keinen Anstand, die Geschichte umherzuerzaehlen. "Soll man sich Zwang antun," sagte er zu Wolfgang Buck, "wo der Mann doch geliefert ist? Herr Oberst von Haffke gibt ihn auch schon auf." Kuehn setzte er hinzu: "Jetzt sieht er, es gibt noch andere Maechte. Wulckow hat es zu seinem Schaden nicht verstanden, sich beizeiten den modernen Lebensbedingungen einer grosszuegigen Oeffentlichkeit anzupassen, die dem heutigen Kurs ihren Stempel aufdruecken." - "Absolutismus, gemildert durch Reklamesucht", ergaenzte Buck. Angesichts des Wulckowschen Niederganges fand Diederich jenen Grundstueckshandel, der ihn selbst so sehr benachteiligt hatte, immer anstoessiger. Seine Entruestung nahm einen solchen Umfang an, dass der Besuch, den gerade jetzt der Reichstagsabgeordnete Fischer in Netzig machte, fuer Diederich zur wahrhaft befreienden Gelegenheit ward. Parlamentarismus und Immunitaet hatten doch ihr Gutes! Denn Napoleon Fischer stellte sich umgehend im Reichstag hin und enthuellte. Er enthuellte, ohne dass ihm das geringste geschehen konnte, die Schiebungen des Regierungspraesidenten von Wulckow in Netzig, seinen Riesengewinn am Grundstueck des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, der nach Napoleon Fischers Behauptung von der Stadt erpresst war, und das Ehrengeschenk von angeblich 5000 Mark, dem er den Titel "Schmiergeld" gab. Der Zeitung zufolge bemaechtigte hier der Volksvertreter sich ungeheure Erregung. Freilich galt sie nicht Wulckow, sondern dem Enthueller. Wuetend verlangte man Beweise und Zeugen; Diederich zitterte, in der naechsten Zeile konnte sein Name kommen. Zum Glueck kam er nicht, Napoleon Fischer blieb sich der Pflicht seines Amtes bewusst. Statt dessen redete der Minister, er ueberliess den unerhoerten, leider unter dem Schutze der Immunitaet begangenen Angriff auf einen Abwesenden, der sich nicht verteidigen konnte, dem Urteil des Hauses. Das Haus urteilte, indem es dem Herrn Minister Beifall klatschte. Parlamentarisch war der Fall erledigt, es eruebrigte nur noch, dass auch die Presse ihren Abscheu aeusserte und, soweit sie nicht einwandfrei gesinnt war, ganz leicht dabei mit dem Auge zwinkerte. Mehrere sozialdemokratische Blaetter, die die Vorsicht ausser acht gelassen hatten, mussten ihren verantwortlichen Redakteur den Gerichten ausliefern, so auch die Netziger "Volksstimme". Diederich benutzte diesen Anlass, um zwischen sich und denen, die an dem Herrn Regierungspraesidenten hatten zweifeln koennen, glatt das Tischtuch zu zerschneiden. Er und Guste machten Besuch bei Wulckows. "Ich weiss aus erster Quelle," sagte er nachher, "dem Mann ist die groesste Zukunft gewiss. Er war neulich auf der Jagd mit Majestaet und hat einen grossartigen Witz gerissen." Acht Tage spaeter brachte die "Woche" ein ganzseitiges Bildnis, Glatze und Bart auf der einen Haelfte, ein Bauch auf der anderen, und dazu die Unterschrift: "Regierungspraesident von Wulckow, der geistige Schoepfer des Netziger Kaiser-Wilhelm-Denkmals, gegen den kuerzlich ein allgemein als empoerend empfundener Angriff im Reichstag erfolgte und dessen Ernennung zum Oberpraesidenten bevorsteht" ... Das Bild des Generaldirektors Hessling mit Frau hatte nur eine Viertelseite eingenommen. Diederich ueberzeugte sich, dass der gebuehrende Abstand wiederhergestellt war. Die Macht blieb, auch unter den modernen Lebensbedingungen einer grosszuegigen Oeffentlichkeit, unangreifbar wie je - was ihn trotz allem tief befriedigte. Er ward hierdurch innerlich auf das guenstigste vorbereitet fuer seine Festrede. Sie war entstanden in den ehrgeizigen Gesichten vom Schlaf gemiedener Naechte und bei regem Gedankenaustausch mit Wolfgang Buck und besonders mit Kaethchen Zillich, die fuer die Groesse des kommenden Ereignisses ein merkwuerdig klares Verstaendnis zeigte. Am Schicksalstage, als Diederich, das Herz klopfend gegen die Niederschrift seiner Rede, um halb elf mit seiner Gattin beim Festplatz anfuhr, bot der Platz einen noch wenig belebten, aber um so besser geordneten Anblick. Vor allem, der Militaerkordon war schon gezogen! - und gelangte man auch nur nach Gewaehrung aller Garantien hindurch, so lag doch eben hierin eine feierliche Erhebung angesichts des nicht privilegierten Volkes, das hinter unseren Soldaten und am Fuss einer grossen schwarzen Brandmauer in der Sonne die schwitzenden Haelse reckte. Die Tribuenen, links und rechts von den langen weissen Tuechern, hinter denen man Wilhelm den Grossen vermuten durfte, empfingen den Schatten ihrer Zeltdaecher sowie zahlreicher Fahnen. Links die Herren Offiziere waren, wie Diederich feststellte, durch ihre ins Blut uebergegangene Disziplin befaehigt, sich und ihre Damen ohne fremde Hilfe einzurichten; alle Strenge der polizeilichen Ueberwachung war nach rechts verlegt, wo das Zivil sich um die Sitze balgte. Auch Guste gab sich nicht zufrieden mit dem ihren, einzig das offizielle Festzelt gegenueber dem Denkmal schien ihr wuerdig, sie aufzunehmen, sie war eine offizielle Dame, Wulckow hatte es anerkannt. Diederich musste hin mit ihr, wenn er kein Feigling war, aber natuerlich ward sein tollkuehner Angriff so nachdruecklich zurueckgewiesen, wie er es vorausgesehen hatte. Der Form wegen und damit Guste nicht an ihm zweifelte, verwahrte er sich gegen den Ton des Polizeileutnants und waere beinahe verhaftet worden. Sein Kronenorden vierter Klasse, seine schwarzweissrote Schaerpe und die Rede, die er vorzeigte, retteten ihn gerade noch, konnten aber keineswegs, weder vor der Welt noch vor ihm selbst, als vollwertiger Ersatz gelten fuer die Uniform. Sie, die einzige wirkliche Ehre, gebrach ihm nun einmal, und Diederich musste auch hier wieder bemerken, dass man ohne Uniform, trotz sonstiger Erstklassigkeit, doch mit schlechtem Gewissen durchs Leben ging. Im Zustand der Aufloesung trat das Ehepaar Hessling seinen allseitig bemerkten Rueckzug an, Guste blaeulich geschwollen in ihren Federn, Spitzen und Brillanten. Diederich schnaufend und nach Kraeften den Bauch mit der Schaerpe vorgestreckt, als breitete er die Nationalfarben ueber seine Niederlage. So mussten sie hindurch zwischen dem Kriegerverein, der, Eichenkraenze um die Zylinderhuete, unterhalb der Militaertribuene stand, an seiner Spitze Kuehnchen als Landwehrleutnant, und den Ehrenjungfrauen drueben, weiss mit schwarzweissroten Schaerpen und befehligt von Pastor Zillich im Talar. Nun sie aber anlangten, wer sass, in der Haltung einer Koenigin, auf Gustes Stuhl? Man war starr: Kaethchen Zillich. Hier fuehlte Diederich sich denn doch bemuessigt, seinerseits ein Machtwort zu sprechen. "Die Dame hat sich geirrt, der Platz ist nicht fuer die Dame", sagte er, keineswegs zu Kaethchen Zillich, die er fuer ebenso fremd wie zweideutig zu halten schien, sondern zu dem Aufsichtsbeamten - und haetten ihm auch nicht die menschlichen Laute ringsum recht gegeben, Diederich stand hier fuer die stummen Gewalten von Ordnung, Sitte und Gesetz, eher waere die Tribuene eingestuerzt, als dass Kaethchen Zillich auf ihr verblieb ... Dennoch geschah das Ausserordentliche, dass der Beamte unter Kaethchens ironischem Laecheln die Achseln zuckte, und selbst der Schutzmann, den Diederich anrief, gab nur einen weiteren unbegreiflichen Stuetzpunkt ab fuer den Uebergriff der Unmoral. Diederich, betaeubt vor einer Welt, deren Betrieb gestoert schien, liess es geschehen, dass Guste abgeschoben ward nach einer Sitzreihe ganz oben, wobei sie mit Kaethchen Zillich einige die Gegensaetze betonende Worte wechselte. Der Meinungsaustausch griff schon auf Unbeteiligte ueber und drohte auszuarten: da schmetterte Musik los, der Einzugsmarsch der Gaeste auf der Wartburg, und wirklich bezogen sie das offizielle Zelt, voran Wulckow, unverkennbar trotz seiner roten Husarenuniform, zwischen einem Herrn in Frack und Ordensstern und einem hohen General. War es moeglich? Noch zwei hohe Generale! Und ihre Adjutanten, Uniformen in allen Farben, Sternenblitzen und ein Wuchs! "Wer ist der Gelbe, der Lange?" forschte Guste innig. "Ist das ein schoener Mann!" - "Wollen Sie mich gefaelligst nicht treten!" verlangte Diederich, denn auch sein Nachbar war aufgesprungen, alle verrenkten sich, fieberten und schwelgten. "Sieh sie dir an, Guste! Emmi ist eine Gans, dass sie nicht mitwollte. Das ist das einzige, erstklassige Theater, es ist das Hoechste, da kann man nichts machen!" - "Aber der mit den gelben Aufschlaegen!" schwaermte Guste. "Der Schlanke! Der muss ein echter Aristokrat sein, das seh' ich gleich." Diederich lachte wolluestig. "Da ist ueberhaupt keiner dabei, der nicht ein echter Aristokrat ist, darauf kannst du Gift nehmen. Wenn ich dir sage, ein Fluegeladjutant Seiner Majestaet ist hier!" - "Der Gelbe!" - "Persoenlich hier!" Man suchte sich zurecht. "Der Fluegeladjutant! Zwei Divisionsgenerale, Donnerwetter!" Und die schneidige Anmut der Begruessungen; sogar der Buergermeister Doktor Scheffelweis ward aus seinem bescheidenen Hintergrund gezogen und durfte in seiner Train-Reserveleutnantsuniform stramm stehen vor seinen hohen Vorgesetzten. Herr von Quitzin als Ulan besichtigte durch sein Monokel den Grund und Boden der Veranstaltung, der voruebergehend ihm selbst gehoert hatte. Wulckow aber, der rote Husar, brachte die volle Bedeutung eines Regierungspraesidenten erst jetzt zur Geltung, wo er salutierend das gewaltige, von Schnueren umrahmte Profil seiner unteren Koerperteile hervorkehrte. "Das sind die Saeulen unserer Macht!" rief Diederich in die wuchtigen Klaenge des Einzugsmarsches. "Solange wir solche Herren haben, werden wir der Schrecken der ganzen Welt sein!" Und voll ueberwaeltigenden Dranges, in der Meinung, seine Stunde sei da, stuerzte er hinunter, nach dem Rednerpodium. Aber der Schutzmann, der es bewachte, trat ihm entgegen. "Nee, nee, Sie komm' noch nich'ran", sagte der Schutzmann. Jaeh in seinem Schwunge gehemmt, stiess Diederich gegen einen Aufsichtsbeamten, der ihm nachgesetzt hatte: derselbe wie vorhin, ein Magistratsdiener, der ihm versicherte, er wisse wohl, der Platz der Dame mit den gelben Haaren gehoere dem Herrn Stadtverordneten, "aber auf hoeheren Befehl hat ihn die Dame gekriegt". Das weitere verriet der Mann in ersterbendem Fluesterton, und Diederich entliess ihn mit einer Bewegung, die sagte: "Dann allerdings." Der Fluegeladjutant Seiner Majestaet! Dann allerdings! Diederich ueberlegte, ob es nicht geboten sei, umzukehren und Kaethchen Zillich oeffentlich seine Huldigung zu entbieten. Er kam nicht mehr dazu, Oberst von Haffke kommandierte der Fahnenkompagnie Ruehrt euch, und auch Kuehnchen liess seine Krieger sich ruehren; hinter dem Festzelt intonierte die Regimentsmusik: Vortreten zum Beten. Dies geschah, sowohl von seiten der Ehrenjungfrauen wie des Kriegervereins. Kuehnchen in seiner historischen Landwehruniform, die ausser vom Eisernen Kreuz von einem ruhmreichen Flicken geziert ward - denn hier war eine franzoesische Kugel hindurchgegangen, traf inmitten des Gelaendes auf Pastor Zillich in seinem Talar - auch die Fahnenkompagnie fand sich ein, und man gab unter dem Vortritt Zillichs dem alten Alliierten die Ehre. Auf der Ziviltribuene ward das Publikum von den Beamten gehalten, sich zu erheben, die Herren Offiziere taten es von selbst. Ueberdies stimmte die Kapelle "Ein' feste Burg" an. Zillich schien trotzdem noch irgend etwas vorzuhaben, aber der Oberpraesident, offenbar in der Annahme, dass der alte Alliierte nun genug habe, liess sich, gelblichen Gesichts, auf seinen Sessel nieder, rechts von ihm der bluehende Fluegeladjutant, links die Divisionsgenerale. Als die ganze Versammlung im offiziellen Zelt nach den ihr innewohnenden Gesetzen gruppiert war, sah man den Regierungspraesidenten von Wulckow einen Wink erteilen, infolgedessen ein Schutzmann sich in Bewegung setzte. Er begab sich zu seinem Kollegen, der das Rednerpodium bewachte, worauf dieser das Wort an Diederich richtete. "Na, nu komm Se man 'ran", sagte der Schutzmann. Diederich gab acht, dass er beim Hinaufsteigen nicht stolperte, denn die Beine waren ihm ploetzlich weich geworden, auch sah er verschwommen. Nach einigem Schnaufen unterschied er im kahlen Umkreis ein Baeumchen, das keine Blaetter hatte, aber mit schwarzweissroten Blueten aus Papier uebersaet war. Der Anblick des Baeumchens gab ihm Gedaechtnis und Kraft zurueck; er begann. "Eure Exzellenzen! Hoechste, hohe und geehrte Herren! Hundert Jahre sind es, dass der grosse Kaiser, dessen Denkmal der Enthuellung harrt durch den Vertreter Seiner Majestaet, uns und dem Vaterlande geschenkt ward; gleichzeitig aber - das macht diese Stunde noch bedeutsamer - ist fast ein Jahrzehnt vergangen, seit sein grosser Enkel den Thron bestiegen hat! Wie sollten wir da nicht vor allem auf die grosse Zeit, die wir selbst miterleben durften, einen stolzen und dankbaren Rueckblick werfen." Diederich warf ihn. Er feierte abwechselnd den beispiellosen Aufschwung der Wirtschaft und des nationalen Gedankens. Laengere Zeit verweilte er beim Ozean. "Der Ozean ist unentbehrlich fuer Deutschlands Groesse. Der Ozean beweist uns, dass auf ihm und jenseits von ihm ohne Deutschland und ohne den Deutschen Kaiser keine Entscheidung mehr fallen darf, denn das Weltgeschaeft ist heute das Hauptgeschaeft!" Aber nicht nur vom geschaeftlichen Standpunkt, noch mehr geistig und sittlich war der Aufschwung ein beispielloser zu nennen. Wie sah es denn frueher aus mit uns? Diederich entwarf ein wenig schmeichelhaftes Bild des aelteren Geschlechts, das durch eine einseitige humanitaere Bildung zu zuchtlosen Anschauungen verfuehrt, in nationaler Hinsicht noch keinen Komment gehabt hatte. Wenn das jetzt gruendlich anders geworden war, wenn wir, im berechtigten Selbstgefuehl, das tuechtigste Volk Europas und der Welt zu sein, von Noerglern und Elenden abgesehen, nur noch eine einzige nationale Partei bildeten, wem verdankten wir es? Allein Seiner Majestaet, antwortete Diederich. "Er hat den Buerger aus dem Schlummer geruettelt, sein erhabenes Beispiel hat uns zu dem gemacht, was wir sind!" - wobei Diederich sich auf die Brust schlug. "Seine Persoenlichkeit, seine einzige, unvergleichliche Persoenlichkeit ist stark genug, dass wir allesamt uns efeuartig an ihr emporranken duerfen!" rief er aus, obwohl es nicht in seinem Entwurf stand. "Was Seine Majestaet der Kaiser zum Wohl des deutschen Volkes beschliesst, dabei wollen wir ihm jubelnd behilflich sein, ob wir nun edel sind oder unfrei. Auch der einfache Mann aus der Werkstatt ist willkommen!" fuegte er wieder aus dem Stegreif hinzu, jaeh inspiriert durch den Geruch des schwitzenden Volkes hinter dem Militaerkordon; denn der Wind, der aufkam, trug ihn her. "In staunender Weise ertuechtigt, voll hoher sittlicher Kraft zu positiver Betaetigung, und in unserer blanken Wehr der Schrecken aller Feinde, die uns neidisch umdrohen, so sind wir die Elite unter den Nationen und bezeichnen eine zum ersten Male erreichte Hoehe germanischer Herrenkultur, die bestimmt niemals und von niemandem, er sei wer er sei, wird ueberboten werden koennen!" Hier sah man den Oberpraesidenten mit dem Kopf nicken, indes der Fluegeladjutant die Haende gegeneinander bewegte: da brachen die Tribuenen in Beifall aus. Bei den Zivilisten wehten Taschentuecher, Guste liess es im Wind flattern, und, trotz der Unstimmigkeit von vorhin, auch Kaethchen Zillich. Diederich, im Herzen leicht wie die wehenden Taschentuecher, nahm seinen hohen Flug wieder auf. "Eine solche, nie dagewesene Bluete aber erreicht ein Herrenvolk nicht in einem schlaffen, faulen Frieden: nein, sondern unser alter Alliierter hat es fuer notwendig gehalten, das deutsche Gold im Feuer zu bewahren. Durch den Schmelzofen von Jena und Tilsit haben wir hindurchgemusst, und schliesslich ist es uns doch gelungen, siegreich ueberall unsere Fahnen aufzupflanzen und auf dem Schlachtfelde die deutsche Kaiserkrone zu schmieden!" Und er erinnerte an das pruefungsreiche Leben Wilhelms des Grossen, woraus wir, wie Diederich feststellte, erkannten, dass der Weltenschoepfer das Volk im Auge behaelt, das er sich erwaehlt hat, und sich auch das entsprechende Instrument baut. Der grosse Kaiser seinerseits hatte sich hierueber niemals Irrtuemern hingegeben, dies ward besonders deutlich in dem grossen historischen Augenblick, wo er als Koenig von Gottes Gnaden, das Zepter in der einen und das Reichsschwert in der anderen Hand, nur Gott die Ehre gab und von ihm die Krone nahm. In erhabenem Pflichtgefuehl hatte er es weit von sich gewiesen, dem Volk die Ehre zu geben und vom Volk die Krone zu nehmen, und nicht zurueckgeschreckt war er vor der furchtbaren Verantwortung gegenueber Gott allein, von der kein Minister, kein Parlament ihn hatte entbinden koennen! Diederichs Stimme bebte ergriffen. "Dies erkennt das Volk denn auch an, indem es die Persoenlichkeit des dahingegangenen Kaisers geradezu vergoettert. Hat er doch Erfolg gehabt; und wo der Erfolg ist, da ist Gott! Im Mittelalter waere Wilhelm der Grosse heilig gesprochen worden. Heute setzen wir ihm ein erstklassiges Denkmal!" Wieder nickte der Oberpraesident und loeste damit wieder ungestueme Zustimmung aus. Die Sonne war fort, es wehte kaelter; und als sei er angeregt durch den verduesterten Himmel, ging Diederich zu einer tiefernsten Frage ueber. "Wer hat sich ihm nun in den Weg gestellt, vor seinem hohen Ziel? Wer war der Feind des grossen Kaisers und seines kaisertreuen Volkes? Der von ihm gluecklich zerschmetterte Napoleon hatte seine Krone nicht von Gott, sondern vom Volk, daher! Das gibt dem Richterspruch der Geschichte erst seinen ewigen, ueberwaeltigenden Sinn!" Hier unternahm Diederich es, zu malen, wie es in dem demokratisch verseuchten, daher von Gott verlassenen Reich Napoleons des Dritten ausgesehen habe. Der in leerer Religiositaet versteckte krasse Materialismus hatte den unbedenklichsten Geschaeftssinn grossgezogen, Missachtung des Geistes schloss ihr natuerliches Buendnis mit niederer Genussgier. Der Nerv der Oeffentlichkeit war Reklamesucht, und jeden Augenblick schlug sie um in Verfolgungssucht. Im Aeussern nur auf das Prestige gestellt, im Innern nur auf die Polizei, ohne andern Glauben als die Gewalt, trachtete man nach nichts als nach Theaterwirkung, trieb ruhmredigen Pomp mit der vergangenen Heldenepoche, und der einzige Gipfel, den man wirklich erreichte, war der des Chauvinismus ... "Von all dem wissen wir nichts!" rief Diederich und reckte die Hand gegen den Zeugen dort oben. "Darum kann es mit uns nie und nimmer das Ende mit Schrecken nehmen, das dem Kaiserreich unseres Erbfeindes vorbehalten war!" An dieser Stelle blitzte es: zwischen dem Militaerkordon und der Brandmauer, in der Gegend, wo das Volk zu vermuten war, durchzuckte es grell die schwarze Wolke, und ein Donnerschlag folgte, der entschieden zu weit ging. Die Herren im offiziellen Zelt bekamen missbilligende Mienen, und der Oberpraesident hatte gezuckt. Auf der Offizierstribuene litt selbstverstaendlich die Haltung nicht im geringsten, beim Zivil machte sich immerhin eine gewisse Unruhe merklich. Diederich brachte das Gekreisch zum Verstummen, denn er rief, gleichfalls donnernd: "Unser alter Alliierter bezeugt es! Wir sind nicht so! Wir sind ernst, treu und wahr! Deutsch sein, heisst eine Sache um ihrer selbst willen tun! Wer von uns haette je aus seiner Gesinnung ein Geschaeft gemacht? Wo gar waeren die bestechlichen Beamten? Biederkeit des Mannes eint hier sich weiblicher Reine, denn das Weibliche zieht uns hinan, nicht ist es uns Werkzeug unedlen Vergnuegens. Das strahlende Bild echt deutschen Wesens aber erhebt sich auf dem Boden des Christentums, und das ist der einzig richtige Boden, denn jede heidnische Kultur, mag sie noch so schoen und herrlich sein, wird bei der ersten Katastrophe erliegen; und die Seele deutschen Wesens ist die Verehrung der Macht, der ueberlieferten und von Gott geweihten Macht, gegen die man nichts machen kann. Darum sollen wir nach wie vor die hoechste Pflicht in der Verteidigung des Vaterlandes sehen, die hoechste Ehre im Rock des Koenigs und die hoechste Arbeit im Waffenhandwerk!" Der Donner grollte, wenn auch eingeschuechtert, wie es schien, durch Diederichs immer gewaltigere Stimme; dagegen fielen Tropfen, die man einzeln hoerte, so schwer waren sie. "Aus dem Lande des Erbfeindes," schrie Diederich, "waelzt sich immer wieder die Schlammflut der Demokratie her, und nur deutsche Mannhaftigkeit und deutscher Idealismus sind der Damm, der sich ihr entgegenstellt. Die vaterlandslosen Feinde der goettlichen Weltordnung aber, die unsere staatliche Ordnung untergraben wollen, die sind auszurotten bis auf den letzten Stumpf, damit, wenn wir dereinst zum himmlischen Appell berufen werden, dass dann ein jeder mit gutem Gewissen vor seinen Gott und seinen alten Kaiser treten kann, und wenn er gefragt wird, ob er aus ganzem Herzen fuer des Reiches Wohl mitgearbeitet habe, er an seine Brust schlagen und offen sagen darf: Ja!" Wobei Diederich sich einen solchen Schlag auf die Brust versetzte, dass ihm die Luft ausblieb. Die notgedrungene Pause, die er eintreten liess, benutzte die Ziviltribuene, um durch Unruhe zu bekunden, dass sie seine Rede fuer beendet halte; denn das Gewitter stand jetzt genau ueber den Koepfen der Festversammlung, und im schwefelgelben Licht, einzeln, langsam und als warnten sie, klopften immerfort diese eigrossen Regentropfen ... Diederich hatte wieder Luft. "Wenn jetzt die Huelle faellt," begann er mit neuem Schwung, "wenn zum Gruss die Fahnen und Standarten sich neigen, die Degen sich senken und Bajonette im Praesentiergriff blitzen -" Da krachte es im Himmel so ungeheuerlich, dass Diederich sich duckte und, bevor er es sich versah, unter seinem Pult hockte. Zum Glueck kam er wieder hervor, ohne dass sein Verschwinden bemerkt worden waere, denn allen war es aehnlich ergangen. Kaum dass noch jemand hoerte, wie Diederich Seine Exzellenz den Herrn Oberpraesidenten bat, er moege geruhen zu befehlen, dass die Huelle falle. Immerhin trat der Oberpraesident vor das offizielle Zelt hinaus, er war gelber als es seine Natur war, das Funkeln seines Sterns war erloschen, und er sagte schwach: "Im Namen Seiner Majestaet befehle ich: die Huelle falle" - woraus sie fiel. Auch ertoente die Wacht am Rhein. Und der Anblick Wilhelms des Grossen, wie er durch die Luft ritt, in der Haltung eines Familienvaters, aber umringt von allen Furchtbarkeiten der Macht, staehlte die Untertanen noch einmal gegen die Drohungen von oben, das Kaiserhoch des Oberpraesidenten fand lebhaften Widerhall. Freilich, die Klaenge von Heil dir im Siegerkranz gaben Seiner Exzellenz das Zeichen, dass sie sich nun bis an den Fuss des Denkmals zu begeben, es zu besichtigen und den Schoepfer, der schon wartete, durch eine Anrede auszuzeichnen hatten. Jeder begriff es, dass der hohe Herr zweifelnd den Blick zum Himmel richtete; aber, wie nicht anders zu erwarten stand, siegte sein Pflichtgefuehl, und siegte um so glaenzender, als er der einzige Herr im Frack war unter so vielen tapferen Militaers. Er wagte sich kuehn hinaus, hin ging er unter den grossen langsamen Tropfen, und mit ihm Ulanen, Kuerassiere, Husaren und Train ... Schon war die Inschrift "Wilhelm der Grosse" zur Kenntnis genommen worden, der Schoepfer, durch eine Anrede ausgezeichnet, bekam seinen Orden, und gerade sollte auch der geistige Schoepfer Hessling vorgestellt und geschmueckt werden, da platzte der Himmel. Er platzte ganz und auf einmal, mit einer Heftigkeit, die einem lange verhaltenen Ausbruch glich. Bevor noch die Herren sich umgedreht hatten, standen sie im Wasser bis an die Knoechel, Seiner Exzellenz lief es aus Aermeln und Hosen. Die Tribuenen verschwanden hinter Stuerzen Wassers, wie auf fern wogendem Meer erkannte man, dass die Zeltdaecher sich gesenkt hatten unter der Wucht des Wolkenbruches, in ihren nassen Umschlingungen waelzten links und rechts sich schreiende Massen. Die Herren Offiziere machten gegen die Elemente von der blanken Waffe Gebrauch, durch Schnitte in das Segeltuch bahnten sie sich den Ausweg. Das Zivil gelangte nur als graue Wickelschlange hinab, die mit wilden Zuckungen im ueberschwemmten Gelaende badete. Unter solchen Umstaenden sah der Oberpraesident es ein, dass der weitere Verlauf des Festprogramms aus Zweckmaessigkeitsgruenden zu unterbleiben habe. Blitzeumlodert und wasserspritzend wie ein Springbrunnen, trat er einen beschleunigten Rueckzug an, und ihm nach der Fluegeladjutant, die beiden Divisionsgenerale, Dragoner, Husaren, Ulanen und Train. Unterwegs erinnerten Seine Exzellenz sich des noch immer an ihrem Finger haengenden Ordens fuer den geistigen Schoepfer, und pflichttreu bis zum Aeussersten, aber bestrebt, jeden Aufenthalt zu vermeiden, haendigten sie ihn, laufend und wasserspritzend, dem Praesidenten von Wulckow aus. Wulckow seinerseits begegnete einem Schutzmann, der den Ereignissen noch standhielt, und betraute ihn mit der Uebergabe der Allerhoechsten Auszeichnung, worauf der Schutzmann durch Sturm und Grausen irrte, auf der Suche nach Diederich. Schliesslich fand er ihn unter dem Rednerpult im Wasser hockend. "Da hamse 'n Willemsorden", sagte der Schutzmann und machte, dass er weiterkam, denn gerade schlug ein Blitz ein, so nahe, als sollte er die Verleihung des Ordens verhindern. Diederich hatte nur geseufzt. Als er es endlich unternahm, mit einer Gesichtshaelfte auf die Erde zu spaehen, war der Umsturz auf ihr noch immer im Wachsen. Drueben die grosse schwarze Brandmauer klaffte und ging daran, umzufallen, samt dem Haus dahinter. Ueber einen Knaeuel von Geschoepfen in jagendem Geisterlicht, schwefelgelb und blau, baeumten sich die Pferde der Paradekutschen und nahmen Reissaus. Gluecklich das nicht privilegierte Volk, das draussen und ueber alle Berge war; die Besitzenden und Gebildeten dagegen waren in der Lage, dass sie auf ihren Koepfen schon die fliegenden Truemmer des Umsturzes fuehlten, samt dem Feuer von oben. Kein Wunder, wenn die Umstaende ihr Verhalten bestimmten und manche Damen, in nicht kommentmaessiger Weise vom Ausgang zurueckgestossen, schlankweg uebereinander rollten. Nur ihrer Tapferkeit vertrauend, machten die Herren Offiziere gegen jeden, der sich ihnen entgegenstellte, von ihren Machtmitteln Gebrauch - indes Fahnentuecher, losgerissen im Sturm von den Ueberresten der Tribuenen und des offiziellen Zeltes, schwarzweissrot durch die Luft sausten, den Kaempfern um die Ohren. Dazu, hoffnungslos wie die Dinge standen, spielte die Regimentsmusik immer weiter Heil dir im Siegerkranz, spielte selbst nach der Durchbrechung des Militaerkordons und der Weltordnung, spielte wie auf einem untergehenden Schiff dem Entsetzen auf und der Aufloesung. Ein neuer Anlauf des Orkans warf auch sie auseinander - und Diederich, die Augen zugedrueckt und schwindelnd des Endes von allem gewaertig, tauchte zurueck in die kuehle Tiefe seines Rednerpultes, das er umklammerte wie das letzte auf Erden. Sein Abschiedsblick aber hatte umfasst, was ueber alle Begriffe war: das Gehege, das schwarzweissrot behangene rund um den Volkspark, zusammengebrochen, niedergelegt durch das Gewicht der auf ihm Lastenden, und dann dies Drunter und Drueber, dies Umeinanderkugeln, Sichaufhaeufen und Abrutschen, dies Kopfstehen und Dem-anderen-sich-ins-Gesicht-Setzen - und dies Gefegtwerden von den Peitschen der Hoehe, unter Stroemen Feuers, diesen Kehraus, wie der einer betrunkenen Maskerade, Kehraus von Edel und Unfrei, vornehmstem Rock und aus dem Schlummer erwachtem Buerger, einzigen Saeulen, gottgesandten Maennern, idealen Guetern, Husaren, Ulanen, Dragonern und Train! Aber die apokalyptischen Reiter flogen weiter; Diederich merkte es, sie hatten nur ein Manoever abgehalten fuer den Juengsten Tag, der Ernstfall war es nicht. Unter Vorbehalt verliess er seine Zuflucht und stellte fest, dass es nur noch goss, und dass Kaiser Wilhelm der Grosse noch da war, mit allem Zubehoer der Macht. Diederich hatte die ganze Zeit das Gefuehl gehabt, das Denkmal sei zerschmettert und weggeschwommen. Der Festplatz freilich sah aus wie eine wueste Erinnerung, keine Seele belebte seine Truemmer. Doch, da hinten bewegte sich eine, sie trug sogar Ulanenuniform: Herr von Quitzin, der das eingestuerzte Haus besichtigte. Dem Blitz erlegen, rauchte es hinter den Resten seiner grossen schwarzen Brandmauer; und in der Flucht aller hatte nur Herr von Quitzin standgehalten, denn ihn staerkte ein Gedanke. Diederich sah ihm ins Herz. "Das Haus", dachte Herr von Quitzin, "haetten wir auch noch loswerden sollen an das Pack. Aber nicht zu machen gewesen, haben es mit aller Gewalt nicht durchgedrueckt. Na nu kriege ich die Versicherung. Es gibt einen Gott." Und dann ging er der Feuerwehr entgegen, die zum Glueck nicht mehr wesentlich eingreifen konnte in das Geschaeft. Auch Diederich, durch das Beispiel ermutigt, machte sich auf den Weg. Er hatte seinen Hut verloren, am Boden seiner Schuhe schlenkerte Wasser, und in der rueckwaertigen Erweiterung der Beinkleider trug er eine Pfuetze mit sich herum. Da ein Wagen nicht erreichbar schien, beschloss er, die innere Stadt zu durchqueren. Die Winkel der alten Strassen fingen den Wind ab, ihm ward es waermer. "Von einem Katarrh ist nicht die Rede. Guste soll mir aber doch einen Wickel um den Bauch machen. Wenn sie nur gefaelligst keine Influenza ins Haus einschleppt!" Nach dieser Sorge erinnerte er sich seines Ordens: "Der Wilhelms-Orden, Stiftung Seiner Majestaet, wird nur verliehen fuer hervorragende Verdienste um die Wohlfahrt und Veredelung des Volkes ... Den haben wir!" sagte Diederich laut in der leeren Gasse. "Und wenn es Dynamit regnet!" Der Umsturz der Macht von seiten der Natur war ein Versuch mit unzulaenglichen Mitteln gewesen. Diederich zeigte dem Himmel seinen Wilhelms-Orden und sagte "Etsch" - worauf er ihn sich ansteckte, neben den Kronenorden vierter Klasse. In der Fleischhauergrube hielten mehrere Fuhrwerke: merkwuerdig, vor dem Haus des alten Buck. Eins war noch dazu ein Landwagen. Sollte etwa -? Diederich spaehte in das Haus: die glaeserne Flurtuer stand ausserordentlicherweise offen, so als wuerde jemand erwartet, der selten kam. Feierlich still die weite Diele, nur, wie er an der Kueche vorbeischlich, ein Wimmern: die alte Magd, mit dem Gesicht auf den Armen. "Also ist es so weit" - und ploetzlich ward Diederich von einem Schauer angeruehrt, er blieb stehen, bereit, den Rueckzug anzutreten. "Dabei habe ich nichts zu tun ... Doch! Dabei habe ich zu tun, denn hier ist jedes Stueck mein, ich habe die Pflicht, dafuer zu sorgen, dass sie mir nachher nichts forttragen." Aber nicht nur dies draengte ihn vorwaerts; Schwierigeres und Tieferes kuendigte sich an mit Schnaufen und Bauchklemmen. Gehaltenen Schrittes erstieg er die flachen alten Stufen und dachte: "Respekt vor einem tapferen Feind, wenn er das Feld der Ehre deckt! Gott hat gerichtet, ja, ja, so geht es, keiner kann sagen, ob er nicht eines Tages -. Na hoeren Sie, es gibt denn doch Unterschiede, eine Sache ist gut oder nicht gut. Und fuer den Ruhm der guten Sache soll man nichts versaeumen, unser alter Kaiser hat sich wahrscheinlich auch zusammennehmen muessen, als er nach Wilhelmshoehe zu dem gaenzlich erledigten Napoleon ging." Hier war er schon im Zwischengeschoss und betrat vorsichtig den langen Gang, an dessen Ende die Tuer offen, auch hier wieder offen stand. Sich gegen die Wand druecken, und einen Blick hinein. Ein Bett, mit dem Fuss hergewendet, darin lehnte an gehaeuften Kissen der alte Buck und schien nicht bei sich. Kein Laut; war er denn allein? Behutsam auf die Gegenseite - nun sah man die verhaengten Fenster und davor im Halbkreis die Familie: dem Bett zunaechst Judith Lauer ganz starr, dann Wolfgang mit einem Gesicht, das niemand erwartet haette; zwischen den Fenstern die zusammengedraengte Herde der fuenf Toechter neben dem bankerotten Vater, der nicht einmal mehr elegant war; weiterhin der verbauerte Sohn mit seiner stumpfblickenden Frau, und endlich Lauer, der gesessen hatte. Mit gutem Grund hielten alle sich so still; zu dieser Stunde verloren sie die letzte Aussicht, noch einmal mitzureden! Sie waren obenauf gewesen und hatten sich in Sicherheit gewiegt, solange der Alte standhielt. Er war gefallen, und sie mit, er verschwand, und sie alle mit. Er hatte immer nur auf Flugsand gestanden, da er nicht auf der Macht stand. Nichtig Ziele, die fortfuehrten von der Macht! Fruchtlos der Geist, denn nichts hinterliess er als Verfall! Verblendung jeder Ehrgeiz, der nicht Faeuste hatte und Geld in den Faeusten! Woher aber dies Gesicht, das Wolfgang hatte? Es sah nicht aus wie Trauer, obwohl Traenen aus seinen dort hinueberverlangenden Augen fielen; es sah aus wie Neid, gramvoller Neid. Was hatten die anderen? Judith Lauer, deren Brauen sich dunkel zusammenzogen, ihr Mann, der aufseufzte - und die Frau des Aeltesten sogar faltete vor dem Gesicht ihre Arbeiterinnenhaende. Diederich, in entschlossener Haltung, stellte sich mitten vor die Tuer. Es war dunkel im Gang, die da sahen nicht, und mochten sie; aber der Alte? Sein Gesicht war genau hierhergerichtet, und wo es hinsah, ahnte man dennoch mehr als hier war, Erscheinungen, die niemand ihm verstellen konnte. Ihren Widerschein in seinen ueberraschten Augen, oeffnete er auf den Kissen langsam die Arme, versuchte sie zu heben, hob, bewegte sie, winkend und empfangend - wen doch? Wie viele wohl, mit so langem Winken und Empfangen? Ein ganzes Volk, sollte man glauben, und welchen Wesens, dass es durch sein Kommen dies geisterhafte Glueck hervorrief in den Zuegen des alten Buck? Da erschrak er, als sei er einem Fremden begegnet, der Grauen mitbrachte: erschrak und rang nach Atem. Diederich, ihm gegenueber, machte sich noch strammer, woelbte die schwarzweissrote Schaerpe, streckte die Orden vor, und fuer alle Faelle blitzte er. Der Alte liess auf einmal den Kopf fallen, tief vornueber fiel er ganz, wie gebrochen. Die Seinen schrien auf. Vom Entsetzen gedaempft, rief die Frau des Aeltesten: "Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!" Judith Lauer stand langsam auf und schloss die Tuer. Diederich war schon entwichen. BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. Einzelne Woerter aus fremden Sprachen in Antiqua (bis auf den Titel "Dr.") und gesperrt gesetzte Passagen sind hier durch Unterstrich (_) gekennzeichnet. 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Seite 337: Anfuehrungszeichen entfernt vor "Guste" und ergaenzt vor "Er" Seite 474: Anfuehrungszeichen ergaenzt hinter "grossen G" ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UNTERTAN*** CREDITS November 24, 2011 Project Gutenberg TEI edition 1 Produced by Jana Srna, Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net A WORD FROM PROJECT GUTENBERG This file should be named 38126.txt or 38126.zip. This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/dirs/3/8/1/2/38126/ Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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